Auferstanden aus Runen—Einar „Kvitrafn“ Selvik von Wardruna im Interview

Einar Selvik nannte sich mal Kvitrafn, als er noch Drummer der berüchtigten norwegischen Black-Metal-Band Gorgoroth war, doch das mit den Blastbeats und dem Corpsepaint ist für ihn vorbei. In den letzten 15 Jahren hat er als Multiinstrumentalist und Sänger mit seinem Projekt Wardruna internationalen Erfolg erreicht. Nebenbei komponiert er für die TV-Serie Vikings. Wardrunas Album-Trilogie Runaljod, deren letztes Kapitel Ragnarok Ende Oktober erschienen ist, basiert auf den Runen des älteren Futhark. Alte nordische Instrumente aus eigener Herstellung, aber auch Wasser, Bäume und ein Bison kommen darin zum Einsatz. Selvik verwebt Altes und Neues zu einzigartig stimmigem Pagan-Ambient-Folk, der mit spiritueller Naturnähe Herzen berührt, statt kriegerische Wikingerklischees aufzuwärmen. Wenn er nicht für Wardruna auf Birken trommelt, Leiersaiten zupft und altnordische Dichtung chantet, arbeitet er mit Ivar Bjørnson (Enslaved) an der Folk-Metal-Band Skuggsjá, dem gemeinsamen Label By Norse, das mit Noisey eine Konzertreihe präsentiert, oder er besucht historische Museen, wie ich nach einer zufälligen Begegnung weiß. Nach einem Solo-Konzert und vor einer ausverkauften Wardruna-Show in Stockholm (bei der im Publikum Tränen flossen) habe ich mich mit Einar getroffen und den vielschichtigen Künstler besser kennengelernt.

Ragnarok hat Platz 1 der Billboard-Charts für World Music erreicht. Wie fühlt sich das an?
Ja, in den USA und Kanada. Vorgestern habe ich gehört, dass wir in den USA immer noch auf 10 oder 11 sind. [Lacht] Es ist etwas absurd. Anfangs habe ich kaum reagiert, aber alle um mich herum und die Medien haben sehr stark reagiert. Da ging mir dann auf, dass es vielleicht doch ganz cool ist. Ich mache mir nichts aus sowas, aber es ist schon eine Bestätigung vom Publikum, dass man etwas richtig macht.

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Nein, du wirkst nicht, als wärst du auf Charterfolg aus.
Ich mache das hier, weil ich es muss und will. Es gibt keine Trennlinie zwischen mir und meiner Kunst. Das kann eine Herausforderung sein. Wardruna ist mit mir gewachsen und es gibt ständig neue Dinge, mit denen ich irgendwie umgehen muss.

Welche Dinge zum Beispiel?
Alles von Musik über riesige TV-Produktionen bis hin zu Performances in verschiedenen Umgebungen. Diesen Sommer habe ich an der Oxford University einen Vortrag vor den weltweit führenden Experten für altnordische Dichtung und Literatur gehalten. Ich habe auch an anderen Orten Ähnliches gemacht. So etwas hält mich auf Trab. Ich wiederhole mich nicht gern. Das ist einer der Gründe, warum ich die ganze Konzertsache nicht übertreiben will. Es muss von Herzen kommen. Ich will nicht dieses Verhältnis zu meiner Kunst haben, wo sie wie eine Maschine ist. Andererseits habe ich keine romantische Vorstellung von kreativer Arbeit. Es ist selten, dass du auf einem Stein im Wald sitzt und die Inspiration zuschlägt. Oft braucht es Disziplin. Mal kannst du einen Song in ein paar Minuten machen, mal kann es Jahre dauern.

An dem Song „Runaljod” habt ihr lange gearbeitet, oder?
Ja, der ist schon lange dabei. Er war für ein Auftragskonzert im Schloss Chillon in Veytaux in der Schweiz, wo wir Instrumente unserer Tradition mit Schweizer Alphörnern kombiniert haben. Wir haben ihn in veränderter Form weiter live gespielt, weil er uns großen Spaß gemacht hat. Es hat also Sinn gemacht, die Trilogie damit abzurunden.

Er gehört zu meinen Favoriten, weil er so viel Energie hat.
Jonathan Selzer von Metal Hammer hat in einer Konzert-Review geschrieben, der Song beweist, dass die Wikinger das Twerken erfunden haben. [Lacht] Er ist groovy.

