Liebe Leserin, lieber Leser, kennst du dieses Gefühl? Man wacht auf und anstatt über den beginnenden Tag Freude zu empfinden, seufzt man tief und das Kopfkissen legt einem Tentakeln um den Hals. Dieses dumpfe “Ich weiß nicht wohin” ist für mich das Wesen der Melancholie und der Grund, warum Amewus letztes Album Leidkultur (2012) mich so lange in meinen Kopfhörern begleitete. Da war die Schwermütigkeit nämlich zu einem Kunstwerk geworden.
Rap ist mehr als Mutterficken und Hustensaftmissbrauch. Rap ist auch Verarbeitung von Angst, Einsamkeit und Leid. Amewu, irgendwie unscheinbar, irgendwie Rampensau, rappt gewandt, stilsicher und schreibt Texte, die ihr ruhig in eurem Abitur als deutsches Kulturgut angeben dürft. Für das Goethe-Institut bereist er die Welt, gibt Workshops im In- und Ausland, in Jugendzentren, Schulen und dem Knast. Ich treffe ihn in Berlin am Kreuzberger Mariannenplatz, um nachzufragen, wie man sich aus inneren Gefängnissen befreien kann.
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Laurens Dillmann schrieb für das JUICE-Magazin und das splash! Mag und beschäftigt sich mit Körperpsychotherapie, Naturheilkunde und Meditation. Er ist Autor eines Romans (Oskar, 2014) und eines Gedichtbandes (Hummerscheren und Wackelpudding, 2013). Für Noisey spricht er mit Künstlern über Depressionen, über Krieg im eigenen Kopf, und wie man diese Krisen überwindet. Für den fünften Teil seiner Interview-Serie Kunst und Kopfkrieg hat sich Laurens mit dem Berliner Rapper Amewu getroffen.
Laurens: Ich möchte über dein letztes Album Leidkultur sprechen. Wie ist das Album entstanden?
Amewu: Es war eine ziemliche schlimme Phase meines Lebens. Im Nachhinein weiß ich teilweise gar nicht mehr, wie ich es überhaupt hinbekommen habe, ein Album zu machen. Aber dieses Album hat mir definitiv das Leben gerettet. Ich habe die Songs aus sehr unterschiedlichen Gefühlen gemacht. Sie haben viel mit Leid und psychischen Problemen zu tun. Aber es gibt auch Aufbruchstimmung und positive Perspektiven. Es gab definitiv Songs, bei denen ich richtig am Ende war. Ich habe trotzdem immer versucht, viel Interpretationsspielraum zu lassen.
“Ah, erzähl mir nichts von Hoffnung
Diese Welt ist wie ein Taser, der mir Schläge in den Kopf pumpt
Impulse und Gedanken bilden ein Meer meiner Möglichkeiten
Die mir Böses zeigen und versuchen, es schön zu kleiden
Ich habe Angst zu erfrieren
Gelang ich jemals an den Strand, fang’ ich an Sand zu sortieren
Geb ihm langsam eine Ordnung bis ich denke, dass es Sinn ergibt
Doch dann reißt mich von hinten eine Welle weg und nimmt mich mit”
– Amewu auf Leidkultur
Wieso verschlüsselst du deine Stimmung in den Songs?
Ich glaube, weil es so leichter für andere ist, sich darin wiederzufinden und weniger Voyeurismus im Spiel ist. Es ging bei Leidkultur eher ums Prinzip von Leid, aus dem ich Geschichten gesponnen habe.
Mich hat das Album sehr berührt, ich habe es lange gehört.
Same here. Im Prozess hat mich das Album auch sehr berührt. Manchmal tut es das immer noch. Und die Rückmeldungen, die ich dazu bekomme, sind mir sehr wichtig. Für mich war Rap nach der Anfangsbegeisterung immer auch ein Ventil, eine seelische Reinigung. Deshalb mache ich immer noch HipHop. Vom Spaßding zu: Ich werde nicht mehr damit aufhören.
Von Spaß zu Melancholie?
