Seit gut einem Jahr haben viele Studierende keinen Seminarraum mehr von innen gesehen. Wenn dann im Lockdown auch noch die Bibliotheken dicht sind, wird das Lernen für viele zur Tortur. Innerhalb der eigenen vier Wände die Motivation fürs Studium zu finden, kann verdammt hart sein – vor allem, wenn deine Behausung eigentlich nie als Lernort gedacht war. Vielen bleibt zum Lernen nur das Sofa, das Bett und, wenn sie Glück haben, der Küchentisch. In Städten mit notorisch hohen Mieten ist es besonders schlimm. In Paris zum Beispiel.
In winzigen Wohnungen eingepfercht leidet die Psyche. Im Januar dieses Jahres veröffentlichte das internationale Marktforschungsunternehmen Ipsos das Ergebnis einer repräsentativen Befragung unter Studierenden in Frankreich. Zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen gaben an, dass sich die Pandemie negativ auf ihre Psyche auswirke. 22 Prozent gaben an, Suizidgedanken zu haben. Die Befragung zeigte auch, dass 22- bis 24-Jährige, die nicht mehr bei ihren Eltern leben, einem besonderen Risiko für psychische Probleme ausgesetzt sind. 47 Prozent von ihnen gaben an, unter starken Angststörungen zu leiden. Die Lage der Studierenden dürfte auch in anderen Ländern nicht besser sein, wenn auch für Deutschland, Österreich oder die Schweiz noch keine konkreten Zahlen vorliegen.
Videos by VICE
Wir haben ein paar Studierende, die in Paris in winzigen Wohnungen leben, gefragt, wie es ihnen geht.
Zoey Ginsberg, 23, und Alexandre Periano, 26, leben und studieren auf 20 Quadratmetern
Zoey und Alexandre sind seit fünf Jahren zusammen. Seit einem knappen Jahr leben sie zusammen in einer 20-Quadratmeter-Wohnung in der Pariser Innenstadt. Als die Pandemie ausbrach, studierten beide in Los Angeles. Während des ersten Lockdowns zogen sie zurück nach Frankreich.
Ihre Wohnung, die 900 Euro pro Monat kostet, hatten sie wegen ihrer zentralen Lage gewählt. Nach ein paar Monaten kamen aber immer mehr Probleme zum Vorschein. In der Wohnung gibt es Schimmel und sie ist sehr dunkel, was vor allem das Lesen erschwert. “Meine Augen sind so müde geworden, dass ich mir irgendwann eine Blaufilterbrille für den Computer gekauft habe” sagt Zoey.
Wenn sie Videocalls haben, teilen sie sich auf Küche und Schlafzimmer auf. Ansonsten lernen beide mit Kopfhörern nebeneinander im Bett. Alexandre tun davon zwar Rücken und Knie weh, aber er ist froh, während der Pandemie nicht alleine zu leben.
Zoey fühlte sich während des zweiten Lockdowns allerdings klaustrophobisch. Der dauerte in Frankreich von Ende Oktober bis Mitte Dezember. “Ich bekam Panik und wollte sofort abhauen”, sagt sie. “Ich wollte nicht hier eingesperrt sein.” Am Ende blieb sie doch.
“Es ist das erste Mal, dass wir zusammenleben”, sagt Zoey, “und es ist schwer, die ganze Zeit, aufeinanderzuhocken.” Das Pärchen hat sich inzwischen entschieden, aus der Stadt in einen günstigeren Vorort zu ziehen. “Paris ist zu teuer und zu klein”, sagt Zoey. “Alles ist zu. Es gibt keinen Grund, noch hier zu bleiben.”
Xavier Ouzounian, 24, lebt und studiert auf 10 Quadratmetern
Xavier macht einen Master in Cultural Engineering und Management. Auf dem Papier ist seine Wohnung zehn Quadratmeter groß, der tatsächliche Wohnraum ist aber noch viel kleiner. “Mein Flur hat schon mindestens zwei Quadratmeter”, sagt er, “und mein Badezimmer ist recht groß. Mein Schlafzimmer ist also wortwörtlich so groß wie meine Matratze.” Selbst die lässt sich nicht ausrollen, ohne dass sie sie an die Wände stößt. Um ausgestreckt schlafen zu können, muss sich Xavier diagonal hinlegen.
