Dieser Text erschien zuerst in der ‘The Hello Switzerland Issue’ – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.
Ich treffe den Kriegsfotografen Dominic Nahr an einem sonnigen Morgen im Garten eines Cafés nahe der Zürcher Bäckeranlage. Der 33-Jährige hat vor ein paar Tagen seine Ausstellung “Blind Spots” im Fotomuseum Winterthur eröffnet. Er zeigt darin die Geschichten von Menschen aus den Krisengebieten Südsudan, Somalia, Mali und dem Kongo. Es sind Staaten, die den Bedürfnissen ihrer Bevölkerungen nach Sicherheit und Grundversorgung nicht gerecht werden. Schwelende Konflikte, für deren menschliche Tragödien Dominic Nahr mehr Bewusstsein schaffen will. “Während der letzten Hungersnot in Somalia gab es 250.000 Tote, ich fotografierte Kinder, die vor meinen Augen starben.” Er fügt an: “Ich wundere mich, warum im Westen kaum darüber berichtet wird. Diese Geschichte droht sich jetzt gerade im Südsudan zu wiederholen.”
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Dominics Interesse für das Leben in ehemaligen Kolonien ist auch ein persönliches: Der gebürtige Appenzeller ist in Hongkong aufgewachsen – Grossbritanniens letztem Überseebesitz, den das Empire erst 1997 aufgab. Vieles, was er kannte, existiert dort nicht mehr: “Alles, was Englisch war, wurde unkenntlich gemacht. Häuser wurden abgerissen und Strassen umbenannt. Du merkst in Hongkong nichts mehr von den Briten. In Kenia werden die alten Strukturen noch genutzt.” Anfang 20 unternahm Dominic erste Schritte in Richtung Pressefotografie. Er machte ein Praktikum bei einer Lokalzeitung. Darauf folgte ein Studium in Toronto und später erste Reisen nach Afrika.
Zum ersten Mal begegnet bin ich Dominics Bildern vor mehr als einem Jahr an der Ausstellung Photo 16. Eines seiner Fotos, die er damals an einem Vortrag zeigte, hat sich tief in meinen Kopf eingebrannt: Es zeigt einen dreckverkrusteten Toten, der mit dem Gesicht nach unten in einer Öllache treibt. Auf ihrer dunklen Oberfläche spiegeln sich Wolken. Es ist die Surrealität und Unheimlichkeit des Bildes, die mich fasziniert, es scheint, als trete der Mann gerade in den Himmel ein, als werde er von ihm eingesogen.
Dominic schoss das Foto 2012 im Sudan. “Das Bild bringt den Konflikt auf den Punkt”, sagt er. Er erzählt vom Tag, an dem er auf den Auslöser drückte: “Ich begleitete einen Vorstoss der Armee. Es war ein Schlachtfeld, crazy. Die Soldaten brauchten unser Fahrzeug, um geplünderte Beute aufzuladen. Gegen Abend kamen wir an dieser Ölförderanlage vorbei, bei der die Gegner Deckung gesucht hatten. Öl spritzte, in einer Lache lag der toter Soldat.” Es ist nicht das krasseste Foto, das er an diesem Tag schoss. Mehr als 20 Tote hatte er fotografiert. Darunter Brandleichen. Verschickt hatte er aber nur das eine an die Redaktion des Time Magazine. “Die anderen Bilder waren zu brutal.”
Dominic lebt in Nairobi, die letzten neun Jahre hat er dort, in Ägypten, Japan und dem Irak gewohnt. Er plant bald in die Schweiz zu ziehen, seine Terra incognita, in der er noch nie länger als ein paar Wochen am Stück verbracht hat, die er nur aus den Sommerferienbesuchen bei seiner Grossmutter im Appenzell kennt. “Ich möchte entdecken, wie sich das Leben im Land anfühlt, von dem ich den Pass habe”, erklärt er und nimmt dann einen schnellen Schluck von seinem schwarzen Kaffee. Es graut ihm aber gleichzeitig vor der hiesigen Liebe zur Bürokratie. Er habe sich noch nie mit Dingen wie der AHV, Steuern oder dem Kreisbüro auseinandersetzen müssen. “Ich bin es gewohnt, im Zickzack vorwärts zu kommen. In Nairobi musst du immer eine indirekte Lösung finden. In der Schweiz ist alles ziemlich gerade.” Er erzählt mir eine Anekdote von seiner Wohnungssuche in Zürich: “Ich bin im Januar einfach mal spontan ein günstiges Apartment im Kreis 4 anschauen gegangen. 40 Minuten vor dem Termin bin ich angekommen und dann warteten schon 200 Leute vor mir in der Schlange. I was like.. ‚Hä?’. Es ist hier nicht easy für mich”, sagt er in seinem von Anglizismen gespickten Schweizerdeutsch.
