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Amokläufer vernetzen sich auf weltgrößter Gaming-Seite – Polizei und Betreiber ignorieren das Problem

“Wenn ich an der Macht bin, wird meine erste Amtshandlung sein, die Juden zu vernichten. Ich werde reihenweise Galgen aufstellen, zum Beispiel auf dem Marienplatz in München.” Diesen Beitrag tippt der User Dan Mickie Anfang März spätabends in eine Gruppe auf Steam, der weltweit größten Plattform für Videospiele. “Dann werden die Juden solange aufgehängt, bis sie anfangen zu stinken und bis der letzte Münchner Jude ausgelöscht ist”, so der User weiter. “Dann folgen andere Städte, bis schließlich ganz Deutschland von Juden gesäubert ist.” Die Gruppe, in der der Beitrag steht, heißt “eldigato is a god” und hat 68 Mitglieder. Sie ist eine Hommage an den Attentäter William A. oder “eldigato”, wie er sich auf Steam nannte, der im Dezember 2017 zwei Schüler erschoss.

Doch offen ausgesprochene Vernichtungsphantasien wie diese sind kein Einzelfall auf Steam: Die Gamer-Plattform, die laut den Machern von über 125 Millionen Menschen genutzt wird, ist voll von Morddrohungen, Amok-Ankündigungen, NS-Symbolik und rassistischen Parolen. Ein paar Klicks weiter von der virtuellen Ruhmeshalle für den Doppelmörder A. finden sich Swastikas, Hitler-Fanpost und Lobhudeleien auf den Attentäter von München: “David S. bleibt unvergessen!”, schreibt ein User. “David S. ich liebe dich”, ein anderer.

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Auch Anspielungen auf Schulattentate sind Alltag in so mancher Steam-Gruppe. In der Gruppe “Amoklauf auf Deutschen straßen”, die immerhin fast 2.000 Mitglieder zählt, steht der Diskussionsthread, der sich wie ein Aufruf liest: “los geht’s! Wer möchte einen Amoklauf starten?!”. In den überschaubaren Verhaltensregeln von Steam verbietet die Plattform Nutzern, Drohungen zu posten. Der Beitrag ist seit drei Jahren online.

In den anderen englischsprachigen oder deutschsprachigen Gruppen finden sich Kommentare wie “Geh’ besser nicht zur Schule morgen!”. Ob die Beiträge ironisch oder ernst gemeint sind, ist schwer zu sagen. Trollen, Flamen und die Suche nach der immer extremeren Provokation des Gegenübers sind fest verankert in der Netz- und Gaming-Kultur, die meisten dieser Posts dürften aus dieser Ecke kommen.

Doch manche User meinen es durchaus ernst mit ihren Gewaltankündigungen. So waren nicht nur die Attentäter David S. und William A. in einschlägigen Steam-Gruppen, wo Amokläufe verherrlicht wurden, sondern auch ein Ludwigsburger Teenager, bei dem die Polizei bei einer Razzia Waffenteile, Chemikalien und mögliche Skizzen für einen Amoklauf an seiner Schule fanden.

Screenshot der Steam-Gruppe “Amoklauf auf Deutschen straßen” | Screenshot: Motherboard

Rechte Hetzer und Amok-Fans haben auf Steam leichtes Spiel

Amok-Fans und rechte Hetzer haben auf Steam leichtes Spiel. Die Huffington Post zählte vor Kurzem Tausende Accounts und Gruppen, die NS-Propaganda verbreiten und Amokläufer glorifizieren. Die Spieleplattform scheint aktuell eine perfekte Spielwiese zu sein, um sich ungehindert über Mordfantasien und rassistischen Hass auszutauschen. Während bei Facebook, Twitter & Co. der öffentliche Druck dazu geführt hat, dass die Firmen mehr gegen Online-Hass unternehmen, fliegt Steam hierzulande mehrheitlich unter dem Radar von Politik und Medien.

Zumindest in seinen Nutzungsrichtlinien versucht Steam die Kulisse einer moderierten Plattform aufrechtzuerhalten: Beleidigungen, Gewaltandrohungen, Rassismus und Belästigungen anderer User, selbst scherzhaft gemeinte, seien “inakzeptabel” und können zum Rauswurf aus der Community führen.

Warum die Plattform trotz solcher irgendwie streng klingender Community-Regeln voll von Gewaltaufrufen und Amok-Ankündigungen ist, wollten wir von dem dahinter stehenden Unternehmen wissen. Auf unsere Anfrage, warum es so viele Gruppen gibt, in denen Massenmörder und Amoktäter verherrlicht werden, hat die Valve Corporation bis heute nicht reagiert.

