Illustration von Luigi Olivadoti
Über mehrere Wochen haben wir uns mit der Armut in Zürich beschäftigt. Wir haben Menschen getroffen, die aus verschiedenen Gründen von Armut betroffen sind und auf verschiedene Arten damit umgehen. Für manche ist das Leben am Rande der Gesellschaft eine enorme psychische Belastung, für andere ist es das, was sie bewusst gewählt haben. In mehreren Artikeln erzählen wir ihre Geschichten.
“Ich habe mich nie arm gefühlt. Auch wenn ich kein Geld in der Tasche hatte, war mir das nie bewusst. Das Leben ging immer weiter”, sagt Ewald Furrer zu mir, als wir bei einem Kaffee in der Zürcher Bäckeranlage sitzen. Für ihn habe Armut nichts mit Geld zu tun, arm seien viel eher jene, die nicht zufrieden sind.
Heute ist das zweite Mal, dass ich mich mit Ewald verabredet habe. Das erste Mal war vor gut einer Woche für eine der sozialen Stadtführungen, die er zusammen mit einem Kollegen leitet. Bei diesen gibt Ewald Einblicke in die Parallelwelt der Obdachlosen und Randständigen von Zürich. Er zeigt etwa, wie sie ihre Nächte ungestört in öffentlichen Toiletten verbringen und wo sie ohne Krankenkasse eine ärztliche Behandlung bekommen können. Doch Ewald tauchte nicht auf. “Zu viel gesoffen”, schätzte sein Kollege die Lage ein. “Es geht ihm gesundheitlich ziemlich schlecht”, die Koordinatorin der Stadtrundgänge. Vermutlich meinen beide dasselbe, denn Ewald ist alkoholabhängig.
“Ich bin Walliser”, begründet Ewald seine Sucht mit einem Lachen, das der dramatisch scheinenden Situation eine gewisse Leichtigkeit verleiht. “Schon mit zwölf Jahren sass ich an freien Tagen in der Beiz, spielte Tischfussball und trank dazu Bier. Das war völlig akzeptiert.” Heute, 37 Jahre später, ist der Alkohol mehr als eine Begleitung beim Tischfussball. Er ist mit ein Grund, wieso Ewald mehr als ein Drittel seines Lebens auf der Strasse gelebt hat.
Jahrelang war Ewald ein Workaholic, arbeitete praktisch Tag und Nacht in einem Kino, einem Büro und als Pressefotograf. Drei Flaschen Wodka trank er täglich, um dieses Pensum bewältigen zu können. Irgendwann wurde ihm dieser Lebensstil zu viel. Er fiel in einen Burnout und reiste monatelang mit dem Fahrrad durch Südeuropa. Dort lernte er das Leben im Freien zu schätzen, empfand es als letzte Freiheit und verbrachte darum auch die folgenden 19 Jahre auf der Strasse.
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Jahr für Jahr wird Zürich von Mercer, einer Firma für Unternehmensberatung, auf die vorderen Ränge der lebenswertesten Städte der Welt gehievt. Zürich gilt als saubere und wohlhabende Stadt, als eine, die sich zeigen lassen kann. “World Class. Swiss Made”, heisst das auf der Webseite von Zürich Tourismus, wo ein Casino, die verwinkelte Altstadt mit ihren Boutiquen und das neue FIFA Museum beworben werden. Über das, was als schön und reich gilt, wird hier gerne gesprochen—seltener steht jedoch das andere Ende der gesellschaftlichen Leiter im Fokus. Armut ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema, obwohl sie weiter verbreitet ist, als es auf den ersten Blick scheint.
Laut Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2014 über eine halbe Million Menschen in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen. Rund doppelt so viele, immerhin jeder achte Einwohner, war gefährdet, in die Armut abzurutschen. Die meisten dieser Menschen sind alleinerziehend, verfügen nur über eine tiefe schulische Bildung oder leben in einem Haushalt mit geringem Arbeitspensum.
“Obdachlos zu sein ist ein Fulltime-Job.”