Wardrunas erstes Konzert war im Wikingerschiffhaus in Oslo, stimmt’s? Und es war das erste Konzert dort überhaupt.
Ja, es war so eine große Ehre, das machen zu dürfen. In gewisser Weise war es, als würden wir ein Kind zur Welt bringen. Acht Jahre Arbeit, die in einem Schlag freigesetzt wird. Es war ein stolzer Moment. [Ich saß] zwei Meter von den Leuten entfernt und schaute ihnen direkt in die Augen. So vielen kamen sofort die Tränen, als wir anfingen zu spielen. Es war so eine ergreifende Erfahrung.

Hast du irgendwann realisiert: „OK, ich muss anscheinend der totale Multiinstrumentalist werden”?
Das wurde schon sehr früh… [Lacht] …deutlich. Ich habe immer mehr Instrumente entdeckt, die ich einfach in meinem Projekt haben musste, die meiner Vision entsprachen. Also musste ich jemanden finden, der sie baut, oder sie selbst bauen und lernen, sie zu spielen. Eine Sache war für mich dabei klar: Ich wollte keine Musik mit diesen Instrumenten hören, bevor ich sie nicht selbst gespielt hatte. Ich wollte sie wie ein Kind angehen und sie nach ihrem eigenen Wesen interpretieren. Die sieben, acht Jahre, die das erste Album in Anspruch genommen hat, drehten sich also viel darum, die Zutaten zu finden und herauszufinden, wie sie funktionieren.

Gab es vor Wardruna einen Punkt, an dem dir aufging, dass du mit Black Metal aufhören und von vorn anfangen musst?
Ich hatte [vor Gorgoroth] eine Zeit lang mit der Musik aufgehört, weil ich die Motivation verloren hatte. Aber auch wenn ich aus dem Metal und Black Metal komme, war Gorgoroth für mich Arbeit. Gorgoroth war mir auf persönlicher Ebene völlig gleichgültig. Das Bedürfnis, etwas zu machen, das mehr meiner Leidenschaft entspricht, wurde also schon früh stärker. Aber es war natürlich ein totaler Neuanfang.

Gorgoroth als Job—das ist eine ziemliche Rolle, die du gespielt hast, so in Corpsepaint ältere Damen auf der Straße erschrecken …
[Lacht] Ja. Es ist sehr empfehlenswert. Ich finde, alle sollten diese Seite ausleben. Es stärkt einen. Bei Kunst geht es meiner Meinung nach darum, eins mit dem zu werden, was man ausdrückt, und auch wenn man vieles über Gorgoroth sagen kann, die Intentionen dahinter waren nie negativ. Es ging immer darum, Fragen zu stellen und die beste Version deiner selbst zu werden—auch wenn sich das in dieser düsteren, nihilistischen Welt abspielt. Aber das ist sie gar nicht wirklich. Und natürlich war und ist Kristian oder Gaahl ein sehr, sehr guter Freund von mir. Ich schätze, das hat mich auch die Band so lange ertragen lassen. Ich war fast fünf Jahre dabei. Das ist schon fast Rekord bei Gorgoroth. [Lacht] Bei Gorgoroth zu spielen, war in vieler Hinsicht Stress. Es ist ein sehr turbulentes Projekt mit starken Persönlichkeiten, die in verschiedene Richtungen wollen.

Kvitrafn während seiner Zeit bei Gorgoroth (2002) | Foto: Peter Beste (peterbeste.com)

Das berüchtigte Gorgoroth-Konzert in Krakau Wie war das damals für dich?
Es war Kunst. Hätten wir es in Deutschland oder Norwegen gemacht, hätte es niemanden interessiert. Wir haben nicht damit gerechnet, dass Polen so katholisch ist! [Lacht] Aber ganz ehrlich, das war einfach Bullshit. Da dachte jemand, wir sind reich und lassen uns gut verklagen. In der Mittagspause unseres Gerichtstermins kam der Anwalt, der für den polnischen Staat dort war, zu uns, schüttelte den Kopf und meinte: „Das ist das Idiotischste, was ich je gemacht habe.” Sie wollten uns Blasphemie vorwerfen, aber wir hatten nicht vorgehabt, religiöse Gefühle zu verletzen, und konnten die Symbolik, die wir gewählt hatten, leicht erklären. Es wurde zum Vorteil für Gorgoroth. Ich habe gehört, der damalige Papst hat es kommentiert, und das ist schon eine coole Sache für den Lebenslauf.