Dabei gilt die Plattform als der zentrale Marktplatz der PC-Spielewelt. Immer wieder gab es öffentliche Kritik an Games aufgrund von Inhalten, die nicht jeder gut findet: Homophobie, Rassismus, Sexismus, Pornografie, überzogene Gewaltdarstellungen. Erst kürzlich reagierten die Betreiber darauf, aber anders, als die Kritiker erhofften: Statt strenger zu moderieren oder härter zu filtern, würde man “in Zukunft alles erlauben”, so Steam in einem Blogpost. Erlaubt sind also künftig alle Spiele, die nicht explizit gegen Gesetze verstoßen: darunter Spiele mit homophoben, frauenfeindlichen oder anderweitig menschenverachtenden Inhalten.

Steams neuer Freifahrtschein für Entwickler und Gamer mag verblüffen – nicht nur angesichts der teils heftigen Kritik, die die Firma in der jüngeren Vergangenheit bereits einstecken musste. Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bereits einige User ihre Amok-Drohungen wahr gemacht hatten, erscheint Steams Versteckspiel vor der eigenen Verantwortung fraglich.

Der Münchner Mörder postete monatelang Hetze und Gewaltfantasien auf Steam

Bevor David S. am 22. Juli 2016 neun Menschen mit Migrationshintergrund mit Dutzenden Kugeln ermordete, hetzte er in sozialen Medien gegen “ausländische Untermenschen” und “Kacktürken”. Vor allem aber spielte, chattete und vernetzte sich S. auf seiner virtuellen Zweitheimat Steam. S. war quasi ständig online, zockte viele Hundert Stunden Shooter, sah die Gaming-Welt als seinen Schutzraum.

Laut Motherboard vorliegenden Unterlagen besaß S. sechs verschiedene Steam-Accounts und nutzte 56 verschiedene Spielernamen, darunter: der Name Tim K., des Amokläufers von Winnenden. K. war eines von S.’ Idolen, wie auch der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik. Unter dem Profil heißt es: “Ich bin der Geist von Tim K[…], ich werde lebendig zurückkommen und erneut töten.” Und in der Kommentarspalte weiter unten schrieb er mit einem anderen Account, gut ein Jahr vor seinem Attentat: “Der Tag wird kommen!”

David S. im Selbstgespräch auf Steam, gut ein Jahr vor seinem Attentat | Screenshot: Motherboard

Doch S. war kein Einzelfall. Einer seiner Steam-Freunde, der Ludwigsburger David F., war ebenfalls Teil der Amok-Community auf Steam, suchte dort Gleichgesinnte und postete Bilder von Waffen und Rohrbomben in sozialen Netzwerken. In seinem Zuhause fand die Polizei später Messer, Anleitungen zur Herstellung von Sprengsätzen, eine größere Menge von Chemikalien und Zeichnungen, die einen Amoklauf an seiner Schule nahelegten. Auf Steam chattete F. unter seinem Steam-Alias “DiabolicPsychopath” laut seiner Vernehmung nicht nur mit dem späteren Attentäter David S., den er als “Freund” bezeichnete. Laut Motherboard vorliegenden Dokumenten soll F. sogar über die Zugangsdaten für einen von S.’ Steam-Accounts verfügt haben und sich dort zwei Tage nach dessen Blutbad eingeloggt haben. Fünf Monate vor München schrieb F. auf ein Steam-Profil seines Freundes: “Free your Hate!”, befreie deinen Hass.

Der öffentlich einsehbare Bereich des mittlerweile gelöschten Instagram-Accounts, aufgerufen über archive.is | Screenshot: Motherboard

Dass F. überhaupt geschnappt und womöglich Schlimmeres verhindert wurde, lag weder an verantwortungsvollen Plattform-Betreibern noch an Ermittlern, die alle einschlägigen sozialen Plattformen im Blick haben, sondern an einem aufmerksamen Berliner, dem F.s Steam-Aktivitäten verdächtig vorkamen und der die Behörden einschaltete. Dass die ersten Hinweise auf den mit Amok liebäugelnden Teenagers von Steam stammten, bestätigte nach der Festnahme auch die Ludwigsburger Polizeisprecherin gegenüber Motherboard.

