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Angst vor Erdogan: Wie sich Türkeistämmige online selbst zensieren

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Sommer für Sommer trieb es viele Türkeistämmige aus Deutschland nach Anatolien. Wenn die Schulglocke die Ferien eingeläutet hatte, standen die vollbepackten Autos bereit oder die Flüge waren gebucht. Beim Heimaturlaub tranken sie tratschend mit allen Verwandten Çay, bis sie sich endlich an den Badeorten in Antalya, Marmaris oder Bodrum sonnen konnten. Das wird auch nächstes Jahr so sein, aber viele Türkeistämmige haben Angst.

Ein Putschversuch, terroristische Anschläge des sogenannten IS und der Krieg gegen die Kurden haben die politische Lage in der zweiten Heimat von mehr als 2,8 Millionen Türkeistämmigen destabilisiert, von denen wiederum etwa die Hälfte deutsche Staatsbürger sind. Noch dazu hat der autoritär regierende türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Unterdrückung von Oppositionellen, Kritikerinnen und Kritikern und Minderheiten weiter verstärkt. So können AKP-Anhängerinnen und Nationalisten Erdoğans Kritiker auch außerhalb der Türkei ganz leicht per E-Mail denunzieren. Die angezeigten Türkeistämmigen in Deutschland erfahren nicht mal, ob Ermittlungen gegen sie laufen. Erst, wenn sie in die Türkei einreisen oder schon am Strand liegen, rasten die Handschellen ein. Ein Direktflug in den Knast sozusagen.

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Das ist dem Kurden Hüseyin M. im August 2018 passiert. Per E-Mail soll er von mehreren Menschen verpfiffen worden sein, sagte sein Anwalt Erdal Güngör in Ankara der Deutschen Presse-Agentur. Unter anderem soll eine Nachricht direkt ans Präsidialamt gegangen sein, so sein Verteidiger. M. soll den heutigen Präsidenten und damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan 2014 und 2015 auf Facebook als “Diktator” und “Kindermörder” beleidigt haben. Er bestreitet das. Mittlerweile ließ das Gericht M. aus der Untersuchungshaft, eine Reisesperre hat er nicht, aber der Prozess läuft weiter.

M. ist kein Einzelfall. Dennis E. aus Hamburg wollte ebenfalls in der Türkei Verwandte besuchen und ein paar Tage am Meer verbringen, wie Spiegel Online Anfang August berichtete. Ende Juli nahm die Polizei ihn fest. Hasan I., Nurali D. und Ilhami A., sind nur weitere Beispiele, von denen mehrere Medien in den letzten Monaten berichteten. Posts auf sozialen Medien sind häufig Ursachen für solche Festnahmen. Das bedeutet: Alle frei zugänglichen Daten auf Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram sind für jeden Erdoğan-Kritiker eine potentielle Gefahr.

Inzwischen hat das Auswärtige Amt seine Reisehinweise für die Türkei verschärft. “In den letzten beiden Jahren wurden vermehrt auch deutsche Staatsangehörige willkürlich inhaftiert. Festnahmen und Strafverfolgungen deutscher Staatsangehöriger erfolgten mehrfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien”, steht auf der Website der Behörde, der Eintrag wurde am 23. Oktober aktualisiert. “Dabei können auch solche Äußerungen, die nach deutschem Rechtsverständnis von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, Anlass zu einem Strafverfahren in der Türkei geben”, heißt es weiter.

Fälle wie diese haben sich in der türkischen Community in Deutschland herumgesprochen. Sie haben verändert, wie sich viele Türkeistämmige im öffentlichen Raum bewegen, online und offline. Mit vier von ihnen hat Motherboard gesprochen. Zwei Interviewpartner haben wir anonymisiert, da sie Angst haben auf Grund dieses Artikels beim nächsten Heimaturlaub in den Knast zu kommen.

Burak*, 28, Student in Essen: “Kein Lebensbereich, der nicht mit hineingezogen wird”

Motherboard: Wie hat sich dein Online-Leben verändert, seit Erdoğan-Kritiker schärfer verfolgt werden ?
Burak: Ganz klar, ich poste weniger auf sozialen Medien. Selbst zur Zeit als die Gezi-Park-Proteste 2013 liefen, als die Auseinandersetzungen sehr extrem waren, habe ich täglich bis zu vier kritische Posts abgesetzt. Jetzt poste ich Politisches nur, wenn es unausweichlich ist, wie Informationen zu Gerichtsverfahren von Kollegen, die für ihre journalistische Arbeit im türkischen Gefängnis sitzen.