Tatsächlich. Früher war es Freestylen und Scheiße quatschen mit Kumpels. Irgendwann merkt man, es tut gut, sich das Leid von der Seele zu schreiben. Es ist so ähnlich wie Tagebuch zu schreiben. Ich war nach dem Leidkultur-Album auch überrascht über das Feedback. “Voll mutig, dass du so offen damit umgehst, dass es dir nicht gut geht.” Mir war das gar nicht klar, dass es so viele Menschen gibt, die nicht offen damit umgehen können. Manchmal hat das auch Formen angenommen, dass Leute plötzlich ihre ganzen seelischen Probleme auf dich projizieren und glauben, du hast die Lösung.
Ich habe doch selbst zugegeben, dass es mir nicht gut geht, wie soll ich mich auch noch um dein Problem kümmern? Da musste ich lernen, Grenzen zu setzen. Dennoch, das Feedback war großartig. Gerade dieses letzte Album hat bei mir sehr viel zum Positiven verändert. Auch wenn es sehr anstrengend war, es zu machen.
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Als ich das Album damals gehört habe und deine Person nicht kannte, dachte ich: Ist das ein rappender Therapeut? Buddhist? Esoteriker? Ich habe selten gehört, dass jemand so reflektiert über sein Innenleben spricht.
[lacht] Bei mir kommt vieles zusammen. Ich habe mich sehr früh mit Meditation und Atemtechniken beschäftigt und diese praktiziert. Ich habe mein Abitur in Psychologie gemacht, danach Kultur & Technik mit Kernfach Philosophie studiert. Ich habe mich schon immer mit Nachdenken, Reflexion und Introspektion befasst. Und ich mochte schon immer nachdenkliche, melancholische Musik. Daraus ergibt sich wohl, dass ich Probleme auf eine Art anspreche, die für andere nachvollziehbar ist. Ich habe auch Nachrichten bekommen, dass Leute meine Texte zu ihren Therapien mitgenommen haben. Sie meinten, sie können selbst nicht erklären, was in ihnen vorgeht, aber durch diesen Songtext geht das.
Meinst du, der Hang zur Melancholie oder Depression ist eine feste Charaktereigenschaft?
Es ist sehr schwer, Verhaltensweisen, die man durch Extremsituationen oder von klein auf gelernt hat, wieder zu verlernen. Viele arrangieren sich mit dem, was sie mitbekommen haben und wollen nichts verändern. Aber ich glaube, dass es sich lohnt, das zu tun. Diesen Weg nicht zu gehen, kann fatale Folgen haben. Es kann sein, dass du anderen Menschen oder dir selbst schreckliche Dinge antust, aus dem Affekt und ohne dass du verstehst, weshalb.
Gerade im Verhältnis zu anderen wird es ein Problem, weil du das Erlebte weiterträgst. Es breitet sich aus. Wir geben es potenziell an unsere Partner, Kinder, Familie, Freunde und Fremde weiter. Gerade unsere Kinder müssen dadurch mit Dingen zurechtkommen, die wir nicht aufgearbeitet haben. Und wenn sie das nicht schaffen, wird es potentiell weitervererbt.
Es gibt Studien aus den letzten Jahren und laufende Studien, die sogar so weit gehen, zu sagen, dass Trauma womöglich biologisch vererbt wird. Anscheinend geben wir, einfach ausgedrückt, Trauma und Stress durch Epigenome weiter. Das bedeutet, dass du zum Beispiel nicht im Krieg gewesen sein musst, um davon traumatisiert zu sein. Selbst dann, wenn du deine Eltern nie gekannt hast, also den Folgen ihres Traumas nie durch direkten Kontakt oder Erziehung ausgesetzt warst. Dein Kind weiß also nicht mal, warum es diese Probleme hat. Es hat sie einfach.
Was passiert, wenn ich mich meinen Problemen niemals stelle?
Denken wir das Ganze mal weiter. Menschen in Deutschland beschweren sich, sie wollen nichts mehr vom Zweiten Weltkrieg hören. Klar beschäftigt man sich in der Schule und den Medien mit den Daten und Ereignissen. Aber wie oft beschäftigen wir uns mit den psychischen Folgen für unsere Gesellschaft? Was für Mechanismen haben wir gesellschaftlich geschaffen, um das aufzuarbeiten? Wie viele Menschen leiden heutzutage noch unter den Folgen? Die Opfer, die Täter, die, die beides sind und die Nachkommen aller? Ich glaube, da passiert zu wenig.
