Ich hatte schon ganz vergessen, dass ich es vorbestellt hatte, aber eines Tages Anfang Oktober bekam ich unerwartet Post. Neugierig öffnete ich das Paket und nahm Hungry Ghosts so vorsichtig aus der Schachtel, als wäre die Graphic Novel ein mystisches Objekt, das jeden Moment zu Staub zerfallen könnte.
Anthony Bourdain wird in unsere Geschichte als begnadeter Kulturvermittler eingehen, als brutale und brillante literarische Stimme. Wir werden uns an ihn wegen seiner Ehrlichkeit und Neugier erinnern, seine Bewunderungsfähigkeit. Egal, ob er mit Barack Obama in einem Noodle Imbiss in Hanoi auf einem Plastikstuhl saß, viel zu viel Wodka mit einem exzentrischen Russen in Transsylvanien trank oder auf seine unzähligen kulinarischen Expeditionen Magenkrämpfe in Kauf nahm, Bourdain war elektrisierend und mitreißend. Er erinnerte uns daran, dass wir am Ende alle einfach nur Menschen sind.
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Und es wäre eine verdammte Schande, wenn seine fiktionalen Arbeiten einfach in Vergessenheit geraten würden.
Hungry Ghosts ist für Bourdain eine angemessen unheimliche letzte Veröffentlichung und sollte nicht in deiner Halloween-Leseliste fehlen.
Die ersten Panels zeigen ein üppiges Anwesen in Montauk bei New York, bei dessen Anblick selbst Jay Gatsby vor Neid erblassen würde. Viel Glas trifft auf Metall, gigantische Fenster auf eine minimalistische Einrichtung. Es gehört einem russischen Oligarchen. Natürlich tut es das.
Dieser hat bei einer Wohltätigkeitsauktion ein äußerst exklusives Abendessen gewonnen und ein Team hochrangiger Köche demonstriert ihm seine Fähigkeiten. Die Gäste “oohen” und “aahen” bei jedem Gang. Am Ende wird das Küchenteam an den Tisch gebeten, um sich vorzustellen. Der Gastgeber bietet allen Cognac an, der so alt ist, dass “Napoleon noch lebte, als sie ihn in abfüllten”. Der Russe preist die kulinarischen Künste der Köchinnen und Köche, überhäuft sie mit Lob. Er bittet sie, sich zu ihnen an den Tisch zu gesellen und zu entspannen.
MUNCHIES-Video: Anthony Bourdain zeigt uns seine Lieblingsrestaurants in New York
Aber natürlich kommt es ganz anders.
Während das Küchenteam den Cognac leert, informiert der japanische “Physiotherapeut” des Oligarchen die versammelte Mannschaft darüber, dass jetzt Zeit für Hyakumonogatari Kaidankai ist, das Spiel der 100 Geistergeschichten. Für diese alte Mutprobe der Samurai werden 100 Kerzen angezündet. Daraufhin erzählen sich alle einander Gruselgeschichten. Ist eine Geschichte zu Ende wird eine Kerze ausgepustet. Der Legende nach erwacht ein Dämon, wenn alle Kerzen aus sind. Niemand hat es bis jetzt so weit geschafft.
Und weil alle Köche sind, müssen die Geschichten mit Essen zu tun haben.
OK, das klingt erst mal nicht so spannend. Was soll bitte gruselig an Essen sein? Aber denk nur einen Moment daran, wie glücklich du dich schätzen kannst, dich auf ein üppiges Lebensmittelangebot verlassen zu können; zu wissen, dass Zitronen und Äpfel dich vor Skorbut bewahren, dass viel Flüssigkeit gut bei einer Erkältung ist. Wie glücklich du dich schätzen kannst, Essen gehen zu können, ohne dir eine Lebensmittelvergiftung einzufangen. Wir haben Glück, dass Menschen in der Nahrungskette ganz oben stehen, und wir uns meistens sicher sein können, dass uns niemand zu fressen versucht.
Essen ist voll von potenziellen Schreckgeschichten und Bourdain muss sie gekannt haben wie kein anderer.
