In der Schule sei ihr das alles “am Arsch” vorbeigegangen, sagt Sabina: für Jungs schwärmen, tuscheln, kichern, in sie verknallt sein. Und das ist auch heute noch so, erzählt die 20-Jährige auf einer Parkbank im Bremer Bürgerpark. Eine Bank weiter sitzt ein Paar und hält Händchen.
In der 3. Klasse gab es den ersten Jungen, der sich für sie interessiert habe. “Es war natürlich nicht ernst oder dramatisch, aber er hat mir eine Karte geschenkt, in der ‘Ich liebe dich’ stand. Mich hat das nicht beeindruckt.” Auch wenn ihr nach diesem Grundschulverehrer Jungs sagten “Ich liebe dich”, sei es ihr immer noch egal gewesen. Für sie macht romantische Liebe keinen Sinn. Sabina bezeichnet sich selbst als aromantisch – eine emotionale Orientierung, die nichts mit der Sexualität zu tun hat. Dafür ernte sie immer wieder ratlose Blicke. Und auch sie habe bis vor einem Jahr nicht gewusst, was Aromantik ist. Das liegt auch daran, dass Aromantik relativ wenig erforscht ist.
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Menschen, die nicht lieben können
“Dieses Konzept entstand aus queeren, theoretischen und philosophischen Perspektiven”, sagt die Sozialpsychologin Dora Simunovic. Erst vor fünf Jahren habe Simunovic in einem Forum das erste Mal davon gelesen. Queere Theorien sind seit den 90er Jahren Teil der Kulturtheorien mit dem Ziel gängige Vorstellungen von Geschlechtern oder Beziehungsformen zu hinterfragen. In diesem Umfeld taucht das Wort Aromantik seit circa 2013 vermehrt auf.
Mit ihrer aromantischen Orientierung ist Sabina eine Ausnahme. Für viele Menschen gilt romantische Liebe als Schlüssel zum Glück. Wir reproduzieren sie in Romantic Comedys und Liebessongs; suchen sie in Dating-Apps und bei Singlepartys. Aber was ist eigentlich diese Liebe, um die sich unsere Gesellschaft dreht?
Liebe ist kein höherer Geisteszustand, sondern eine Sucht
Je nachdem, ob man Shakespeare, Platon, die Bibel oder Dieter Bohlens Autobiografie liest, wird man unterschiedliche Erklärungen dafür finden, was romantische Liebe ist. Der Duden definiert Liebe als “starke, im Gefühl begründete Zuneigung zu einem anderen Menschen” oder auch als “starke körperliche, geistige, seelische Anziehung, verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein oder Hingabe”. Mittlerweile hat sich auch die Wissenschaft mit dem Thema auseinandergesetzt.
Die Anthropologin Helen Fisher führte 2005 eine neurowissenschaftliche Studie durch, bei der sie 2.500 verliebte Studierende in einen MRT packte, um zu erforschen, wie ihr Gehirn auf romantische Gefühle reagiert. Das Resultat: Liebe ist kein höherer Geisteszustand oder ein Gefühl, sondern eine Sucht nach dem Glückshormon Dopamin. Der Hormonrausch kann ähnliche neurochemische Veränderungen im Gehirn bewirken wie Kokain. Romantische Liebe ist also eine Droge, und Dopamin ihr mächtiges Stimulans.
Oft hört man, dass Liebe ein Grundbedürfnis sei. Die Sozialpsychologin Simunovic sieht das anders: “Liebe ist eine Kombination aus verschiedenen Grundemotionen”, erklärt sie: “Es ist schwer zu sagen, ob jeder Mensch zwingend Liebe braucht. Mit Sicherheit braucht er aber soziale Unterstützung, Akzeptanz und Zuneigung.”
Von gescheiterten Beziehungen zum Outing als aromantisch
Sabina hatte nach ihrem Grundschulverehrer weitere Dates, aber große Gefühle blieben bei jedem aus. Dann lud sie sich eine Dating-App herunter. “Ich hatte die App nur aus einem Grund: Ich habe mich nicht für die Typen interessiert, aber ich war empfänglich für Kommentare. Ich mag das Gefühl, dass mich jemand will, auch wenn das total egoistisch klingt”, sagt Sabina. Sie habe Bestätigung gesucht, aber sich auf keinen Fall auf einen Chat einlassen wollen: “Der Sinn von Flirten erschließt sich mir nicht.”
Irgendwann tauchte zwischen oberflächlichen Komplimenten ein simples “Hi” als Nachricht auf. Sie machte, was sie sonst nicht gemacht hatte: Sie antwortete. Der Typ wurde ihr Freund.
Sabina wohnt etwas außerhalb von Bremen, der Typ auf der anderen Seite der Stadt. Heute ist er nicht mehr ihr Freund. Sie erzählt, dass sie eine Stunde mit dem Bus zu ihm brauchte und nie Vorfreude empfand ihn wiederzusehen. “Ich fand ihn optisch attraktiv, aber habe mir nicht gewünscht, stundenlang auf dem Sofa zu kuscheln.”
