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Occupy Turkey

In Istanbul ist die Zeit der Verhandlungen vorbei

Auf mich als „ausländischen Journalisten“ hatte die Polizei keinen Bock und wollte mich mehrmals verhaften. Doch ich konnte mich in ein Hotel flüchten, wo ich die fassungslose Claudia Roth, zahlreiche Ohnmächtige, Ärzte und Verletzte antraf. Davide...

Bewusstloser Mann nach dem Gasangriff.

Aller guten Dinge sind drei. Nachdem Erdoğan schon zwei Ultimaten für die Demonstranten im Gezi-Park hat verstreichen lassen, hat er Samstagnacht schließlich Wort gehalten: Um kurz vor 21 Uhr stürmte die schon seit Tagen auf dem Taksim-Platz in Bereitschaft stehende Polizei den dahinter liegenden Park mit Tränengas und Knallgranaten. Innerhalb von 30 Minuten war der Park geräumt, alle, die sich darin aufgehalten hatten, waren hinten heraus getrieben worden, viele vor dem Tränengas ins direkt dahinter liegende Divan-Hotel geflüchtet.

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Nachdem sie ein völlig unzureichendes Angebot Erdoğans am Vortag ausgeschlagen hatten, waren die Demonstranten am Freitag und Samstag damit beschäftigt, sich basisdemokratisch zu organisieren, um herauszufinden, was sie eigentlich wollten. Nachdem es tagelang genügt hat, einfach da zu sein und Widerstand gegen die Polizei zu leisten, schien die Regierung ihnen diesmal wirklich zuhören zu wollen. Also wurden überall im Park Sprechgruppen gebildet, um Standpunkte vorzutragen und Vertreter zu wählen.

Ich hatte den Park um kurz nach acht verlassen, um mit Lenz Jacobsen von der Zeit und zwei seiner türkischen Freundinnen ein paar Straßen weiter ein Bier trinken zu gehen. Als die Nachricht kam, wollten wir es zuerst nicht glauben. Als ich auf dem Taksim ankam, war es aber schon zu spät: Die Polizei stand am Zugang zum Park und ließ niemanden mehr passieren. Nach ein bisschen Herumlaufen fand ich schließlich über die Baustelle einen unbewachten Einstieg und stand im Park. Wo sich vor einer Stunde noch die Umweltschützer, Studenten, Kommunisten, Nationalisten, Kurden, Gay-Rights-Aktivisten, Mütter mit ihren Kindern und neugierige Besucher auf die Füße getreten waren, war niemand mehr zu sehen. Stattdessen hing Gas in der Luft.

Überall waren die Zelte fluchtartig verlassen worden, mit allem, was darin war. Das gesammelte Essen lag auf dem Boden herum, die Flugblätter, die Bücher. Ich ging durch die Zeltreihen bis ans hintere Ende des Parks, wo die Polizei stand. Die Bewohner des Parks standen dahinter und fingen gerade an, sich wieder zu fassen und mit neuer Wut ihre Slogans zu singen.

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Während ich Fotos schoss, kamen zwei Männer in Zivil mit Gasmaske und blafften mich an, ich hätte hier nichts zu suchen, und wo ich herkäme. Dann packten sie mich und wollten mich irgendwo hinschleppen. In dem Moment explodierte irgendwo etwas und ich konnte mich schnell außer Sicht verdrücken. Nachdem ich noch zweimal von solchen Typen mit Schlagstöcken beschimpft und rumgeschubst wurde, schlug ich einen Bogen und versuchte, zum Divan-Hotel und zu den davor Protestierenden zu kommen.

Mittlerweile hatte die Polizei das Hotel umstellt und schoss Gasgranaten in die Straßen daneben, in denen sich der erste Widerstand zu formieren begann. Die vor dem Hotel eingeschlossenen Demonstranten beschimpften die Polizisten und wurden dafür mit dem Wasserwerfer gegen die Glasfront gequetscht. Während ich das aus der Ferne fotografierte, rief mich eine türkische Freundin an und sagte mir, ich sei völlig wahnsinnig, ich solle sofort da verschwinden, ohne Presseausweis würde ich garantiert verhaftet. So langsam wurde mir etwas mulmig, weil die Polizisten mir und meiner Kamera tatsächlich immer sehr ominöse Blicke zuwarfen, und ich begann, einen Bogen um die vorbeiziehenden Trupps zu machen.

