Eigentlich hatten wir schon vergessen, dass vor einem Monat ein paar Jugendliche und junge Erwachsene besoffen Stuttgart verwüstet haben: Läden plünderten, Handys klauten und sich generell eher daneben benahmen.
Aber derzeit wird wieder diskutiert. Nicht über die spätkapitalistische Poesie von geplünderten 1-Euro-Shops. Sondern darüber, ob die Täterinnen und Täter eigentlich echte Deutsche waren.
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Die Polizei ermittelte 39 Verdächtige, gegen 20 wurde Haftbefehl erlassen, 14 kamen in Untersuchungshaft. Die meisten haben einen deutschen Pass. Einige haben einen Migrationshintergrund. Manche sagen: Egal, sind etwa genauso viele wie in der Gesamtbevölkerung.
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Andere sagen: Wir sollten herausfinden, ob die Täter ausländische Eltern haben. Die Polizei bestätigte, dass sie in einigen Fällen die Nationalität der Vorfahren der Tatverdächtigen abfragte. Auch bundesweit bei Standesämtern. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken twitterte daraufhin: “Das verstört mich nachhaltig”. Viele nannten das ganz klar Rassismus.
CDU-Innenminister Thomas Strobl sieht das nicht ein. Sein Ministerium will mit den “angemessenen” Nachforschungen der Polizei zur Herkunft der Tatverdächtigen Strategien für die Prävention entwickeln, hieß es.
Wir haben den Kriminalhauptkommissar Oliver von Dobrowolski gefragt, ob es eigentlich normal ist, dass die Polizei Stammbaumrecherchen betreibt – und wann der soziale Hintergrund von Verdächtigen eine Rolle spielt. Dobrowolski ist Bundesvorsitzender der Berufsvereinigung PolizeiGrün und arbeitet für eine Brennpunkteinheit in Berlin.
VICE: Die Stuttgarter Zeitung meldete, die Polizei betreibe “Stammbaumforschung”. Hat die Meldung Sie überrascht?
Oliver von Dobrowolski: Ja, tatsächlich. Solche konkreten Ermittlungen, die auf die genaue Herkunft oder Abstammung abzielen, sind mir unbekannt. Mir stellt sich vor allem die Frage nach dem Sinn – wie soll der Grad der Migrationsgeschichte Aussagen über persönliche Umstände der Täterin oder des Täters zulassen?
Gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte ist das verstörend.
Es stellte sich ja heraus , dass der Begriff gar nicht fiel. Trotzdem: Ist es üblich, den Migrationshintergrund von Tatverdächtigen zu erheben?
Befremdlich war weniger dieser Begriff, als vielmehr der konkrete Sinn hinter den geplanten Maßnahmen. Ich hatte den Eindruck, dass die Polizei ohne wirklichen Grund und eventuell auch ohne tatsächliche Aufgabenzuschreibung deutschlandweit die Standesämter anfragt. Damit meine ich, dass eine derart umfangreiche und ressourcenaufwenige Recherche nicht Kernaufgabe bei strafprozessualen Ermittlungen durch die Polizei ist. Wären solche Ermittlungsschritte Standard, hätte die Polizei bundesweit automatisierten Datenzugriff auf solche Angaben, wie es in anderen Bereichen auch der Fall ist. Gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte ist das verstörend.
Elf der Tatverdächtigen hatten sich laut Berichten geweigert die Frage nach dem Migrationshintergrund zu beantworten. Ist das normal, dass man in der Vernehmung danach gefragt wird?
Bei Jugendlichen gibt es verbindliche Vorgaben zur Vernehmung in einer speziellen Polizeidienstvorschrift. Im Unterschied zu Erwachsenen wird dabei der soziale Hintergrund und die Entwicklung der Person – zum Beispiel ob die Person altersgerecht denkt und handelt – besonders nachgefragt. Ermittlungen zur Herkunft, also auch zur Ethnie und zum Grad einer Abstammung, ergeben sich daraus in aller Regel nicht. In Stuttgart kann ich auch nicht nachvollziehen, welche Rolle diese Erkenntnisse spielen sollten.