Auch wenn Menschen wegen Kriegen, Hungersnöten, Folter und so weiter zu uns nach Deutschland kommen, sind solche Themen wichtig. Wenn wir nicht in einer traumatisierten Gesellschaft leben und irgendwann an ihr zugrunde gehen wollen, müssen wir diese Problematik intensiver angehen.
Kann man diese “Leidkultur” ändern?
Das Leid ist Teil unseres Systems. Es wird systematisch von Leid profitiert und damit wird Leid auch systematisch gefördert. Und wir bewegen uns auf noch mehr Leid zu. Deshalb auch das Wortspiel mit Leitkultur. Das Leid ist in mehr als einer Hinsicht Teil der deutschen und auch globalen Kultur. Natürlich kann man etwas ändern! Aber dafür braucht es sehr viel Verständnis und Solidarität. Sind genug Menschen bereit dazu, das zu geben?
Die Erforschung von Traumata und PTSD kam oft im Zusammenhang mit Kriegsveteranen auf, wurde allerdings von staatlicher Seite behindert, z.B. in England während des ersten Weltkriegs. Menschen, die als Traumatisierte aus dem Krieg zurückkamen, galten als zu schwach, anstatt zu akzeptieren, wie destruktiv Krieg für die Psyche ist. Es passte einfach nicht mit dem Bild des heroischen Soldaten zusammen.
In Deutschland wurden diese Menschen als “Kriegszitterer” bezeichnet und teilweise mit Elektroschocks “behandelt”. Es galt als Charakterdefekt und wurde später auch als ansteckend bezeichnet. Andererseits wurde den Personen unterstellt, sie würden sich damit Sozialleistungen erschleichen wollen. Ärzte wurden angehalten, das Problem zu ignorieren.
Lange Zeit später, als die Forschung zu PTSD aufkam, fand man heraus, dass zum Beispiel Kinder, die Gewalt in der Familie erlebt haben, ähnliche Symptome wie Kriegsveteranen zeigen. Sind wir uns als Gesellschaft der Tragweite dieser Erkenntnis bewusst? Wie reagieren wir darauf?
Ich sehne mich nach Frieden. Es könnte so einfach sein. Waffenproduktionen einstampfen, gesellschaftlicher Fokus auf Bildung, Selbstfindung und Konfliktbewältigung.
Vielleicht hätte es mal einfach sein können. Aber die Menschen morden seit Ewigkeiten. Ich war letztens im Kino und habe mir den Film Lumumba über den ersten Premierminister des Kongo nach der Unabhängigkeit angesehen. Das war echt heftig. Den haben sie gefoltert, umgebracht, zersägt und in Batteriesäure aufgelöst. Es waren Verwandte anwesend, die nach dem Film sprechen sollten, es aber nicht aushielten und den Raum verließen.
Ich habe in der Gewalt einen Virus gesehen, der sich ausbreitet. Etwas kaputt machen ist viel einfacher, als etwas zu reparieren. Wie lange brauchst du, um eine Vase zu zertrümmern und wie lange, um die Scherben zusammenzukleben? Wir haben schon so viel kaputt gemacht. Eigentlich sind das aber Gründe, so früh wie möglich etwas zu unternehmen, statt zu resignieren.
Blühende arabische Metropolen sind nach kurzem Bombardement nur noch Schutt und Asche.
Ja, aber auch hier in Deutschland. Was hier vor nicht allzu langer Zeit abgegangen ist. So krank! Die Kriege, der Holocaust, die Teilung, die Stasi. Wir sitzen hier auf dem alten Todesstreifen. Hier wurden Menschen erschossen, weil sie die Grenze überqueren wollten. Da ist soviel Heilungsarbeit notwendig, die teilweise überhaupt nicht gemacht wurde. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich gerade Empathie und Verständnis füreinander ausbreiten. Geteilte Lager, Verständnis nur für das “Eigene”, Abschotten gegen die “Anderen”.
Ich habe schon früh begonnen, mich für Politik zu interessieren. Manchmal empfinde ich nur noch Ekel, weil vieles so falsch ist. Guck dir das Christentum an. Die Eigenschaften der Figur Jesus Christus. Nächstenliebe. Und dann schau dir an, wie man die Leute getötet, gefoltert und ihnen eingeprügelt hat, dass sie daran zu glauben haben. Gleichzeitig versucht man die ganze Zeit, das Bild aufrechtzuerhalten. Klar, Nächstenliebe wird auch teils praktiziert, ich will es nicht schwarz-weiß zeichnen. Aber es ist ein gigantischer Widerspruch.