Du arbeitest mit Vikings-Komponist Trevor Morris auf Distanz, aus deinem Studio in Norwegen. Bringt das Vorteile?
Ja, ich habe gern meine Ruhe. Ich erschaffe nicht gern etwas, während mir Leute über die Schulter schauen. Mal kriege ich ein leeres Blatt und er arbeitet an meinem Zeug, mal arbeite ich an seinem Zeug. Die zweite und dritte Staffel war viel Filmmusik-Arbeit, in der vierten und fünften nur ein bisschen davon und dafür mehr direkte Produktion. Wenn sie zum Beispiel ein Lied für ein Ritual, ein Fest, Bestattungen, Schlachtrufe, Schlaflieder und solche Sachen brauchen. Es macht Spaß!

Du bist bei Wardruna an jedem Produktionsschritt beteiligt—Instrumente, Gesang, Mixing, Mastering, etc. Aber live brauchst du Ersatz für die vielen Einars des Studios.
Ja, ich mag die Do-it-yourself-Mentalität und bin auch ein ziemlicher Kontrollfreak, aber ich kann nicht alles machen.

Du bist keine Hindu-Gottheit.
Nein—das wär’s. Aber viele der Leute sind schon seit dem ersten Konzert bei uns dabei. Wir sind eine Art Familie geworden. Wir sind schon immer mit so fantastischen Musikern gesegnet. Es ist eine wirklich guter Haufen Menschen, die ich wirklich liebe. Und es hat in all den Jahren nie Probleme gegeben. Das ist schon erstaunlich, wenn man Gorgoroth gewohnt war. [Lacht]

Du hast viel in der Natur und mit der Natur aufgenommen. Brauchst du das nicht nur für dein Konzept, sondern auch für deine Kreativität?
Ja, das kann so sein. Natur ist definitiv der Kern dessen, worum es bei Wardruna geht. Das menschliche Wesen und unser Verhältnis zur Natur. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass das Fehlen von Natur dich ihr näher bringen kann. Es ist in gewisser Weise inspirierend, sich nach etwas zu sehnen, und dann fühlt man sich der Sache leichter nah.

Für „Naudir” warst du lange in der Kälte. Wie war diese Erfahrung?
„Naud” steht für Not. Du unterliegst entweder dem Tod oder du überlebst. Und du bist nie so stark wie in deiner größten Not. Das Ziel war, dieses Gefühl irgendwie einzufangen, also habe ich zweieinhalb Tage gefastet und bin in die Berge gegangen. Ich hatte kaum Kleidung an und es schneite seitwärts. Es war keine besonders schöne Erfahrung. Ich hatte Leute, die auf Abstand folgten und aufpassten. Als es richtig schlimm wurde und ich das Gefühl hatte, aufgeben zu wollen, habe ich Teile des Songs eingesungen. Ich glaube daran, dass Mehrwert nie verschwendet ist. Ob man es bewusst oder unterbewusst wahrnimmt, es ist da.

Hattest du andere einschneidende Erlebnisse mit deinem Method-Recording?
Ich schätze, das Exotischste [auf Ragnarok] war, als wir für den Song „Isa” auf Eis gespielt haben. Wir haben tausend Jahre altes Eis aus einem Gletscher gesamplet. Wenn es sehr langsam friert, wird es sehr dicht und kriegt einen unglaublichen Klang. Es ist ziemlich cool, eine Idee zu verwirklichen, die ich vor 15 Jahren hatte, und dann passt sie tatsächlich perfekt.

Die Autorin mit Einar Selvik

Auf Ragnarok hast du auch mit Kindern gearbeitet. Auch ein lang gehegter Traum?
Absolut. Das war schon viele Jahre geplant und gehört zum Konzept. In dem Song „Odal”singen meine eigenen beiden Kinder. Bei „Odal” geht es um Familie, Erbe, vererbtes Land, also machte es einfach Sinn, meine Familie dafür zu verwenden. Und bei „Wunjo” geht es um Freude, um reine Emotionen. Ich finde, keine Menschen auf diesem Planeten können das besser ausdrücken als Kinder.

Eine Zeile aus „Odal” sagt viel über deine Haltung zu Tradition: „Ta ikkje meir enn du orkar å bere”—Nimm nicht mehr, als du tragen kannst.
Ja, Erbe oder Familie kann ein Segen sein, aber auch eine Last. Wir erben nicht nur das Gute, sondern auch das Schmerzhafte, die Schande … Das Konzept „Erbe” wird oft glorifiziert, aber es ist viel komplexer. Deine Wurzeln sind nicht wichtig, nur weil sie deine Wurzeln sind. Leere Symbole, die heute nichts mehr bedeuten, sind Zeit- und Energieverschwendung.