Für die Miniwohnung zahlt er 500 Euro im Monat. Was den Platz angeht, ist sie ein leichter Abstieg von der 30-Quadratmeter-Wohnung, in der er davor gewohnt hat – blöderweise nur als Untermieter. Vergangenen September musste Xavier dort ausziehen. “Der Tapetenwechsel war schön – insbesondere während des Lockdowns”, sagt er. “Aber jetzt ist mein Bett gleichzeitig mein Büro, mein Esszimmer und mein Ankleidezimmer.”
Anfang 2020 besuchte Xavier noch Uni-Veranstaltungen mit dem Rest seines Jahrgangs, aber nach anderthalb Monaten wurde alles ins Internet verlagert. “Es war nicht genug Zeit, um Freundschaften zu schließen, aber immerhin war es etwas”, sagt er über seine kurze Zeit an der Uni. Seine Kommilitonen versuchen, per Zoom miteinander in Kontakt zu bleiben und mit kleinen Treffen beieinander zu Hause.
Manchmal muss Xavier von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts an seinem Rechner arbeiten. Davon tun sein Rücken und seine Beine weh, am meisten leidet aber seine psychische Gesundheit. “Ich habe halluziniert, wie ich aus meinem Fenster im fünften Stock springe”, sagt Xavier. Momentan experimentiert er mit CBD-Öl, um seine “Emotionen zu stabilisieren und etwas Abstand von der Situation zu kriegen”.
“Ich versuche, meine Wohnung mehr wie einen Partner und weniger als Gefängniszelle zu betrachten”, sagt er. “Aber das funktioniert nur momentan. Ich habe Angst, dass ich mich irgendwann wie ein eingesperrter Löwe fühle, weil ich so viel Energie habe.” Auch seine Kommilitonen geben sich große Mühe, am Ball zu bleiben, aber viele haben Probleme, einen Praktikumsplatz zu finden. Der ist für das Studium allerdings zwingend notwendig.
Trotz der Coronarisiken wünscht sich Xavier, bald wieder persönlich Seminare besuchen zu können. “Das ist unser einziger Ort zum Socialising”, sagt er. “Das ist ein elementarer Teil des Studiums, mit anderen reden und Ideen auszutauschen.”
Lénora Kessab, 25, lebt und studiert auf 12 Quadratmetern
Lénora macht ein Masterstudium in internationalem Recht. Seit zwei Jahren lebt sie in einer zwölf Quadratmeter kleinen Einzimmerwohnung. Dafür zahlt sie 540 Euro im Monat. Vor der Pandemie hat sie am liebsten in der Bibliothek gearbeitet, umgeben von anderen Studierenden. Seit einem Jahr bleibt ihr nur ihr Sofa, Platz für einen Tisch hat sie in der Wohnung nicht.
“Seit Beginn des Semesters machen mir die Seminare immer weniger Spaß”, sagt sie. “Ich hätte fast hingeschmissen.” Wenn Lénora jetzt irgendetwas im Seminar oder einer Vorlesung nicht versteht, driftet sie mit ihren Gedanken schnell ab oder schaltet einfach den Rechner aus.
Während des Lockdowns hat Lénora ihre Einzimmerwohnung hassen gelernt. Die nicht mehr vorhandene räumliche Trennung von Arbeit und Freizeit führt dazu, dass sie sich zunehmend orientierungslos fühlt. “Für Studierende ist es, als würde der Lockdown niemals enden”, sagt sie.
Folge VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.
Hast du schon einmal an Suizid gedacht oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? In Deutschland erhältst du Hilfe unter der Nummer 0800 111 0 111 oder im Chat. Trauernde Angehörige finden bei Organisationen wie Agus Hilfe. Menschen aus der Schweiz erhalten Hilfe unter der Nummer 143 oder im Seelsorgechat. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Auch hier gibt es einen Seelsorgechat. Trauernde Angehörige finden in Österreich bei Organisationen wie SUPRA Hilfe.