Diesen Instagram-Screenshot lud ein Redditnutzer auf Imgur hoch und verlinkte es in seinem Reddit-Post | Screenshot: Motherboard: Imgur

Deutsche Ermittler haben Steam nicht auf dem Schirm

Was wäre passiert, wenn der Berliner Tippgeber nicht so wachsam gewesen wäre und nicht so vorausschauend gehandelt hätte? Klar ist, dass der Fall des Ludwigsburgers kein gutes Licht auf die Ermittler wirft. Das Live-Protokoll des Berliner Hinweisgebers auf Reddit liest sich wie ein schlechter Witz: Nachdem er zunächst verunsichert ist, was er tun soll, und dann doch den Notruf wählt, schreibt er wenig später in einen Reddit-Thread: “Lka ist auf dem Weg zu mir.” Als ein anderer User wissen will, warum die Polizisten zu ihm nach Hause kommen und er ihnen stattdessen nicht einfach die Links zuschickt, antwortet der Berliner, die Polizisten hätten “keine freien Computer auf denen Instagram nicht gesperrt ist.” Als das LKA dann eintraf, hätten sie “mit ihren 5 Jahre alten Handys ein paar Bilder vom Bildschirm abfotografiert”.

Der Fall William A.: Wenn sich Attentäter international vernetzen

Wie lange Ermittler die Plattform Steam sträflich vernachlässigt haben, zeigt ein weiterer Steam-User, der sowohl den Münchner Attentäter David S. als auch den mutmaßlichen Fast-Attentäter David F. kannte: der Amerikaner William A., der auf Steam unter anderem als “Vance Stone” unterwegs war. Der 21-jährige A. erschoss im Dezember 2017 zwei Schüler an seiner ehemaligen Schule im US-Bundesstaat New Mexiko, bevor er sich selbst richtete. Wie David S. pflegte auch der Amerikaner William A. Sympathien mit der heimischen Rechten: A. trieb sich auf Foren der Alt-Right herum und postete Beiträge, in denen er Trump und Hitler feierte.

Laut Recherchen des MDR-Magazins gründete A. die Steam-Gruppe “Anti-Refugee Club”, in der auch der Münchner Neunfachmörder David S. Mitglied war. A. lobte S. nach dessen Attentat als “guten Typen” und soll auch der Verfasser eines entsprechenden Eintrags in der “Encyclopedia Dramatica” sein, in dem S. als “Held” bezeichnet und seine Opferzahl als “Highscore” gewertet wird. Der Eintrag ist derzeit nicht aufrufbar, aber über das Web-Archiv archive.is einsehbar.

Laut Aussagen des Ludwigsburger David F., die Motherboard vorliegen, war es der Amerikaner A., der ihn mit dem David S. überhaupt erst bekannt machte. F. erzählte den Beamten nach seiner Festnahme davon, wie er A. fragte, ob er andere Deutsche kenne, die wie er an Amokläufen interessiert seien. A. habe ihm dann den Münchner S. empfohlen.


Ebenfalls auf Motherboard: Waffen aus dem Onlineshop


Hätte das bayerische LKA einen Amoklauf aus der Steam-Community verhindern können?

Dass die Steam-Connection zwischen den Amokbrüdern William A. und David S. in Deutschland überhaupt bekannt wurde, ist ebenfalls nicht proaktiven Polizisten oder besonnenen Betreibern zu verdanken, sondern, erneut, dem Hinweis eines Bürgers: Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb entdeckte die Verbindung zwischen den beiden in einem Artikel auf der US-Seite Farmington Daily Times. Ein Google Alert, den er zuvor für die Recherche zu seinem Buch über terroristische Einzeltäter eingestellt hatte, benachrichtigte ihn im April über den brisanten US-Artikel, so Hartleb gegenüber Motherboard. Die Info leitete er anschließend an mehrere Journalisten weiter.

Das Schockierende an dieser Entdeckung: Laut dem US-Medium hätte das FBI bei dem späteren Attentäter William A. bereits im März 2016 aufgeschlagen, nachdem A. im Netz Hassposts schrieb und außerdem versuchte, sich eine Waffe zu kaufen. Doch die Behörde fand bei der Durchsuchung keine Waffe und kam zu dem Schluss, A. sei ein harmloser Online-Troll. Die Folge: A. blieb seitdem unter dem Radar der Behörden.

Auch aus Deutschland kamen keine Hinweise zu A.. Dabei hatten Ermittler des bayerischen LKAs schon am 28. Juni 2016, sechs Tage nach München, ein Ermittlungsersuchen an die Rechtsabteilung von Steam geschickt, um die Profile des Attentäters David S. auszuwerten. Doch dass der Münchner in der von A. gegründeten Steam-Gruppe war, dass A. dessen Tat verherrlichte und dass die beiden in Kontakt standen, wurde nicht genauer untersucht – der entscheidende Hinweis an die amerikanischen Behörden bliebt daher aus. Für die US-Ermittler bestand daher auch kein besonderer Grund mehr, sich mit A. weiter zu beschäftigen. Bis zum 7. Dezember 2017, als A. den Amoklauf an seiner ehemaligen Schule beging.