Wie hast du reagiert, als du erfahren hast, dass Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Türkeistämmige auch in Deutschland denunzieren?
Es hat mich nicht überrascht. Mehrmals hat Erdoğan gesagt, man soll seine Gegner ausspionieren, wo man sie nur findet. Damit meinte er vor allem Deutschland. Ich kenne Menschen, die die türkische Polizei festgenommen hat. Hasan I. ist der Onkel eines Freundes. I. wusste vorher, dass die Gefahr besteht. Trotzdem ist er in die Türkei gereist. Die Behörden haben ihn direkt bei der Einreise verhaftet. Er wurde zwar später nach Deutschland zurückgeschickt, aber das ist kein Einzelfall. Alleine in meinem Freundeskreis kenne ich acht Personen mit ähnlichen Erfahrungen.

Hast du Angst, du könntest auch festgenommen werden?
Ich habe bei einem linken Fernsehsender als Kameramann gearbeitet. Nach dem Putschversuch – meiner Meinung nach, dem angeblichen Putschversuch –, hat die Kommunikationsbehörde den Fernsehsender geschlossen und türkische Kollegen von mir angeklagt. Sie haben hohe Haftstrafen bekommen. Seitdem habe ich Bedenken, in die Türkei zu reisen. Ich will eigentlich meine Großeltern besuchen, aber lasse das jetzt sein. Sie sind fast 80 Jahre alt. Meine Oma hat Alzheimer und meinem Opa ging es eine Zeit lang nicht gut. Die sind in einem Alter, in dem Angehörige nie wissen, was passieren wird.

Wie sehr lässt du dich von all dem einschränken?
Ich stehe zu meiner Meinung. Ich bin ein politischer Mensch und lebe nicht in völliger Angst. Momentan warte ich einfach nur ab. Es besteht gerade kein Notfall, aber sollte es meinen Großeltern schlechter gehen, werde ich zu ihnen reisen.

Fühlst du dich in Deutschland sicher?
Ich fühle mich nicht sicher. Es gibt sowas wie sozialen Druck. Es gab schon immer verschiedene politische Lager: Der eine war Republikaner, der andere konservativ. Aber durch die Politik in der Türkei sind die Lager polarisiert. Es gibt nun AKP-Anhänger und -Gegner. Viele Menschen meiden sich deswegen. Ich lebe derzeit in Essen und hier hat Erdoğan bei der letzten Wahl mehr als 75 Prozent bekommen. Dementsprechend verhalte ich mich. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht mit hineingezogen wird. Auch, wenn ich als Deutsch-Türke vor einer Wurstbude stehe. Denn jemand, der eine Currywurst isst, ist ungläubig und kann deswegen wahrscheinlich nicht für die AKP sein.

Rojin*, 26, Studentin in Hanau: “Habe mich früher über türkische Regierung lustig gemacht – Posts gelöscht”

Junge Frau steht mit dem Rücken zur Kamera
Istanbul ist für Rojin ein Sehnsuchtsort, fast ihre ganze Familie lebt dort. Nachdem sie ein türkischer AKP-Anhänger bedroht habe, reiste sie eine Zeit lang nicht hin | Foto: privat

Motherboard: Du hast alevitische und kurdische Wurzeln in der Türkei. Die Repression beider Minderheiten hat in der Türkei zugenommen. Hast du Angst, du oder deine Familienmitglieder könnten deswegen festgenommen werden?
Rojin: Natürlich. Die Angst ist stärker geworden, weil ich erfahren habe, dass Polizisten meinen Onkel wegen seines Facebook-Accounts kurzzeitig festgenommen und nach Deutschland zurückgeschickt haben. Danach hat er sofort seinen alten Account gelöscht und einen neuen erstellt. Seitdem ist er ganz brav (lacht). Er postet nichts Politisches mehr. Nach sechs Monaten konnte er wieder in die Türkei einreisen.

Er hat sich damit einer Selbstzensur unterzogen?
Ja.

