Anarchisten aus Europa haben angeblich eine neue Kampfgruppe in Syrien gegründet

Anfang April tauchte auf mehreren linken und anarchistischen Blogs ein martialistisch gestaltetes Video auf, in dem ein Sprecher – umringt von bewaffneten Kämpfern und vor anarchistischen und antifaschistischen Symbolen – die Gründung einer neuen Brigade in Syrien verkündet. Wir haben die Gruppe kontaktiert; ein Interview wollten uns ihre Mitglieder aber nicht geben.

“Heute geben wir die Gründung der International Revolutionary People’s Guerrilla Forces (IRPGF) bekannt”, heißt es in einer mehrsprachigen Erklärung, die gleichzeitig mit dem Video verbreitet wurde. “Wir verstehen uns als eine explizit anarchistische und militante Gruppe in Rojava, welche zum Ziel hat, die Revolution zu verteidigen und die anarchistische Idee voranzutreiben.”

Videos by VICE

Und weiter: “Bewaffnete Aufstände und Rebellionen auf der ganzen Welt werden bis zum Ende ausgetragen. Wir kämpfen [dar]um, unser Leben zu verteidigen und für die endgültige Befreiung. Der Nationalstaat, Autoritäten, Kapital und soziale Hierarchien sind Feinde einer freien Welt und somit unsere Feinde […] Für uns gibt es kein Zurück mehr und keinen anderen Weg zur Befreiung als durch den bewaffneten Kampf. Unsere Gemeinschaften werden nur dann befreit, wenn wir die wenigen zerstören, deren Wohlbefinden und Macht auf dem Leid und der Ausbeutung der vielen anderen basieren.”

Foto: Screenshot aus dem Video

Tatsächlich ist das im Norden Syriens gelegene und auch als Westkurdistan bezeichnete Rojava seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs zum Symbol revolutionärer linker und anarchistischer Bewegungen weltweit geworden. So hat zum Beispiel der amerikanische Intellektuelle und selbsternannte Anarchist David Graeber die Revolution in Rojava bereits 2014 mit der Verteidigung des republikanischen Spaniens verglichen.

Dass es aber nicht nur beim symbolhaften Charakter Rojavas geblieben ist, zeigen die vielen internationalen Kämpferinnen und Kämpfer, die sich dort am Krieg beteiligen. Ebenso wie jene Kommunisten und Anarchistinnen aus Europa, die beim Wiederaufbau von Städten wie Kobanê und der medizinischen und infrastrukturellen Versorgung der Region mitwirken.

Mit dem demokratischen Konföderalismus versucht die kurdische Bewegung in Rojava ein nicht-staatliches, basisdemokratisch organisiertes Gesellschaftssystem zu etablieren.

Dass Rojava in den letzten Jahren überhaupt zum vermeintlichen Schauplatz von revolutionärem Internationalismus geworden ist, hängt mit der lokalen Politik zusammen. In der Region hat nämlich die der PKK nahestehende Partei der demokratischen Union (PYD) schrittweise und unter Anwendung militärischer Mittel seit etwa 2006 ein eigenes Gesellschaftssystem etabliert.

Tatsächlich ist die PKK schon seit Ende der 1970er in Nordsyrien aktiv. Auch ihr inhaftierter Führer Abdullah Öcalan hielt sich ab 1979 fast 20 Jahre in der Region auf, bis er im September 1998 Syrien verlassen musste, nachdem die Türkei Syrien mit Krieg gedroht hatte.

2003 wurde die PYD von der PKK als syrische Schwesterpartei gegründet. Seither verfolgt sie das von Öcalan propagierte Modell des demokratischen Konföderalismus. Mit diesem Modell wurde das frühere Ziel eines kurdischen Staates von der PKK verworfen. 

Mit dem demokratischen Konföderalismus versucht die kurdische Bewegung jetzt, ein nicht-staatliches, basisdemokratisch organisiertes Gesellschaftssystem zu etablieren, das ohne staatliche Strukturen und mit möglichst schwacher Hierarchie funktioniert – und damit auch für radikale Linke und Anarchisten auf der ganzen Welt interessant ist.