Traditions- und Geschichtsbegeisterte haben oft ein romantisches Bild der Vergangenheit. Bist du mit der „heidnischen Szene” da oft etwas uneins?
Ja, aber ich denke, oft ist das einfach Unwissenheit, oder vielleicht haben sie ein Bedürfnis zu romantisieren. Und das ist völlig OK. Aber ich bin bei sowas ziemlich kalt, weil ich mir nichts vormachen will oder Leuten eine Wolke zum Ausruhen bieten. In der Komfortzone gibt es kein Wachstum. Wir leben hier in dieser Gesellschaft, ob es uns gefällt oder nicht. Mir geht es also mehr darum, hier und jetzt Sinn zu finden.

Gestern hast du über die Lebensweise unserer [altnordischen] Vorfahren gesprochen und gesagt, wir müssen lernen, unsere Feinde zu ehren. Darauf gab es lauten Applaus. Manchen, die mehr auf dieses Machowikinger-Ding stehen, gefällt das vielleicht weniger.
Ja, sie vergessen wichtige Schlüsselelemente des damaligen Ehrenkodex. Leuten Schande bringen, selbst seinen Feinden, war etwas sehr Schlimmes. Die Schande einer Person hat auch immer alle betroffen, die mit ihr in Verbindung standen. Selbst seine Feinde zu ehren war also äußerst wichtig. Und wir brauchen diese Dinge angesichts der heutigen Herausforderungen. Die Grundlage der monotheistischen, universellen Religionen wie Christentum und Islam ist, dass dein Glaube besser ist als der Glaube der Anderen. Dabei ist es einfach nur ein Weg, Menschen zu kontrollieren. Deswegen wollten die Kaiser und Könige das ja verbreiten, wie in Norwegen. Es hatte eigentlich nichts mit Religion zu tun. Es ging darum, Macht zu zentralisieren und die Handelswege zu sichern.

Ich finde es schlimm, dass Leute Runen und altnordische Traditionen für völkischen Nazi-Scheiß übernehmen.
Ja, sehr. Ich habe mich in diesem Punkt von Anfang an sehr klar ausgedrückt. Aber ich kann nicht kontrollieren, wem meine Musik gefällt. Und das will ich auch nicht. Ich wässere den Baum, der wachsen soll; das ist so etwas wie mein Mantra. Ich säe lieber Samen und lasse sie wachsen, und dieses kleine Unkraut geht dann im Schatten der neuen Triebe ein. Es ist sehr bequem, weit vom Ursprungsort einer Tradition entfernt zu leben, sie für sich zu beanspruchen und sich auf Ethnien statt auf die Natur zu konzentrieren. Dabei hat die Natur die Kultur geformt. Ich würde viel lieber ein blót mit einer spanischen Person machen, die es kapiert, als mit einer norwegischen, die es nicht kapiert. Wenn du dumm bist, bist du dumm. Es ist unwichtig, ob du von irgendeinem Wikingerkönig abstammst. Ist mir scheißegal. So funktioniert die Welt nicht.

Dein Solo-Auftritt gestern war schon fast halb Lehrstunde, halb Konzert. Ist Lehren eine Leidenschaft für dich?
Ja, aber nicht wie ein Prediger—sehr undogmatisch. Und ich sage immer, dass es meine Meinung ist. Aber, ja, ich habe auch 15 Jahre lang mit Kindern gearbeitet … Und ich liebe es, über diese Dinge zu reden! Selbst in Norwegen haben wir so eine schlechte Bildung über unsere Tradition. Die Religion wird so präsentiert, dass man sie unmöglich ernst nehmen kann. Sie vereinfachen alles, weil sie es nicht verstehen. Wir müssen das korrigieren und es verständlich machen. Diese Konzepte sind nämlich für Menschen gemacht, nicht für Heilige, die ihre Menschlichkeit völlig unterdrücken, wie in den universellen Religionen, die zum Kontrolle ausüben gedacht sind.

Schon Zukunftspläne für Wardruna?
Ja, viele. Ich habe mich so viele Jahre auf Runaljod konzentriert, aber jetzt komme ich auf meine alten Ideen zurück. Vielleicht versuche ich, etwas mehr Akustisches und Reduziertes zu machen. Das Format finde ich sehr spannend.

Werdet ihr dann auch häufiger nach Deutschland kommen?
Definitiv. Ich weiß, dass viele Leute in Deutschland sich wünschen, dass wir kommen, und ich will das anpacken.

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