Hast du selbst schon erlebt, dass unnötigerweise ein Migrationshintergrund ermittelt wurde?
In den polizeilichen EDV-Systemen ist die Eingabe der Staatsbürgerschaft in der Regel zwingend. Gibt man “Staatsbürgerschaft deutsch” ein, ist aber eigentlich irrelevant, ob eine Migrationsgeschichte vorliegt. Es gab Bundesländer, in denen hierzu ein Merker gesetzt werden konnte oder musste. Soweit ich weiß, wurde das aber wieder rückgängig gemacht, weil es dafür ja keinen Anlass gibt.
Sind die persönlichen Lebensumstände von Tatverdächtigen denn überhaupt relevant?
Ja, immer. Nicht nur im bisweilen zitierten Jugendgerichtsgesetz, sondern auch im Strafgesetzbuch finden sich Aufträge an die Strafermittlungsbehörden, diese Hintergründe im Laufe des Ermittlungsverfahrens zu klären. Das kann vor allem vor Gericht zur Feststellung strafmildernder Umstände führen.
Wie ist es mit der sozialen Herkunft: Spielt die bei Ermittlungen eine Rolle?
Ja. Die soziale Herkunft definiert auch viel eher unser Verhalten als ein Migrationshintergrund. Entstammt eine Tatverdächtige oder ein Tatverdächtiger beispielsweise einer zerrütteten Familie und wurde in Kindheit und Jugend vielleicht bereits Zeuge oder sogar Opfer von häuslicher Gewalt? Oder führte die Erziehung zur Ausprägung eines straffälligen oder unsozialen Verhaltens? Das könnte möglicherweise eine begangene Straftat erklären. Und solche Erklärungen können auch Auswirkungen auf das Strafmaß haben.
Wären die Tatverdächtigen in Stuttgart bessergestellten Milieus zuzurechnen gewesen –salopp gesagt: Hätten reiche Kinder randaliert – wäre der polizeiliche Umgang möglicherweise ein anderer gewesen?
Das ist nicht ausgeschlossen. Stereotype Herangehensweisen sind leider auch in der staatlichen Verwaltung, also auch bei der Polizei, nicht ausgeschlossen. Das Stigma, aus einer sozial schwachen oder bildungsfernen Familie zu kommen, kann Tatverdächtigen schon anhaften, bevor sie zur ersten Vernehmung erscheinen.
Im Grundgesetz steht eigentlich: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Ist es dann nicht diskriminierend, wenn nach dem Jugendgerichtsgesetz der Hintergrund ermittelt wird?
Nein, diese Norm ist nicht grundsätzlich diskriminierend. Ermittlungen zu Herkunft und Abstammung lassen sich nicht unmittelbar aus der Rechtsquelle ableiten. Und in der Praxis werden die vorgegebenen Schritte teilweise auch nicht vollständig abgehandelt. Dafür reichen die Ressourcen gar nicht.
Neben der Herkunftsdebatte fiel der grobe Umgang mit den Tatverdächtigen in Stuttgart auf. Zwei junge Männer wurden mit Fußfesseln und barfuß zum Haftrichter geführt. Ist das üblich? Oder hat da möglicherweise auch eine Rolle gespielt, aus welchen Verhältnissen die Tatverdächtigen kamen?
Die Polizeidienstvorschrift regelt, dass mit Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden grundsätzlich anders zu verfahren ist als mit voll strafmündigen Erwachsenen. Das betrifft auch den Umgang mit ihnen – besonders, wenn er öffentlich ist.
Es geht darum, die Persönlichkeitsrechte und die Entwicklung der jungen Menschen zu schützen. Deshalb sind zum Beispiel Gerichtsverfahren gegen unter das Jugendgerichtsgesetz fallende Menschen grundsätzlich nicht öffentlich. Klar ist: Eine solche exponierte Behandlung junger Menschen wird diesem Schutzanspruch nicht gerecht.
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