Irgendwann war der Weg zum Hotel aber frei. Die völlig durchnässten Demonstranten vor der Tür sangen bereits wieder ihre Parolen. In der Lobby standen überall von Tränengas gezeichnete Menschen herum. Ein aufgeregter Mann namens Deniz erzählte mir von der Jagd durch den Park und rief dann: „Wir werden nie aufgeben! Aus dem ganzen Land kommen jetzt die Leute hierher, von überall! Wir werden die Polizei wieder aus dem Park schmeißen!“ Und plötzlich lief eine aufgeregt telefonierende Claudia Roth durch die Lobby.

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Mit Lenz, der sie schon kannte, ging ich zu ihr. Sie war sichtlich verstört und hustete oft in ein Taschentuch, freute sich aber sehr über die deutschen Journalisten. Als sie uns gerade erzählte, wie sie bei ihrem Besuch im Park in den Angriff der Polizei geraten war, brach vor den Türen eine Panik aus. Wir wurden von der flüchtenden Menge gegen die Theke gequetscht und Claudia Roths Begleiter beschlossen, sie irgendwo tiefer im Hotel in Sicherheit zu bringen. Das war einfacher gesagt als getan, weil sich durch alle Gänge vor dem Gas fliehende Menschen drängten, aber irgendwann saßen wir in einem Kellersaal, in dem die am schlimmsten Verletzten verarztet wurden.

Claudia Roth war immer noch in Atemnot und ziemlich verstört von ihren Erlebnissen. „Das ist doch Irrsinn! Auf die Leute im friedlichen Gezi-Park! Und jetzt greifen sie die Hotels an!“ Um uns herum wurden Ohnmächtige hereingetragen und auf Polsterbänke oder dem Boden abgelegt, überall weinten Menschen. „Das ist Krieg, oder? Das ist Krieg! Erst führt er diese Scheingespräche mit denen und dann haut er so zu, das geht doch nicht!“

Ich beschloss, noch einmal zu schauen, wie die Lage oben sei. Gerade als ich draußen angekommen war, entstand irgendein Gerangel, und eine Gasgranate explodierte keine fünf Meter vor der Tür. Ab da herrschte nur noch Panik. Alles versuchte, sich ins Hotel zu retten, aber durch die großen Drehtüren wurden die Gasschwaden zusammen mit den Flüchtenden ins Innere geschaufelt. Ich stolperte blind in einer Herde Flüchtender wieder die Treppe runter. Unten im Kellerraum war die Hölle ausgebrochen: überall Ohnmächtige, Ärzte, die Erstickende mit Sauerstoff versorgten, schreiende Verletzte.

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Mit jedem, der die Tür öffnete, kam mehr Gas in den Raum, und hier konnte es nirgends abziehen. Claudia Roth war in eine Ecke gebracht worden, wo sie mit milchüberstromtem Gesicht nach Luft schnappte. Ein Assistent reichte ihr eine Stofftasche, sie wusste zuerst nicht, was sie damit anfangen sollte, dann las sie den Aufdruck: „Deutschland ist erneuerbar … jaja … Türkei weiß ich jetzt nicht …“

Ihre Begleiterin, die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung Dr. Ulrike Dufner, versorgte ein Mädchen mit Sauerstoff, deren Pupillen völlig unkontrolliert durch die Gegend rollten. Hinter mir fiel eine dicke Frau in Ohnmacht, die wir gerade noch fangen und auf eine Bahre hieven konnten. Lenz saß in dem ganzen Chaos cool in der Ecke und tweetete (oder twitterte?) wie wild. Irgendwann wurde gerufen, man solle aus dem Saal raus, um dem Gas zu entkommen.

Oben hatte sich die Lage mittlerweile beruhigt, obwohl auch hier überall Verletzte herumsaßen. Ein sehr junges Mädchen wurde ohnmächtig hereingetragen, ihre haltlos heulende Freundin versuchte, sich durch die Helfenden zu drängen, schließlich wurden beide in einen der Krankenwagen, die mittlerweile fast im Minutentakt vor dem Hotel vorfuhren und Leute einluden, gebracht.

