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Scheiß aufs Berghain

Ist das Kunst oder ein Penis? Mein Abend beim Internationalen Performance-Festival

Nackte Menschen mit abstrusen Vorrichtungen am Körper, die von Fremden angestarrt werden? Moderne Kunst ist super.

Es war Wochenende, genauer gesagt Samstag, und ich habe mir diesmal vorgenommen, in mein übliches Abendprogramm etwas Abwechslung zu bringen. Was böte sich da Besseres als der finale Abend des Internationalen Performance Festivals mit dem Thema ‚Survival' an?

Als ich das Gelände der Berliner BLO-Ateliers betrat, wurde ich sofort einer sonderbaren Gestalt gewahr: ein Mann, keine Haare auf dem Kopf, dafür umso mehr am Hals, fast nackt und mit hölzerner Angelrute in der Hand.

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Sein Auftrag: Menschen fischen. Wie? Du konntest dir Stift und Papier nehmen, jede beliebige Frage aufschreiben, es an die Angel hängen und Jörn beantwortete sie dir dann. Ich hörte Jörns Monologen eine kurze Weile zu. Der einförmige Klang seiner Stimme hatte etwas Stoisches, es lag Friede und Weisheit in der Luft, aber Jörn hat zu dem Zeitpunkt nur drei Menschen ködern können, weshalb ich an seinen Fähigkeiten als Angler zweifelte. Außerdem war Wochenende und ich wollte Action. Die bekam ich bei der ersten Performance nicht.

Drei Jungs in weißen Kitteln (ich kombinierte: Wissenschaftler) fuchtelten an einem Apparat herum. Dann tauchte eine zauberhafte junge Frau auf und sang operngleich—zugegeben schön. Nicht mehr, nicht weniger. Die zweite Nummer war schon mehr nach meinem Gusto. Die Truppe hörte auf den Namen Ingrid Kristenson & Co, das Stück hieß Esperanza. Drei der vier Künstler sahen aus wie Anstaltspatienten, alle vier benahmen sich so. Offensichtlich gab es eine Choreographie, denn die Vier auf der Bühne bewegten sich zu der Musik, indem … ach was red' ich rum, ich habe Teile davon aufgenommen, seht doch selbst:

Doch spätestens an dieser Stelle muss ich mich selbst zur Vorsicht mahnen. Denn das, was hier auf eine leichte und allzu humoristische Schulter genommen wird, ist schließlich Kunst—beziehungsweise erhebt den Anspruch, es zu sein.

Im Gegenzug stellt sich auch die Frage, was überhaupt Kunst genannt werden kann—oder konkret: Alter, ist das noch Kunst? Hier ist es gut zu wissen, dass es ein traditionelles und modernes Kunstverständnis gibt. Früher wurden über die Kunst sehr, sehr große Worte geschwungen. Zunächst musste sie ‚schön' sein. Hegel, der alte Phantast, ging sogar so weit zu behaupten, dass in ihr die absolute Wahrheit, ja das Absolute selbst zum Vorschein komme. Der Anblick solcher Kunst sollte beim Betrachter Wohlgefallen hervorlocken, von Lust war gar die Rede. ‚Gute Kunst' sollte Nachahmung der Natur sein, der Künstler war ein Genie, der die Schöpfung Gottes im kleinen Maßstab schuf—Kunst und Künstler waren ein Heiligtum.

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Und ja, auch heute wird es Künstler geben, die derart nach den Sternen greifen, doch Andi und sein in Falten geschlagener Penis gehören vermutlich nicht dazu. Unübersehbar im Licht der Halogenstrahlen markierten er und sein Geschlechtsteil den anfänglichen Fixpunkt der dritten Performance. Starr wie ein Leuchtmast stand Andi da, musikalisch untermauert von Rod Stewarts Mega-Hit Sailing, als er plötzlich zu einem Stift griff und auf ein weißes Plakat Folgendes notierte: „Rund alle 45 Minuten vor der Küste z.B. Lampedusa ✝ ✝ ✝". Dann kritzelte er sich „to be free" auf den blanken Oberkörper und steckte seinen Kopf in einen Bottich voll mit Wasser—kurzer Prozess, der Typ hielt sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf.

Treten wir nun Andi und seiner Perfomance mit besagt klassischem Kunstverständnis entgegen, so tun wir diesem Jungen Unrecht. Moderne Kunst ist vor allem Kunst über die Kunst. Sie beschränkt sich in vielen Fällen nicht mehr auf die Nachahmung einer natürlichen oder als ,wahr' geglaubten Welt, sondern wendet sich kritisch auf sich selbst—das Kunstwerk hat sich, den Rezipienten und die Welt zum Thema; sie will mehr als bloß nur ‚schön' sein. Andi, samt den restlichen Vertretern an diesem Abend, dachte vermutlich ähnlich.

Aber auch mit all der trockenen Theorie im Hirn konnte ich mir nicht erschließen, warum Lan Hungh in seiner Performance (mit den Titel Lave virus la vie russe) eine riesige Kugel als eine Art Helm über seinem Kopf trug. In das flauschige Ungetüm war ein Computermonitor eingefasst, auf dem ein Countdown lief. Bei 00:00 angekommen, fuhr ein Apple-Programm hoch—oder eben ein Virus, wer weiß das schon so genau. Und natürlich war auch Lan Hungh nackt … und angekettet.

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So lief er dann gute 20 Minuten blind im Kreis herum und strich allen Besuchern, die in erster Reihe auf dem Boden saßen, seinen Piepmatz über die Wangen.

Es gab auch rührende Momente. Die Technik bei der Finnin Kirs Pitkänen wollte nicht so, wie sie wollte. Sie arbeitete mit einer PowerPoint-Präsentation, leider aber liefen die einzelnen Seiten viel schneller ab, als Kirsi sprechen konnte. Ich an ihrer Stelle wäre geradewegs auf eine nervliche Kernschmelze zu geschlittert, sie hingegen kämpfte sich tapfer durch die Show. Und das, obwohl ein Zuschauer im Publikum monierte, dass ihre Präsentation aussähe, als hätte sie vor der Erstellung lediglich einen fünfminütigen Crash-Kurs durchlaufen. Ich könnte wetten, der Kritiker ist Senior Consultant bei Ernst & Young.

Abschließend lässt sich sagen, dass es doch völlig schnuppe ist, ob das, was an dem Abend präsentiert wurde, Kunst oder nicht Kunst war. Es gibt schon genug Investmentbanker, Landtagsabgeordnete oder Journalisten da draußen—ich bin dankbar um jeden, der einen anderen Blick auf die Welt besitzt und noch den Mut dazu, sein ganzes Leben danach auszurichten. Und verdammt: Es muss nicht immer das Berghain sein.