Vor allem, dass es ständig heißt, unsere Kinder seien uns so wichtig. Warum schaffen wir ihnen dann so eine düstere Zukunft?! Und dann regt man sich über “Gutmenschen” auf. Die wurden doch regelrecht gezüchtet! Uns wurden Werte vermittelt und von Menschenrechten erzählt, damit man sich selbst als zivilisiert betrachten kann, sich damit schmücken kann und jetzt regt man sich auf, dass wir dafür eintreten und sagen: Ich will helfen, solidarisch sein, ich will, dass es allen Leuten gut geht.
Kollektiv wäre es ein Schritt, sich einzugestehen, dass man die Welt ausbeutet und nur auf seinen individuellen Vorteil bedacht ist. Aber dazu braucht es Verantwortung und wenige sind bereit, sie zu tragen.
“Ja, wir haben die Propheten und es gibt die Religion
Doch wenn keiner nach ihr lebt, warum sitzt sie auf dem Thron?
Unsere heiligen Bücher sind doch nur Trophäen an der Wand
Doch Trophäen verleihen leider deiner Seele keinen Glanz”
– Amewu auf “Fortschritt”
Wir können von hier auf die Kirche schauen. Ihr Maskottchen ist ein ans Kreuz geschlagener, leidender Mensch. Sexualität ist Sünde und wir stehen alle unter Erbschuld. Man erzieht den Menschen seit Jahrtausenden, sich schlecht zu fühlen, unter dem Banner der Nächstenliebe. Das ist paradox und es führt nicht zu Lösungen.
Es ist absurd. Ich war in Ghana und Nigeria und habe noch nie Länder gesehen, in denen soviel Cash mit Religion gemacht wird. Die Pastoren dort sind reiche Stars, füllen Stadien, während Leute ihnen ihr weniges Geld in den Rachen schmeißen. Es gibt natürlich auch diejenigen, die sehr aufopfernd und empathisch eingestellt sind. Dadurch, dass man die Idee – bei aller Heuchelei – so herausposaunt hat, gibt es immerhin ein paar, die es glauben und sich daran halten. An jedem Ort der Welt. Ich möchte allerdings organisierte Religion nicht grundlegend verurteilen, auch wenn ich persönlich nichts damit anfangen kann.
Mein Vater ist zehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in einem katholischen Dorf aufgewachsen, der hat mir die grausamsten Geschichten erzählt. Eigentlich werde ich in der Kirche permanent von jemandem bestraft, der jeden meiner Schritte überwacht. Ich sehe nicht, wie mich das zu einem besseren Menschen machen soll. Dabei wäre Nächstenliebe für mich tatsächlich die Antwort, wie wir die Welt noch retten können.
In meinem Leben gibt es gerade das Thema Ideen des Zusammenlebens. Guck dir an, was mit Instagram, YouTube und so weiter abgeht. Aufmerksamkeit ist alles. Profit steht sowieso ganz oben und dann gibt es im Netz Orte, an denen du maximale Aufmerksamkeit, also maximalen Profit generieren kannst. Dadurch entstehen die absurdesten Dinge. Zum Beispiel Menschen, die sich oder andere erniedrigen für ein paar Klicks. Oder Dinge, die hauptsächlich oder nur deshalb Sinn machen, weil sie Geld generieren. So funktionieren ja auch große Teile unserer Wirtschaft.
Dann gibt es aber auch diejenigen, die zum Beispiel die Grundidee von Solidarität nehmen und damit kreativ umgehen. Ich glaube, wir können uns noch gar nicht vorstellen, welche Konzepte und Ideen die anbieten, die nach uns kommen, wenn wir es schaffen, andere vorherrschende Ideen des Zusammenlebens, andere Ideen zum Sinn des Lebens an sich zu schaffen.
Woher nimmst du die Vision einer friedvollen Zukunft?
Ich bin ja sehr idealistisch, viele nervt das auch. Mir ist klar, dass bestimmte Ideale sich vielleicht nicht durchsetzen lassen. Es macht mir echt Angst, wenn ich mit Menschen rede und sie sagen: Die Welt ist doch so! Das System, in dem wir leben, ist doch so! Dann bekomme ich das Gefühl, die Person traut sich nicht mal mehr, etwas anderes zu denken. Ich will zumindest meine Fantasie spielen lassen, was möglich wäre.
