Am Mittwoch, den 22. April, tauchten 200 Leichensäcke am Strand von Brighton an der englischen Südküste auf. Sie standen für die Tausenden Leichen der Menschen, die allein dieses Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken sind. Es war eine Aktion von Amnesty International, um auf ihre Kampagne „Don’t Let Them Drown” aufmerksam zu machen. Die Säcke, gefüllt mit Amnesty-Aktivisten, Ballons und Steinen, brieten langsam in der heißen Sonne und unter den Blicken der Weltpresse. Denn das ist es, was Amnesty International tut: Es setzt die Macht der Kunst, der Werbung und des Theaters ein, um unsere Aufmerksamkeit auf das Unrecht zu lenken, dem sich unterdrückte Menschen weltweit gegenübersehen.
Im starken Kontrast dazu wurde am Südufer der Themse am selben Tag ein riesiges, essbares Pfefferkuchenhaus aufgestellt, um für die Multimedia-Attraktion Shrek’s Adventure zu werben. Beide Bilder tauchten im Abstand von Minuten in meinem Twitter-Feed auf. Noch nie zuvor hatte ich ein so erschütterndes Bild, bei dem man ein ganz flaues Gefühl im Magen bekommt, so dicht gefolgt von oberflächlichem Spektakel gesehen.
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Doch das ist die Medienlandschaft, in der Wohltätigkeitsorganisationen heute arbeiten müssen—und diese Landschaft versteht Amnesty nur zu gut. Ob die Aktivisten eine Frau in einem durchsichtigen Plastikkoffer am Münchner Flughafen ums Gepäckkarussell schicken, um gegen Menschenhandel zu demonstrieren, oder während der Winterspiele in Sotschi vor der russischen Botschaft in London Schwanensee aufführen, Amnesty weiß, wie man Bilder einsetzt, um Menschen zu schockieren und zum Handeln zu bewegen.
Und damit ist AI natürlich nicht alleine. Greenpeace-Aktivisten marschierten mit einer drei Tonnen schweren Eisbärin mitten durch London, um auf die Bedrohung durch den Klimawandel aufmerksam zu machen; die aufblasbaren Pflastersteine des Eclectic Electric Collective verwandelten Ausschreitungen in ein absurdes Partyspiel zwischen Polizei und Demonstranten; Pussy Riot spielten mit Sturmhauben in der Christ-Erlöser-Kathedrale, um die russische Offensive gegen Regierungskritiker anzuprangern. In jedem Fall wurden die Ästhetik, der Ansatz und die Kreativität der bildenden Kunst genutzt, um eine politische Botschaft zu verbreiten.
„Es gibt bei uns viele Menschen mit einem umfassenden Verständnis der Themen, die wissen, wie man sie einfach und deutlich vermittelt”, sagt Amnestys Pressesprecherin Naomi Westland. „Nicht mit rechtlicher oder akademischer Fachsprache—sondern mit Worten und Bildern.” Der Prozess sieht laut Westland so aus, dass überlegt wird, welche Bilder in der Vorstellung der breiten Öffentlichkeit entstehen, wenn sie mit Themen wie Gefangenenfolter, ertrinkenden Migranten und Steinigungen wegen Ehebruch konfrontiert werden. Amnesty nimmt dann diese Bilder und übersetzt sie in eine Aktion, ein Poster, ein Kampagnenvideo, um uns dazu zu zwingen, uns mit der Situation auseinanderzusetzen, die uns am meisten verstört und die wir am liebsten ignorieren würden.
VIDEO: Die Sea Watch ist ein 100 Jahre alter Fischkutter—und ab Mitte Mai wollen Freiwillige damit Flüchtlinge aus dem Meer retten.
„Eine Katastrophe dieser Größenordnung—zwei riesige Schiffbrüche und mehr als 1.000 Menschen, die innerhalb einer Woche ertrinken—kann man nicht ignorieren”, sagt Westland. „Es ist sehr wichtig, dass die Medien sich bemühen und ihre Macht nutzen, die Politiker zur Rechenschaft zu ziehen. Morgen findet ein EU-Sondergipfel zu dem Thema statt und wir müssen von unseren Staatsoberhäuptern verlangen, dass sie sich dem Ziel umfassender Such- und Rettungsmission im Mittelmeer verschreiben, denn das wird Leben retten.”
Vergangenes Jahr beendete Italien seine Seerettungsmission im Mittelmeer und ersetzte sie mit einem Grenzschutz, der seiner Definition nach nicht bis in internationale Gewässer reicht, wo viele der Schiffbrüche passieren. Infolgedessen sind seit Anfang des Jahres 50 Mal mehr Menschen gestorben als im gleichen Zeitraum voriges Jahr, und laut Amnesty wird sich die Lage nur noch verschlimmern, da die Gewalt in Libyen (wohin viele der ertrunkenen syrischen Flüchtlinge gelangen wollten) weiterhin wütet. Wenn der Anblick von 200 Leichensäcken, die in der Sonne liegen, die Menschen genug schockt, um sie zum Handeln zu bewegen, zum Beispiel indem sie die Amnesty-Petition unterzeichnen, dann hat die Aktion ihr Ziel erreicht.
„Man weiß vorher nie, ob eine Aktion es in die Medien schaffen wird”, sagt Westland. „Journalisten müssen vielleicht über andere Dinge berichten. Doch auf den sozialen Netzwerken können solche Bilder unheimlich schnell verbreitet werden. Die Bilder sind wirklich eindrucksvoll und haben eine Wirkung auf den Betrachter.”
Dieses Bild hat tatsächlich eine Wirkung. Die heiße, beengte Hölle eines Leichensacks und die schockierende Erkenntnis, dass direkt hinter unserem Horizont Menschen sterben, erfüllt alle bis auf die abgestumpftesten Betrachter mit einer Mischung aus Schuldgefühl, Unbehagen und dem Wunsch, etwas zu tun. Mir wurde bei dem Anblick schlecht.
„Ich hoffe, das hier schlägt sich in einem positiven Ergebnis beim EU-Sondergipfel nieder”, endet Westland. „Ansonsten werden wir mehr und mehr Geschichten darüber sehen, wie Menschen auf hoher See ertrinken.”
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