Ein weiterer Grund für Dominics Umzugsplan ist, dass er besser verstehen will, was er an seinen Geschichten ändern kann, damit sie mehr Menschen erreichen. “Ich weiss von Nairobi aus nicht, wer meine Bilder sieht und wie sie ankommen, was sie auslösen.” Weniger in Afrika fotografieren, will er wegen seines Wegzugs nicht. Es sei nicht so, dass er den Tag permanent hinter der Kamera verbringe und vor Ort wäre: “Es braucht Wochen an Planung, um in ein Krisengebiet einreisen zu können. Man wird von den Behörden durchleuchtet und muss dann noch ein Visa beantragen.”
Die Sonne brennt auf unsere Stirn, wir schwitzen. Dominic schlägt vor, ins Innere des Cafés zu wechseln. Es fühlt sich falsch an, nun von Jack Johnson beschallt zu werden, der davon singt, dass er immer warten muss, während mir Dominic aus seinem ungewöhnlichen Leben erzählt. Ich frage ihn, ob er in gewissen Situationen nicht lieber aktiv helfen möchte, statt zu fotografieren. Seine Meinung ist klar: “Wenn du in ein Krisengebiet fliegst, musst du dir bewusst sein, was dein Job ist. Mit einer ‚Ich-weiss-nicht-ganz-ich-such-mich-selber’-Attitüde hinzugehen, ist fatal. Du musst wissen, was du machst: Ich bin Fotograf und dokumentiere.”
Dominic schiesst Fotos gegen das Vergessen. Heute gegen das der Öffentlichkeit, früher gegen sein Persönliches: “Mein Gedächtnis ist so schlecht, dass ich mich an keine Ferien mit meinen Eltern erinnere. Meine Mutter hat mir gesagt, ich solle fotografieren, damit ich nichts mehr vergesse. So habe ich angefangen.”
Wir kommen noch einmal auf seine Ausstellung zu sprechen. Ich frage, ob sie nicht Gefahr läuft, zu einem sinnentleerten Kunst-Happening zu verkommen. Was, wenn diamantbesetzte Cüplischlürfer sich “einen Dominic Nahr” ins Wohnzimmer hängen wollen, weil er so gut zum Sofa passt? Er denkt kurz nach und antwortet: “Es fällt mir generell nicht leicht, meine Bilder eingerahmt und so gross zu sehen. Gewalt und Elend werden immer ästhetisiert, wenn sie in einer Galerie ausgestellt werden. Ich glaube aber, so wie wir die Ausstellung aufgezogen haben, gibt sie den Besuchern viel mehr.” Die Ausstellung sei so kuratiert, dass eine starke Auseinandersetzung mit der Geschichte hinter den Fotos einfach sei. “Es sind nicht nur eingerahmte Bilder mit einer Beschreibung. Wir haben eine Videoinstallation, die sich dem Clash zwischen der Kunstwelt und des Fotojournalismus widmet. Auf dem einen Bildschirm siehst du den Kurator, wie er auf einer schönen weissen Wand meine Fotos arrangiert und auf dem anderen siehst du mich, wie ich in einer gefährlichen Situation durch Afrika renne.” Er fährt fort: “Wir wollen, dass die Besucher sich Fragen stellen wie: ‚Darf ein schreckliches Bild schön sein?’”
Was sein nächstes grosses Projekt werden soll, weiss er noch nicht. Es werde immer schwieriger, in den Südsudan zu reisen. Sicher ist für ihn, dass er in der Schweiz Fotos machen will. Er gehe bald ins Onsernonetal im Tessin und fotografiere einen Landarzt, den er zufällig getroffen habe. “Mein Grossvater war auch ein Landarzt, darum interessiert mich das. Ich will solche Geschichten machen, um die Schweiz zu entdecken. Sie ist eine fremde Welt für mich. Es reizt mich, visuell herausfinden, wie hier alles funktioniert.”
Auf Dauer nur bedrückende Geschichten zu fotografieren kann und will Dominic nicht. Im Irak habe er gemerkt, dass es ihm zusetzt, über Monate keine einzige positive Story zu machen. “Du musst die Balance finden. Die ständige Negativität macht sonst etwas mit dir. Ich mache schöne Geschichten zum Ausgleich, um mich zu stärken. Sonst siehst du nur noch das Schlechte in der Welt. Man muss eine spezielle Person sein, um den Job zu machen. Und um starke Bilder zu schiessen, brauchst du ab und zu einen Perspektivenwechsel, neue Reize.”
Zum Abschluss frage ich, wie er es schafft, eine so intime Beziehung zu den Menschen aufzubauen, die er fotografiert. Er sieht den Grund in seiner Vergangenheit: “Ich war immer der Aussenseiter, weil ich im Ausland gelebt habe. Besonders Hongkong hat mich trainiert. Ich musste mich immer auf neue Leute einstellen und mit ihnen klarkommen. Ich treffe im Jahr Tausende von Leuten. Manchmal sind es zwanzig neue Menschen pro Tag.”
Die Kaffeetassen sind leer getrunken, wir verabschieden uns mit einem Händedruck. Er macht sich zu Fuss auf den Weg. So bewegt er sich am liebsten fort. Die nächste Geschichte könnte um die Ecke warten.