Jeder Koch erzählt eine Horrorgeschichte. Der ältere Franzose, der sein Handwerk in den unbarmherzig-militaristischen Küchen des Brigadesystems erlernt hatte, erzählt vom Sous Chef, der ihn routinemäßig sexuell misshandelte. Der gutaussehende Spanier erzählt die Geschichte eines reichen Mannes, der einen ungewöhnlichen Appetit für Pferdefleisch entwickelte. Der kettenrauchende Typ mit dem wirren Haar, ziemlich sicher Bourdain selbst, berichtet von einem Freund, der eines Morgens feststellte, dass auf seinem Bauch ein zweiter, hungriger und sprechender Mund erschienen war. Es sind Geschichten von Exzess und Entbehrung, vom Magischen und Banalen. Sie alle handeln von Yokai.
Yokai ist ein japanischer Sammelbegriff, der so etwas wie “Monster” meint. Yokai sind zahlreich und geheimnisvoll, unvorhersehbar und strafend. Yokai rächen sich an Menschen für ihre egoistischen Taten. Japanische Volkssagen enden nie glücklich.
Bourdain hat es genossen, in die dunkelsten Ecken des Menschseins abzutauchen, und er war von Japan fasziniert. Frühere Comics waren inspiriert von Jiro On von Jiro Dreams Of Sushi. Es passt vielleicht, dass Hungry Ghosts seinen Autor so gut reflektiert. Letztendlich ist es unfassbar unbefriedigend zu lesen. Die Geschichten sind kurz. Das Ende so abrupt, dass es mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Du wunderst dich: Wo ist der Rest?
Vielleicht ist das auch der Sinn der Sache. Jede Erzählung in Hungry Ghosts hinterfragt Völlerei und Hunger. Die Figuren werden für ihre Exzesse bestraft und für ihre Selbstsucht. Sie werden bestraft, weil sie die oberste Regel jedes Märchens brechen und Bettelnden nichts geben, Frauen entmenschlichen und andere mit falscher Hoffnung anstecken. Das Ende, das ich hier nicht verraten werde, ist eine Warnung.
Als der Artikel im New Yorker erschien, aus dem Geständnisse eines Küchenchefs werden sollte, führte sein lebendiger Schreibstil Bourdain auf einen Pfad, der wie ein Traum klang, aber in Wahrheit wesentlich komplizierter war. In seinen 40ern fing er an, die Welt zu bereisen, großartige Menschen kennenzulernen, unterschätzten Betrieben zum Erfolg zu verhelfen und einfach alles zu essen. Aber er sah auch Grausamkeiten. Er aß mit unfassbar talentierten Menschen, die praktisch nichts hatten. Diese Menschen öffneten ihm die Tür und fütterten ihn wie einen König. Er aß überwältigende Gerichte in den schicksten Gastronomietempeln mit Menschen, deren Reichtum unmöglich zu begreifen war.
Er wusste auch, dass ein Teil seiner Arbeit unabsichtlich eine Kultur des Missbrauchs glorifizierte. In einem Interview mit Seth Meyers im November 2017 beschrieb Bourdain, wie schockiert er war, als Fans ihm, einem früheren Abhängigen, bei Autogrammstunden Kokstütchen überreichten. Er bemerkte, dass seine Arbeit unbeabsichtigt manchen Menschen in der Restaurantindustrie die Lizenz gab, sich von ihrer schlimmsten Seite zu zeigen.
Hungry Ghosts geht vielleicht nicht auf alles davon ein, aber es ist eine finstere Ermahnung daran, auf die Probleme in der Welt um uns herum zu achten und uns um andere Menschen zu kümmern – egal, wer sie auch sein mögen. Es erinnert uns daran, die Verantwortung für das zu übernehmen, “was wir sehen, nicht nur für das, woran wir teilhaben“.
Halloween ist ein großer Spaß, aber es kann uns auch helfen. Wir gehen aus, wir lassen uns gehen und wir feiern, vorübergehend jemand anderes zu sein. Wenn wir zurückkommen, sind wir ein bisschen leichter, ein bisschen anders. An Halloween können wir darüber nachdenken, was uns Angst macht und warum. Wir können mit den Monstern in unserem Kopf diskutieren oder einfach den Grusel genießen.
Es ist also nur passend, dass Hungry Ghosts aus kleinen Episoden besteht. Dieses Jahr empfehle ich dir, dieses angsteinflößende und zutiefst unappetitliche Comic zu lesen. Tauch tief in deine Psyche ein und an der anderen Seite mit ein paar Fragen wieder auf. Fragen, die dir das Leben vielleicht erträglicher machen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei MUNCHIES US.
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