“Anfangs war ich aufgeregt, weil er ein komplett Fremder aus einer App war. Da dachte ich: Das ist es jetzt, das große Kribbeln, von dem alle sprechen.” Dann habe sie gemerkt, dass sie Küssen okay findet, Kuscheln aber anstrengend. Und dass das Kribbeln nach den ersten Treffen verschwunden sei. Obwohl die Zeit mit ihm schön gewesen sei, habe sie abends nicht mit ihm einschlafen wollen. Sie habe es ausprobiert, aber statt romantisch sei es nervig gewesen, dass jemand anderes laut neben ihr atmet oder zu viel Körperwärme abstrahlt. Meist sei sie noch in der gleichen Nacht den ganzen Weg zurück gefahren.
Irgendwann seien die drei Worte gefallen, die Sabina nicht erwidern konnte.
“Auf ‘Ich liebe dich’ gibt es, in einer Beziehung, nur die Antwort ‘Ich dich auch’, aber für mich sind das nur Worte ohne Bedeutung”, sagt sie. “Mir hat seine Aufmerksamkeit gefallen. Aber nach ein paar Wochen änderte sich das: Andere Paare machen jeden Tag was und mir war einmal in der Woche schon zu viel.”
Sie trennte sich letztes Jahr von ihm, nach sechs Monaten Beziehung. Während er Tränen vergoss, machte sich bei ihr Gleichgültigkeit breit, erzählt Sabina.
Ein Video verändert Sabinas Weltsicht
Bis zu dieser Trennung wusste sie noch nichts von Aromantik. Aber ihr sei inzwischen aufgefallen, dass sie im Gegensatz zu anderen nicht von einer Zukunft zu zweit träumte. “Ich habe mich oft gefragt, was mit mir nicht stimmt. Aber ich habe nie nach meinen ‘Symptomen’ gegoogelt, weil ich dachte, das geht vorbei.”
In der Pubertät habe sie einmal ein Mädchen geküsst, um herauszufinden, ob sie lesbisch sei. Ist sie nicht. “Bin ich eine Soziopathin?” – nächtelang habe sie über diesem Gedanken wachgelegen. Aber dafür hat sie zu innige Freundschaften. Schließlich habe sie sich gefragt, ob sie asexuell sei. Die Antwort sei: Jein.
Sie hatte noch keinen Sex, sagt Sabina, aber: “Ich finde Knutschen befriedigend.” Sie wisse nicht, ob sie einfach noch nicht bereit sei oder wirklich kein Interesse an Sex habe: “Ich möchte mir jetzt nicht auch noch Asexualität auf die Stirn schreiben.” Dann, letztes Jahr, habe sie ein Video entdeckt, das ihre Weltsicht komplett veränderte.
Darin erklärt eine junge Frau aus Spanien, dass sie “lith-romantisch” sei. Das ist eine Untergruppe der Aromantik.
Sabina konnte sich damit identifizieren: “Ich kann von einem anderen angezogen werden, meist weil ich denjenigen attraktiv finde. Sobald aber mein Interesse erwidert wird, verpufft bei mir alles. Dann wird es mir zu viel.” Kurz nach der Trennung outete Sabina sich vor ihrer Mutter und engen Freunden. Sie habe auch ihrem Exfreund davon erzählt. Sie sah darin die Erklärung für ihr Desinteresse und die letzten beiden gescheiterten Beziehungen: “Er antwortete, dass ich nicht rumspinnen soll. Ich fand diese Selbsterkenntnis auch nicht toll, aber plausibel.” Mittlerweile hat sie sich an ihre emotionale Orientierung gewöhnt. Nicht aber an die Reaktionen darauf.
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“Ach, du weißt nur noch nicht was Liebe ist!”, “Du musst dich mal öffnen!”, “Das ist nur eine Phase!”, “Du hast einfach noch nicht den Richtigen getroffen”. Sätze wie diese bekommt Sabina nach ihrem Outing so ungefragt wie Spam-Emails. Nur im echten Leben gibt es kein Tool, um sie zu filtern. “Ich musste mir schon anhören, dass ich eine Psychopathin sei. Oder Menschen haben mich gefragt, ob ich früher misshandelt wurde oder irgendwas in meiner Kindheit gehörig falsch lief”, sagt sie. Dabei sei sie ein sehr emotionaler Mensch.
In ihrem Unterarm ließ sie sich das Wort “Warrior” eintätowieren, eine Erinnerung an schwere Zeiten, als sie als Kind in ihrem Heimatland Polen zu dritt in einer Einzimmerwohnung lebte – und daran, nach jedem Rückschlag wieder aufzustehen. Wut, Trauer oder Empathie seien bei ihr stark ausgeprägte Gefühle, sagt Sabina. Wenn sie einen Film schaut, in dem jemand stirbt, müsse sie weinen. Wenn jemand ihre Freunde ungerecht behandelt, werde sie wütend. Nur wenn Céline Dion im Radio “My heart will go on” trällert oder ein Seriencharakter dramatisch verlassen wird, spüre sie nichts. “Liebeskummer habe ich nie gehabt, auch nicht nach einer Trennung. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt.”