Da kann man einen Bogen zur Traumabewältigung schlagen. Wenn ein Kind eine potentiell traumatische Erfahrung macht, kannst du zum Beispiel manchmal aus den Bildern, die es danach malt, erkennen, ob es kreativ mit dem Erlebten umgehen kann. Etwas Neues daraus erschaffen kann. Ich glaube, das ist eine extrem wichtige Eigenschaft. Nicht Hängenbleiben im Status Quo. Wenn du dir nicht mal mehr vorstellen kannst, es könnte anders sein, dann gibst du auf. Das würde mich nicht glücklich machen.
Ich tue ja zum Beispiel schon Gutes, wenn ich einen Obdachlosen ansehe und seine Existenz würdige, anstatt ihn wie Luft zu behandeln.
Oder auf der Straße einzugreifen, wenn es nötig ist. Sich selbst und vor anderen eingestehen, dass man Unrecht hat, um eine Diskussion voranzubringen. Die Person sein, die das unangenehme Thema in der Familie anspricht. Es gibt so viele Situationen, in denen es wichtig ist zu handeln. Meine Grundhaltung ist die Idee, es könnte auch anders sein.
Auf der Grundlage von Profit und Macht, Dominanz und Unterordnung spielt sich so viel Horror ab. Es gibt so viele Leute, die blindlings an das System glauben: Du bist hier, und der andere ist über oder unter dir. Es kann nicht auf Augenhöhe sein. Manchmal triffst du Leute, die können dir nicht auf Augenhöhe begegnen. Die versuchen, dich zu dominieren. Aber sie verstehen nicht, dass du weder Interesse daran hast, sie zu dominieren, noch hast du Bock, dich dominieren zu lassen. Dieser Hang zur Dominanz muss auch aus einer krassen Angst entstehen. Ähnlich ist es mit Menschen, die sich immer nur unterordnen.
Wie gehst du denn mit deinen Ängsten um? Du hast von Meditation gesprochen.
Meditation hat zusammen mit Musik definitiv mein Leben gerettet. Ich habe ungefähr mit 16 angefangen. Mit einem guten Kumpel habe ich gemeinsam zu meditieren begonnen. Zwischendurch waren wir auch auf einem krassen Eso-Trip, haben uns mit Büchern über Magie und Okkultismus befasst. Dann recherchierst du irgendwann über die Autoren und merkst, dass du dich doch lieber von ihnen fernhalten solltest. Die Meditation hat aber bei uns beiden überlebt. Wenn du wieder damit aufhörst, merkst du erst, dass etwas Wichtiges fehlt.
Ich kann Meditation und Atemübungen wirklich nur jedem ans Herz legen. Besonders, wenn es dir nicht weiterhilft, nur eine Gesprächstherapie zu machen. Oft hat man ja rational begriffen, dass die Art und Weise, wie man sein Leben führt, schädlich ist. Und trotzdem macht man immer wieder genau das Gleiche.
Was lernt man über sich selbst, wenn man regelmäßig meditiert?
Dass man vielleicht im Nachhinein etwas mühsam lernen muss, was man als Kind wie selbstverständlich aufnimmt. Vielleicht hat deine Mutter es nicht hinbekommen, dich als Kind zu beruhigen. Du hast das nie mit ihr gelernt, oder sie war nicht da, hatte zu große eigene Probleme. Das heißt, immer wenn du in emotionalen Stress kamst, hättest du eigentlich in den Arm genommen werden müssen, die Atmung der anderen Person spüren sollen, ihren Herzschlag, ihre Ruhe. Um selbst runterzukommen. Du hättest also durch Hilfe gelernt, damit umzugehen.
Wenn das fehlt, kann es sein, dass du später mit deinen Emotionen nicht zurechtkommst. Dass deine Emotionen, oft auch egal ob positiv oder negativ, dich einfach überrennen und dir Angst machen. In extremen Fällen kann selbst ein schönes Gefühl wie Verliebtsein dir in erster Linie Angst machen. Dann musst du diese Fähigkeit im Nachhinein lernen. Nur gibt es diese Art von bedingungsloser Zuneigung und Liebe nicht in dieser Form zwischen Erwachsenen. Vielleicht wurdest du zusätzlich von deiner Familie misshandelt, warst Zeuge von Misshandlung und bist traumatisiert.