Wie hat sich dein Leben verändert, seitdem du weißt, Erdoğan lässt seine Kritiker auch in Deutschland denunzieren?
Bis vor zwei Jahren bin ich dreimal pro Jahr nach Istanbul geflogen, weil meine Familie dort lebt und ich wenige Verwandte in Hanau habe. Es hat mich hart getroffen. Obwohl ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe, hat meine Mutter Angst, mir könnte dort was passieren. Deswegen bin ich nicht mehr hingereist.

Wo bist du online aktiv?
Auf Facebook, seit Kurzem auch auf Instagram. Insta ohne jegliche politische Äußerung.

Würdest du dich online zensieren, um wieder ins Land einreisen zu können?
Damit habe ich schon angefangen. Meine Art, Themen auf Facebook zu posten, hat sich verändert. Früher habe ich mich über die türkische Regierung und den Präsidenten lustig gemacht. Ich habe zum Beispiel Erdoğans Bild gepostet und einen sarkastischen Text darunter geschrieben. Solche Posts habe ich alle gelöscht. Ich teile nur noch Sachen von dem Verein, in dem ich aktiv bin. Und selbst dann schreibe ich nichts Eigenes dazu.

Planst du, in der nächsten Zeit in die Türkei zu reisen?
Ja, im Dezember. Meine Cousine in Istanbul ist Anwältin und hat für mich nachgeschaut, ob Anzeigen gegen mich laufen. Sie meinte, es gebe keine, deswegen traue ich mich nun.

Sie kann nachschauen, ob Anzeigen gegen dich laufen? Wie funktioniert das?
Wir haben in unserer Familie auch Polizisten – leider. Die fragt sie dann, ob gegen Familienmitglieder ermittelt wird. Meine Cousine hat mir aber trotzdem geraten, dass ich meinen Facebook-Account während meines Heimaturlaubs deaktiviere. Vielleicht tausche ich mein Handy noch aus.

Hattest du mal das Gefühl, jemand könnte dich denunziert haben?
Ja, in Hanau haben wir eine prokuridsche Kundgebung gehalten. Es kam zu einer Schlägerei und ein AKP-Anhänger hat mich gefilmt. Er drohte mir, er würde die Aufnahmen an die türkische Polizei schicken. Ich wusste nicht, ob er es ernst meint.

Taylan Özen, 40, Aufzugsmonteur in Nürnberg: “Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen”

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Taylan hält nichts davon, Panik unter den Türkeistämmigen zu verbreiten. Im Schlimmsten Fall vertraut er auf sein Netzwerk | Foto: privat

Motherboard: Was hast du gedacht, als du von dem Medienbericht gehört hast, wonach Erdoğan-Anhänger Oppositionelle in Deutschland mithilfe einer App denunzieren?
Taylan: Ich war wütend. Das ist schon heftig, dass das nun möglich ist. Man wusste ja, dass der Arm der türkischen Regierung bis nach Deutschland reicht. Aber das Ausmaß ist erschreckend.

Hast du Angst, dass dich jemand mit der App bei einer Demo fotografiert und das an die türkische Polizei schickt?
Nein.

Warum nicht?
Ich bin in einer Organisation tätig, in der meine Genossen auf mich aufpassen. Wir sind sowohl im Kreis- als auch im Bayerischen Jugendring vertreten. Darüber hinaus bin ich mit Gewerkschaften vernetzt und mit Parteien wie der SPD, den Grünen und der Linken. Ich lasse mich von den Erdoğanisten nicht kleinkriegen. Ich merke die Einschüchterungsversuche aber bei meinen Mitmenschen. Ob sie zu Kundgebungen kommen, überlegen sie sich mittlerweile zweimal. Die Angst hat sich breit gemacht.

Hast du dein Verhalten online eingeschränkt?
Nein, selbst bei Inhalten zur Türkei nicht. Ich sehe es aber bei anderen Organisationen, bei kurdischen oder alevitischen. Gegen Juli, wenn in einigen Bundesländern die Sommerferien anfangen und der Heimaturlaub ansteht, merke ich, dass die Angst unter den Türkeistämmigen größer wird.

Wann willst du das nächste Mal in die Türkei reisen?
Nächstes Jahr im Sommer.