Ob man ein Leben lang aromantisch empfindet, ist unklar. Der Sexualpädagoge Michael Sztenc sagt, dass viele Menschen, mit denen er arbeitet, sich als beziehungs- oder liebesunfähig bezeichnen: “Für viele ist es aus unterschiedlichen Gründen sinnvoll, ihr Liebesbedürfnis nicht auszuleben: schlechte Erfahrungen, zu viel Risiko oder Angst.” Aromantische Menschen seien noch nicht zu ihm gekommen. Aber Simunovic sagt, sie wolle nicht ausschließen, dass Bindungsangst oder ein Verdrängungsmechanismus Gründe sein können, dass Menschen sich nicht verlieben können.
Sabinas Vater verließ ihre Mutter noch vor ihrer Geburt. Bis heute weiß sie nicht, wer er ist. Ihr sei das egal, sagt sie weil ihre Mutter bereits seit zehn Jahren einen neuen Mann kennen gelernt hat, mit dem sie auch verheiratet ist und zu dem Sabina eine gute Beziehung habe. Sie wisse nicht, warum sie keine romantische Anziehung verspürt, sagt sie. Nur, dass sie sich mit dem Konzept der Aromantik nicht mehr unnormal fühle.
Aromantik ist eine Antithese zu konventionellen Idealvorstellungen von romantischer Liebe
Simunovic glaubt, dass die Entwicklung von emotionalen Konzepten mit unserer Popkultur zusammenhängt: “Ich denke, Aromantik ist eine Antwort auf eine Kultur, in der wir, mehr als jemals zuvor, kollektiv über Romantik fantasieren und sprechen.” Liebe verkauft sich gut, weil die Gesellschaft sie gerne konsumiert. Das stetige Interesse für Formate wie Der Bachelor und Love Island oder Newsticker zu möglichen Promi-Hochzeiten legen das zumindest nahe.
Auch der Sexualpädagoge Sztenc sagt, unsere Gesellschaft bringe Beziehungskonzepte hervor, die die alte Vorstellung des romantischen Liebesideals erweitern und entwickeln. Dazu gehören auch Aromantiker und Aromantikerinnen, die es als angenehm empfinden, gar keine intime Beziehung zu führen oder Modelle wie Freundschaft Plus auszuleben. “Jeder junge Mensch hat das Bedürfnis, die großen Themen wie Liebe und Erotik irgendwie zu meistern. Da braucht es Orientierung, Richtungen, Kategorien, die das Unfassbare greifbar machen”, sagt Sztenc. Lange Zeit habe das Konzept der romantischen Liebe als ultimative These gegolten, nun bilde sich mit der Aromantik eine Antithese. Die Frage nach der Synthese lautet also: Was kommt danach?
Sabina sagt, sie habe den Druck und die Erwartungshaltungen in romantischen Beziehungen nicht ausgehalten: “Ich mag die Regeln in Beziehungen nicht. Man sollte alles nur nach Lust und Laune machen und sein eigenes Leben behalten”. Sie könne die Suche nach dem einen Seelenverwandten nicht verstehen: “Für mich ist das Leben ein Haus, in dem eine romantische Beziehung nur eine Wand ist. Wenn sie weg ist, dann bricht für mich nichts ein. Für andere Leute ist eine Beziehung gleich das ganze Haus.”
Die Sozialpsychologin Simunovic sagt, obwohl Aromantik erst noch erforscht werden müsse, sei es nützlich, wenn sich Leute damit identifizieren. “Der Zeitgeist lässt zu, dass man sich als Mitglied einer Minderheit Gehör verschafft und dadurch die Forschung antreibt, mehr Antworten auf die eigene Orientierung bekommt.”
Auch Sabina sagt ein Jahr nach ihrem Outing, sie werde ja nicht ewig allein sein, “ich habe Freunde”. Dann hält sie kurz inne und überlegt: “Obwohl, auch die werden irgendwann ihre Partner finden und eigene Familien gründen.” Sie wirkt für einen Moment traurig und verstummt, bis sie sagt, was ihr eigentlicher Wunsch ist: “Vielleicht finde ich jemanden, der auch aromantisch ist und sich eine unkonventionelle Beziehung mit mir vorstellen kann, in der man vielleicht nicht mal zusammen wohnt.”
Wenn Sabina an die Zukunft denkt, sehe sie keinen imaginären Partner an ihrer Seite. “Ich finde es nicht schlimm, alleine zu sein, ich habe mich mein ganzes Leben alleine gesehen. Selbst wenn ich mal Mama werden sollte, sehe ich mich allein ohne Partner.” Nur manchmal, da nage ein bedrückendes Gefühl an ihr, dass alle anderen etwas haben, das sie als Aromantikerin nie haben werde.
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