Insofern verwundert es nicht, dass sich auch Anarchistinnen und Anarchisten aus Europa dem Kampf gegen die IS-Miliz und andere Terrorbanden in Syrien und der Verteidigung der “Revolution von Rojava” anschließen – auch wenn “Rojava kein linkes Schlaraffenland ist, sondern eine Gesellschaft im Krieg”, wie im Februar 2016 ein autonomer Antifaschist aus Deutschland, der unter dem Kampfnamen “Heval” selbst in Rojava gekämpft hat, gegenüber VICE erklärt hat.

Schon vor der Gründung der International Revolutionary People’s Guerrilla Forces (IRPGF) Anfang April haben sich mehrere internationale Brigaden zum International Freedom Batallion (IFB) zusammengeschlossen. Auch die IRPGF erklärt in ihrer Videobotschaft die Mitgliedschaft im IFB.

Neben mehreren türkischen kommunistischen Parteien, sind im IFB auch Gruppen wie die griechische Επαναστατικός Σύνδεσμος Διεθνιστικής Αλληλεγγύης (Revolutionäre Union der internationalen Solidarität), die britische Bob Crow Brigade, die französische Brigade Henri Krasucki und die internationale Brigade International Anti Fascist Tabur organisiert.

Grafik: Paul Donnerbauer, VICE Media

Allerdings dürfte das IFB trotz der teils sehr unterschiedlichen Ideologien seiner Mitglieder – oder gerade deshalb – bei weitem nicht so basisdemokratisch organisiert sein, wie sich das viele Linke in Europa vorstellen. Tatsächlich soll das IBF von der stalinistischen MLKP geführt werden, wie eine Quellen von VICE berichtet, die selbst bereits Rojava besucht hat.

Unsere Quelle geht auch davon aus, dass die meisten der im IFB organisierten Gruppen gar nicht an die Front kämen, sondern im Hinterland für logistische Tätigkeiten und Propagandazwecke eingesetzt würden. Videos wie jenes der IRPGF seien eigentlich reine PR-Stunts, heißt es. Die YPG selbst habe gar kein großes Interesse mehr an westlichen Freiwilligen, da diese oft nur schlecht oder gar nicht ausgebildet seien.

Auch ein kurdischer Aktivist aus Wien, der 2015 und 2016 mehrere Monate in der Region verbracht hat und anonym bleiben möchte, meint, dass die europäischen Brigaden – sofern sie überhaupt länger als ein paar Wochen existieren – im IFB nicht viel zu melden hätten und oft gar nicht an die Front mitgenommen würden, da ihnen die militärische Ausbildung fehlen würde.

Wenn du nicht bereit bist zu töten oder getötet zu werden, gibt es keinen Platz für dich auf dem Schlachtfeld. Wenn du nicht weißt wie man kocht, putzt und ohne Eltern auf sich aufpasst, bleib zuhause.

Zwar biete die MLKP neben politischen und ideologischen Schulungen auch militärisches Training an, dies sei aber oft nur sehr kurz und die europäischen Freiwilligen würden daher oft für andere Aufgaben herangezogen.

Und auch der Brite Jac Holmes, der sich bereits 2015 der YPG angeschlossen hat, schreibt auf Facebook: “Ich würde niemandem raten, hierher zu kommen – ganz besonders nicht, wenn man kein Ex-Militär ist und nicht bereits mehrere Kampfeinsätze hinter sich hat. Wenn du nicht mindestens 6 Monate Zeit hast, unabhängig davon, was du hier machen wirst oder dir hier passieren wird, vergeude nicht unser aller und deine eigene Zeit. Wenn du nicht bereit bist zu töten, getötet oder schwer verletzt zu werden, gibt es keinen Platz für dich auf dem Schlachtfeld […] Wenn du nicht weißt wie man kocht, putzt und ohne Eltern auf sich aufpasst, bleib zuhause.”

Die Worte richten sich vor allem gegen Polit-Aktivisten, die weder eine militärische noch sonst irgendeine hilfreiche Ausbildung besitzen und trotzdem nach Rojava reisen, um an der Revolution teilzunehmen. Laut unserer Quelle sollen sich in Rojava auch keineswegs nur linke Internationalisten aufhalten. Neben eher unpolitischen Ex-Soldaten und linken Aktivisten sollen auch “alle möglichen Spinner” nach Rojava reisen – teilweise sogar Anhänger des Front National und deutsche Neonazis.