Im Kanton Zürich waren gemäss dem Sozialbericht des Kantons aus demselben Jahr 45.500 Menschen auf Sozialhilfe angewiesen, fast ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Die tatsächliche Zahl an Armutsbetroffenen dürfte jedoch bedeutend höher liegen—bis zu drei Mal so hoch legen Studien nahe. Viele der Betroffenen verweigern den Gang zum Sozialdepartement, meist aus Angst vor Stigmatisierung, dem Wunsch nach Unabhängigkeit oder Stolz, wie eine Studie der Universität Fribourg feststellte.
Ewald Furrer ist einer von jenen, die nie Sozialhilfe bezogen haben. Ihm war es stets wichtig, auch während seiner Jahre auf der Strasse nach aussen hin nicht als Obdachloser zu erscheinen. “Ich war immer herausgeputzt, immer ganz in schwarz—dadurch habe ich am Anfang den Übernamen ‘Der Pfarrer’ bekommen”, erinnert er sich. Sein äusseres Erscheinungsbild im Zusammenspiel mit seinem charmanten Auftreten hat ihm das Leben auf der Strasse erleichtert. Ewald pflegte nach eigenen Aussagen nicht nur Kontakte zu “Normalos”, wie er den Chefredaktor, die Banker und den Immobilienbesitzer in seinem Bekanntenkreis nennt, sondern auch zu diversen Institutionen, die sich an Randständige richten.
Er arbeitete im Pfuusbus von Pfarrer Sieber, der Obdachlosen im Winter gratis eine Unterkunft für die Nacht und ein Abendessen anbietet, in der Sunnestube, einem Begegnungscafé für Randständige, sowie im Speak Out, der Gassenküche im Zürcher Niederdorf. “Ich schaue den Leuten immer in die Augen und bin ehrlich. So kommst du überall durch.”
Auf der Strasse sei es enorm wichtig, sich ein gutes Netzwerk aufzubauen, schon um ganz alltägliche Probleme anzugehen: Wo kann ich essen? Wo kann ich meine Kleidung waschen? Wo kann ich mich im Winter aufwärmen? Auf seinem Stadtrundgang kommentiert er das für die Besucher jeweils mit diesem Satz: “Obdachlos zu sein ist ein Fulltime-Job.”
Gute Beziehungen pflegt Ewald auch zur SIP, dem städtischen Sozial- und Ordnungsdienst “Sicherheit Intervention Prävention Zürich”. Ohne sie würde er mir heute wohl nicht gegenüber sitzen, vermutlich wäre er an einem Wintertag erfroren. Betrunken sei er auf einem Bänkchen eingeschlafen, etwas schräg gelegen, weswegen das Blut in seinem Körper absackte. “Im Grunde war ich schon klinisch tot. Kein inneres Organ hat mehr funktioniert”, blickt Ewald auf die einzige Situation zurück, in der das Leben auf der Strasse ihn wirklich an die Grenze seiner Existenz gebracht hat.
Die SIP habe ihn gefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht. “Seitdem fehlt mir eine halbe Zehe”, zieht er Bilanz. Ich möchte von ihm wissen, welche Konsequenzen er aus dieser Erfahrung gezogen hat. Seine pragmatische Antwort lautet: “Ich habe im Winter nicht mehr so viel gesoffen.” Draussen geschlafen hat er aber weiterhin.
“Im Winter hast du deine Ruhe, du wirst nicht gestört, es hat keine Leute”, fasst er die Jahreszeit, in der es ihn immer hinausgezogen habe zusammen. Während andere Obdachlose in Gruppen am selben Ort übernachtet hätten, habe er es sich in drei bis vier Pullovern, einer dicken Jacke und einer langen Unterhose in einem städtischen Schwimmbad bequem gemacht. Wo genau, will er mir nicht verraten, nur so viel: “Die Leute, die das Bad geführt haben, waren froh, dass ich dort übernachtet habe.” Über die Wintermonate war das Bad jeweils geschlossen. Wenn Ewald da war, wurde nichts gestohlen.
“Alle Freunde, die sich so zugerichtet haben, haben ihren 50. Geburtstag nicht mehr erlebt.”