Oft neigt man als traumatisierte Person dann auch noch dazu, sich Partner zu suchen, die einen immer wieder retraumatisieren. Obwohl man eigentlich eher Personen um sich bräuchte, die einem helfen zu heilen. Was man für sich alleine tun kann, ist tatsächlich einfach mal tief durchatmen. Auch wenn es schwierig ist, so etwas Alltägliches von Grundauf neu zu lernen. Atemübungen können ein ganz einfaches Tool für ein tiefes Problem sein. Viele merken gar nicht, wie angespannt und gestresst sie durch den Tag gehen. Sie sind in ihrer schmerzhaften Vergangenheit gedanklich und meist auch körperlich gefangen.
VICE-Video: “LARPing hat mir das Leben gerettet”
Es ist doch spannend, dass Meditation, gesunde Ernährung, Selbstfindung überhaupt zum Thema werden. Durch den Trauma-Sumpf kämpft sich ein kleiner Spross der Hoffnung.
Ich hoffe, das entwickelt sich weiter und ist nicht nur Lifestyle. Wenn sich das Ehrliche, Wahrhaftige daran weiterentwickelt, dann würde mich das sehr freuen. Es ist wirklich ein schmaler Grat zwischen: “Du findest etwas, das dir hilft” und “Du findest etwas, das dir hilft, steigerst dich total rein, kommst aus dem Gleichgewicht und wirst fanatisch”. Und es ist inzwischen natürlich auch eine riesige Industrie.
Wie hältst du es damit, andere von einer guten Gewohnheit überzeugen zu wollen?
Wenn jemand deinen Rat annimmt, bestätigt dich das natürlich. Und man wünscht sich, anderen ginge es besser. Gerade wenn man wach dafür ist, wie schlecht es anderen geht. Wenn man emphatisch ist. Dann muss man sehen: Wofür ist die Person bereit?
Ich hab mich eine Weile mit gewaltfreier Kommunikation (nach Marshall Rosenberg) beschäftigt. Sehr spannend, herauszuarbeiten: Was brauchst du eigentlich? Was willst du eigentlich? Kann ich dir das geben? Was brauche ich? Traue ich mich, dir das zu sagen? Komme ich damit klar, Bedürfnisse zu haben? Es ist sehr faszinierend, Gespräche auf einer solchen Ebene zu führen. Und manchmal kommt eben raus: Du weißt gar nicht, was du willst, aber du forderst von mir, dass ich es dir gebe. Dann kann ich dir nicht geben, was du willst. Wenn du gar nicht weißt, was das ist.
Wie schafft man es, in einer “Leidkultur” zufrieden zu leben?
Was mir geholfen hat, ist meinen eigenen Einfluss nicht zu überschätzen. Von mir nicht zu erwarten, ich müsste alleine irgendetwas ändern. Das hat mich sehr lange runtergezogen. Von wegen: Ich bin eh nur ein Staubkorn der Geschichte. Stattdessen: Ich bin vielleicht nicht so groß, wie ich gerne wäre. Aber ich bin. Ich existiere. Und ich habe Einfluss auf das Weltgeschehen. So klein dieser auch sein mag, ich nehme ihn ernst. Ich werde nicht zynisch und verbittert, weil ich merke, ich kann die Welt nicht retten. Das wäre auch anmaßend und überheblich.
Ich habe zudem oft das Gefühl, es gibt etwas, das mein Leben ausmacht. Meine Existenz. Ein paralleler Entwicklungsstrang zu denen der anderen und der Welt. Ich bin unabhängig, kann mich unabhängig von allem entwickeln und das macht mich sehr zufrieden. Es würde mich natürlich traurig machen, wenn bald alles vor die Hunde geht, aber ich kann damit leben. Weil ich weiß, es ist nicht nur meine Verantwortung. Aber die Verantwortung, die ich übernehmen möchte, die trage ich. Wenn man das mit sich ausgemacht hat, lebt es sich auch ganz gut in der Hölle auf Erden.
Ihr wollt auch mit Laurens reden? Dann könnt ihr ihn über mail[at]laurensdillmann.de kontaktieren.
Notrufnummern für Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Notfallsituationen bieten Hilfe für Personen, die Unterstützung brauchen – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt.
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