Die Feindschaft zwischen Anarchisten und Kommunisten existiert in Rojava unter umständen nicht in der Form, wie man sie aus europäischen Bewegungen kennt.

Tatsächlich scheint es etwas seltsam, dass sich Anarchistinnen und Anarchisten unter dem stalinistisches Führungsbanner der MLKP einordnen. Allerdings erklärte die MLKP 2016 selbst in einem Interview: “Unsere Einheiten stehen auch jenen Revolutionären offen, die nicht Mitglieder der MLKP sind. Das schließt auch Anarchisten mit ein.”

Dennoch würden auch in Rojava und auch für Anarchistinnen und Anarchisten die Grundgesetze von Krieg wie “Disziplin, Regeln, Befehlen und Gehorchen, Willenskraft, Glaube, Entschlossenheit, Hingabe und den Feind und sich selbst zu kennen” gelten, so die stalinistische Partei.

Dass Fraktionskämpfe und Feindschaften zwischen Kommunisten und Anarchisten in Rojava unter Umständen nicht die selben sind, wie sie vielleicht in europäischen Bewegungen auftreten, erklärte 2016 auch der deutsche Antifaschist Heval gegenüber VICE, der selbst im IFB gekämpft hat: “Ich war Monate lang mit Kommunisten, Maoisten und Stalinisten unterwegs, die haben gejubelt, als die Amerikaner den IS bombardiert haben. Die Amis liefern uns Munition, während der Nato-Partner Türkei auf uns schießt. Das klassische Schwarz-Weiß-Denken funktioniert in diesem Konflikt nicht. Dafür ist das alles zu komplex.”

“Von Rojava bis Athen – Ihr werdet dafür bluten die befreiten Gebiete des Kampfes zu nehmen – Solidarität mit besetzten Häusern” steht auf der Wand geschrieben. Foto: via Twitter

Dass zumindest für die IRPGF europäische und weltweite Kämpfe dennoch auch in Rojava eine Rolle spielen, zeigen gleich mehrere Solidaritätsbekundungen der Gruppe. So veröffentlichte die IRPGF kurz nach ihrem Gründungsvideo ein zweites Video, in dem sie dem weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka Repression gegen das eigene Volk vorwirft und am Ende auf ein Porträt des autoritären Staatschefs schießt. Zuvor waren im März in Belarus dutzende Anarchistinnen und Anarchisten, sowie Oppositionelle nach Protesten verhaftet worden.

Die Gruppe teilt auf ihren Social-Media-Profilen aber auch Beiträge über Aktionen gegen Transphobie in den USA, Aufrufe gegen den G20-Gipfel in Hamburg, Solidaritätsbekundungen mit den Standing-Rock-Protesten und Informationen zu indigenen Protesten in Mexiko. Auf Griechenland scheint die Gruppe einen besonderen Fokus gelegt zu haben, wie zahlreiche Beiträge zeigen.

Wie viel Einfluss die IRPGF in Rojava noch haben wird, lässt sich eine Woche nach ihrer Gründung freilich noch nicht sagen. Laut unseren beiden Quellen, die die Entwicklungen in Rojava intensiv beobachten, dürfte er aber gering bleiben.

Fest steht aber, dass die IRPGF mit ihren Propaganda-Videos schon jetzt für einiges an Aufsehen innerhalb der radikalen Linken und anarchistischen Bewegungen in Europa, aber auch dem Rest der Welt gesorgt hat – und damit ihre mutmaßliche Arbeit gut erfüllt.

Mit den martialischen Videos und inszenierten Fotos zeigt die Gruppe jedenfalls, dass sie den Kampf auf Social Media perfekt beherrscht. Und zumindest ein paar Mitglieder der Brigade dürften sogar mit Waffen umgehen können – auch wenn die sinnlose Ballerei und Fetischisierung von Waffen in diversen Foren bereits für einiges an Kritik gesorgt hat.

Paul auf Twitter: @gewitterland

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