Seit gut einem halben Jahr wohnt Ewald nicht mehr auf der Strasse, sondern in einer 2.5-Zimmer-Wohnung. Die Angestellten des Stadtbades haben ihm beim Einzug geholfen. “Wenn mich vor drei Jahren jemand gefragt hätte, ob ich eine Wohnung wolle, hätte ich ‘Nein, Danke!’ gesagt.” Mittlerweile sei er aber froh, wenn er am Abend die Türe schliessen könne und alleine sei. Schliesslich bleibe ihm kein Jahr mehr, bis zum 50. Geburtstag und sein Arzt habe ihm gesagt, bis dahin müsse er seinen Lebensstil umkrempeln. “Alle Freunde, die sich so zugerichtet haben, haben ihren 50. Geburtstag nicht mehr erlebt.”
Ewald aber hat seine Sucht immer besser unter Kontrolle. Er versuche, kontrolliert zu trinken, am Abend höchstens zwei, drei Bier oder eine Flasche Wein—mehr nicht. Wie unsere erste Verabredung gezeigt hat, klappt das aber nicht immer. “Hin und wieder habe ich ziemlich heftige Abstürze.” Doch so intensiv wie früher soll es nicht mehr werden.
Damals verlor er wegen seiner Abstürze immer wieder mal einen Job und dadurch auch das Geld für die Wohnungsmiete. Wenn er gearbeitet hat, wohnte Ewald jeweils in einer Wohnung. Es dauerte aber nie länger als drei Monate bis wieder ein Absturz und weitere Monate auf der Strasse anstanden. “Ich müsste mich schon sehr dumm anstellen, um wieder auf der Strasse zu landen”, sagt er heute, wo er sich im Job als Stadtführer beim Verein Surprise nicht nur mitsamt seiner Fehler akzeptiert fühlt, sondern mit seinem Gehalt auch eine Stadtwohnung bezahlen kann.
Der Verein Surprise bietet seit 19 Jahren Menschen in Notsituationen seine Hilfe an. Am bekanntesten ist wohl sein Strassenmagazin, dessen Verkäufer mit der charakteristischen roten Mütze oder Jacke an belebten Plätzen in Zürich und Basel stehen. Seit April 2013 in Basel und Oktober 2014 in Zürich führen Randständige wie Ewald für den Verein, der sich ohne staatliche Unterstützung über Wasser hält.
“Durch die Touren ermöglichen wir den Stadtführern einen regelmässigen Zusatzverdienst, eine Tagesstruktur und eine persönliche Entwicklung”, erklärt mir Carmen Berchtold, die Koordinatorin der Stadtrundgänge in Zürich, das Konzept. Das Erzählen der Biografie helfe den Stadtführern, aus der Opferrolle auszubrechen und bisher angeeignete Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen. Sie erhielten Anerkennung, müssten Verantwortung übernehmen und stünden im direkten Austausch mit der Gesellschaft. Die Stadtrundgänge sind ein voller Erfolg. Bis Ende Juni seien alle Touren in Zürich komplett ausgebucht, über 600 hätten seit der ersten Führung stattgefunden.
Ewald wollte eigentlich nie zu Surprise. Den Job bei den Stadtrundgängen hat er angenommen, weil er einer Freundin einen Gefallen machen wollte. Heute leitet er diese Touren nicht nur, sondern steht zudem jeden Morgen von 05:45 bis 09:30 Uhr an der von pendelnden Büroangestellten bevölkerten Europaallee. Dort verkauft er das Strassenmagazin von Surprise. Widerwillig liess er sich von einem Freund dazu überreden. “Mir kam das immer abstrakt vor, mit diesem Heftchen in der Hand auf der Strasse zu stehen. Du bist allen Leuten ausgesetzt—ob das positive oder negative Erfahrungen sind, weisst du nie.”
Heute ist er begeistert, er hat seine Rolle gefunden. Ihm geht es weniger ums Verkaufen, als viel mehr um den Kontakt zu den Leuten. Bei diesen kommt er gut an. Er erzählt mir, eine Frau fahre wöchentlich einmal eine halbe Stunde früher nach Zürich, um mit ihm sprechen zu können. “Was habe ich gemacht, dass die Leute plötzlich mit mir über ihr persönliches Leben reden?”, fragt er sich. Wenige Minuten später erzählt er eine Geschichte, die die Antwort auf diese Frage liefern dürfte:
“Ein Mann im Anzug ist jeden Tag an mir vorbei gegangen, hat mir nie ein Heftchen abgekauft aber immer einen guten Morgen gewünscht. Eines Tages ist er stehen geblieben und hat mich gefragt, ob es sich überhaupt lohne, dieses Heftchen zu verkaufen. Ich habe ihm geantwortet, dass es mir nicht wichtig sei, ob sich das lohne. Wichtiger sei, dass ich so vielen Leuten jeden Tag ein Lächeln auf die Lippen zaubere. Da war er ganz baff, nahm sein Portemonnaie hervor und gab mir ein grosses Nötchen als Dankeschön.”