Hast du keine Bedenken?
Nein, ich habe keine Angst. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen. Es ist meine freie Meinungsäußerung. Das muss Erdoğan nicht gefallen. Ich lasse mir da von seinen Anhängern auch in Deutschland nichts vorschreiben. Außerdem sollte man keine Panik verbreiten.

Glaubst du, die Situation wird sich bald entspannen?
Das denke ich nicht. Aber die Türkei hat mittlerweile wirtschaftliche Probleme. Eine Finanzkrise macht den Menschen zu schaffen. Sollten Erdoğan und seine Regierung sie nicht bald lösen können, wird sie ihm das Genick brechen.

Sinan Çokdeğerli, 25, Gewerkschaftssekretär in Nürnberg: “Lösche meine Posts nach zwei bis drei Wochen”

Foto vom Interview-Partner
Für seine politische Meinung nimmt Sinan in Kauf, nie wieder in sein Herkunftsland reisen zu können | Foto: privat

Motherboard: Was haben die jüngsten Verhaftungen von türkeistämmigen Deutschen in dir ausgelöst?
Sinan: Ich war schockiert. Ein Freund von mir aus Deutschland wollte einen Strandurlaub in der Türkei machen, aber bei der Passkontrolle haben türkische Polizisten ihn verhaftet. Sie nahmen ihm sein Handy ab und zwangen ihn, es zu entsperren. Dann haben sie seine Nachrichten gelesen und geschaut, mit wem er zu welcher Zeit auf Facebook geschrieben hat.

Weißt du von weiteren solchen Fällen?
Das passiert in unserem Umfeld allen möglichen Leuten. Das spricht sich natürlich herum, im Betrieb, in der Uni und im Wohnort. Aber die angespannte Lage unter den Türkeistämmigen hat sich nicht erst seitdem zugespitzt. Seit der letzten Wahl, bei der auch Türken in Deutschland wählen durften, hat sich die Stimmung verschlechtert.

Wurdest auch du schon von politischen Gegnern bedroht?
Nur auf sozialen Medien. Das widerfährt jedem, der zu bestimmten heißen Phasen die Politik in der Türkei kommentiert. Das sind dann teilweise Profile von Leuten, die den Wolfsgruß zeigen oder sich mit Waffen ablichten lassen.

Wo bist du überall online aktiv?
Ich habe mehrere Accounts, aber aktiv bin ich nur auf Facebook und Instagram. Facebook benutze ich, um auf dem Laufenden zu bleiben und Nachrichten besser verfolgen zu können. Instagram, um die Jugendszene so ein bisschen im Auge zu behalten. Aber ich lösche meine Posts immer nach spätestens zwei bis drei Wochen. Nichts von mir ist wirklich lange online, weil ich nicht zu viel öffentlich hinterlassen möchte. Im Endeffekt bleibt alles, was ich poste in den Datenspeichern von Facebook erhalten. Da kann ich wenig machen, aber zumindest für die breite Öffentlichkeit ist das dann nicht mehr so einfach nachverfolgbar.


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Reist du noch in die Türkei?
Früher bin ich jedes Jahr mindestens einmal hingeflogen, weil ich Freunde und Familie dort habe. Seit über zwei Jahren kann ich nicht mehr dahin. Das liegt an der Unterdrückung von Oppositionellen, zu denen ich auch mich zähle, aber auch an der politischen Lage. Mittlerweile schützt einen nicht mal mehr die deutsche Staatsangehörigkeit, um die ich mich gerade bemühe. Dazu kommt noch ein Problem: Ich muss in der Türkei den Wehrdienst ableisten, was ich absolut nicht will. Also wenn sie mich nicht sofort in den Knast stecken wegen meiner politischen Meinung, dann stecken sie mich in die Kaserne.

Würdest du akzeptieren, dass du nie wieder in die Türkei reisen kannst?
Ich werde mich nicht ändern, damit mich die türkische Regierung ins Land lässt. Das heißt auch, dass ich in Kauf nehmen muss, bei Geburtstagen oder Beerdigungen von Familienangehörigen nicht teilnehmen zu können. Das ist mir bewusst.

*Namen von der Redaktion geändert.

Update, 24.10.18, 12.40 Uhr: Wir haben den Text um die aktuellen Reisehinweise des Auswärtigen Amtes ergänzt.

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