Von einem Reporterteam des MDR darauf angesprochen, dass deutsche Behörden möglicherweise wichtige Erkenntnisse hätten liefern können, die den Amoklauf in Aztec vielleicht hätten verhindern können, sagte der dortige Sheriff, Brice Current: “Wir haben keine Informationen zu A. aus Deutschland bekommen. Es ist absolut enttäuschend, wenn es Informationen gegeben hat, die nicht geteilt worden sind.”

Laut Florian Hartleb zeigen solche Versäumnisse, dass so manche deutsche Behörde noch nicht in der digitalen Realität angekommen sei. “Der Radikalisierungsprozess von David S. über US-amerikanische Plattformen wie Steam wurde nicht einmal geprüft, geschweige denn diskutiert”, kritisiert Hartleb auf Motherboard-Anfrage. “Die Umfeldanalysen der Münchner Behörden bezogen sich maßgeblich auf das schulische und familiäre Umfeld von S., und nicht auf den virtuellen Raum, in dem sich 90 Prozent seines Lebens abspielte.”

Der Wissenschaftler moniert das “überholte Bild vieler Behörden”, wonach militanter Rechtsextremismus sich ausschließlich aus der Skinhead- und Kameradschaftsszene speise, und nicht auf scheinbar harmlosen Spieleplattformen vorkommen könne. Das Gegenteil sei der Fall, so Hartleb: Denn zunehmend gedeihe auch in den Nischen dieser Boards eine Subkultur, die von militantem und rassistischem Hass geprägt, höchst interaktiv und darüber hinaus international vernetzt sei. Dieser neue Tätertypus sei jedoch noch nicht in jeder Amtsstube angekommen, so Hartleb.

Die Angehörigen der Opfer fordern Ermittlungen auf Steam

Warum die bayerischen Sonderermittler der SOKO OEZ, die mit der Aufarbeitung des Attentats betraut wurde, von all dem nur wenig mitbekamen, ist für viele bis heute ein Rätsel. Zwar stellen die Behörden kurz nach München eine Anfrage bei Steam, besorgen sich Profile, Chat-Inhalte und IP-Adressen. Doch wirklich nützliche Erkenntnisse können sie nicht daraus ziehen, laut eigenen Aussagen. “Da war nix dran”, sagt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I auf Motherboard-Anfrage. Ohnehin seien das hauptsächlich “Internet-Pseudonyme”, mit denen man wenig anfangen könne.

Richtig ist, dass Nutzer sich bei Steam anmelden können, ohne persönliche Daten zu hinterlassen: Ein Nickname und eine Wegwerf-E-Mail reichen, um auf der Plattform mitzudiskutieren. Doch wer hinter einem Nicknamen steckt, lässt sich mithilfe der IP-Adresse über eine simple Abfrage beim Internet-Provider herausfinden. Solange ein User keine Tools zur IP-Verschleierung wie den Tor-Browser oder einen VPN benutzt, sollte es für Strafverfolger keine große Schwierigkeit sein, die Identität eines Steam-Nutzers herauszufinden.

Auch das Bemühen von Nebenklägern, während des Prozesses gegen den Waffenlieferanten des Attentäters dessen Steam-Verbindungen und Hinweisen auf möglichen Mitwissern nachzugehen, stieß bei der Staatsanwaltschaft auf taube Ohren. Drei Mal haben etwa die Hinterbliebenen-Vertreter Yavuz Narin und Claudia Neher Beweisanträge wegen Steam gestellt, so Neher gegenüber Motherboard. Drei Mal wurden sie abgelehnt.

Und heute?

Vor wenigen Tagen sprach der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) von “internationalen Kontakten” des Münchner Attentäters und würdigte damit erstmals indirekt die Rolle der Spieleplattform Steam bei den Verbrechen. Wie ernst der Minister seine Worte meinte oder ob es nur rhetorische Beruhigungspillen für die wachsende Schar an Kritikern sind, wird sich zeigen.

Hinterbliebenen-Anwältin Claudia Neher traut den Münchner Behörden schon lange nicht mehr über den Weg. Sie hat nun selbst, im Namen von vier Hinterbliebenen-Familien, ein Auskunftsersuchen an das FBI gestellt, um mehr über Steam zu erfahren. Denn der Wunsch nach lückenloser Aufklärung besteht auch oder vor allem bei denen, die Opfer zu beklagen haben. Bei einem Termin im bayerischen Landtag sagen Hinterbliebene, die anonym bleiben wollen: “Wir haben das Gefühl, dass der Staat seine eigenen Interessen vertritt. Wir haben leider bisher keine Gerechtigkeit erfahren.”

Daniel ist auf Twitter und freut sich über Hinweise via E-Mail (daniel.muetzel@vice.com) oder Threema (B4Y86KK5).

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