Nicht alle Menschen wollen wie Ewald das ganze Jahr über auf der Strasse leben oder können sich eine Wohnung leisten. Für diese stehen in der Stadt mehrere Notschlafstellen zur Verfügung. Eine davon ist jene der Stadt Zürich an der Rosengartenstrasse. Stadtzürcher können eines der 52 Betten maximal vier Monate lang nutzen, danach sind sie für zwei Monate gesperrt. Für Menschen, die nicht in der Stadt gemeldet sind, steht das Angebot nur eingeschränkt offen. “Die Stadt hat ganz bewusst entschieden, dass sich ihre Angebote an Stadtzürcher richten”, erklärt mir Eveline Schnepf, die Leiterin der Notschlafstelle. Letzten Endes werde die Notschlafstelle schliesslich von den Steuerzahlern bezahlt. “Die Gemeinden haben vor diesem Entscheid ihre Leute einfach nach Zürich geschickt und sich nicht selbst um sie gekümmert.”
Viele der Klienten der Notschlafstelle sind psychisch krank oder drogenabhängig, häufig geht das miteinander einher. Die Notschlafstelle bietet Letzteren separate Zimmer an, in denen der Drogenkonsum akzeptiert ist. “Würden wir den Drogenkonsum verbieten, müssten wir permanent Kontrollgänge auf den WCs machen. Konsumieren würden die Menschen schliesslich trotzdem”, erklärt Eveline Schnepf das niederschwellige Angebot. “Wir geben auch sauberes Spritzenmaterial ab und machen so HIV- und Hepatitis-Prophylaxe.” Das benutzte Spritzenmaterial entsorgen die Klienten in einem gelben Eimer, der in den Konsumentenzimmern steht.
Anders als in vielen anderen Notschlafstellen Zürichs, kostet eine Nacht in jener der Stadt fünf Franken. “Ich halte es für sinnvoll, dass die Leute bewusst versuchen, diese fünf Franken zur Seite zu legen, um irgendwo schlafen zu können”, erklärt mir Eveline Schnepf den symbolischen Beitrag. So kann den Menschen vermittelt werden, dass das Angebot etwas wert ist. Doch: “Es ist nicht so, dass man per se nicht hier schlafen kann, wenn man das Geld nicht zusammenbekommt”, sagt Eveline Schnepf. “Wir haben die Möglichkeit, einen Gutschein auszustellen.”
Auch Ewald hat einige Wochen in einer Notschlafstelle verbracht, bevor er seine Jobs bei Surprise antrat. In jene der Stadt hätten ihn aber “keine hundert Pferde gebracht”, wie er betont. “Als ich nach Zürich gezogen bin, war ihr Standort das Sterbehaus der Zürcher Aids-Projekte.” Dort habe er einen grossen Teil seiner Freunde verloren. “Ich habe mir gesagt: ‘In diese Hütte bringt mich keiner rein’—da konnte es noch so kalt sein.”
Zürich ist als wohlhabende Stadt bekannt, für die Bahnhofstrasse, das Niederdorf und den Paradeplatz. Trotzdem leben in der Stadt Menschen, die sich ohne hohen Lohn durchschlagen. Nicht alle dieser Menschen entsprechen dem Klischee, das viele von Armut haben. Ewald etwa wählt das Leben in der Parallelwelt Armut bewusst als eigenen Gegenentwurf zu einem von Verpflichtungen geprägten Alltag. Angebote wie jene von Suprise und der städtischen Notschlafstelle helfen nicht nur diesen Menschen, ihr Leben zu meistern, sondern auch der Gesellschaft, ihre Mitglieder an den Rändern nicht zu vergessen.
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