Draußen hatte die Polizei eine Kette an der Einfahrt gebildet und blickte ungerührt auf die aufgebrachte Menge vor sich. Aus dem Hotel rannte plötzlich ein halbnackter, weinender Mann auf sie zu und schrie „Ihr Hurensöhne, ihr Hurensöhne!“, konnte aber von den anderen Demonstranten abgefangen werden. Hinter dem Hotel, in Richtung Harbiye, wurde weiter gekämpft, so dass die Wasserwerfer oft zurückkommen mussten, um von Tankern der Stadtverwaltung aufgetankt zu werden.

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Irgendwann beschlossen wir, uns auf den Weg nach Cihangir zu machen, Lenz, weil er sein Handy im Hotel aufladen musste, ich, weil ich nicht ohne ihn und seinen Presseausweis durch die Reihen der Polizei gehen wollte. Wir trauten uns dann doch, einmal im Park vorbeizuschauen, wo die Aufräumkohorten bereits ganze Arbeit leisteten. Zelte, Banner, Hütten, die Sachen der Leute, alles wurde von Baggern weggeschoben und in LKWs gekippt. Sogar ein Krankenwagen wurde als Müllabfuhr zweckentfremdet, um jede Spur der zweiwöchigen Besetzung gründlich zu tilgen.

Der Taksim war bereits wieder zur belagerten Zone geworden. Wie schon mehrere Male in den letzten Wochen stand die Polizei auf allen Zugängen und schoss Tränengas und Wasser in die Demonstranten, die auf den Platz wollten. Wir schlugen uns in die Seitengassen, und auch hier boten sich die gleichen Bilder wie vor zwei Wochen und am letzten Dienstag: Demonstranten liefen vor und zurück, die Polizei jagte sie mit Gas vor sich her. Allerdings hatten sie diesmal anscheinend weniger Geduld: Kurz nachdem wir ankamen, stürmte die Polizei durch Gasse nach Gasse, so dass wir uns in eine Bar retten mussten.

Von der Dachterrasse der Bar konnte man die Polizisten beobachten, wie sie die Gasse unter uns mit Gas bombardierten. Beim Fotografieren wurde ich von den ängstlichen Kellnern vom Rand gezogen, damit die Polizei keinen Grund bekäme, uns eine Granate raufzuschicken.

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Also schauten wir uns mit den anderen erschöpften Demonstranten das Chaos der letzten Stunden auf Halk TV an, dem einzigen Sender, der über die Proteste berichtet. Von Freunden hörte ich, dass Tausende Menschen von der asiatische Seite zu Fuß über die Brücke marschierten, um den Taksim zurückzuerobern. Und ich erfuhr, dass Davide, der Pianist von Mittwoch, von der Polizei aufgehalten worden war, und man ihm den Flügel weggenommen hatte.

Kurz danach machten wir uns auf den Weg zum Deutschen Krankenhaus, wo der Kampf wieder in vollem Gange war. Auch hier wurden wieder Barrikaden gebaut, es wurde geschrien, gegast und gerannt. Ich fragte Ahmet, ob sie jetzt aufgeben würden. „Wir werden nie aufgeben. Wir haben noch Kraft. Morgen gehen wir wieder in den Park zurück!“ Immer wieder sangen sie: „Das hat gerade erst angefangen, der Kampf wird weitergehen!“

Ahmet

Irgendwann wurde es der Polizei auch hier zu bunt, und sie jagte die Demonstranten die ganze Siraselviler runter. Und auch hier rückten sie deutlich aggressiver als sonst in die Seitengassen ein. Einmal wurde ich zusammen mit Sven, einem Fotografen aus Luxemburg, von den um die Ecke kommenden Polizisten überrascht und musste Hals über Kopf in die nächste Gasse sprinten, während neben uns die Granaten einschlugen.

Wenn mal keine Granaten knallten, konnte man aus allen Straßen das Scheppern der Kochtöpfe hören, die die Bewohner Cihangirs schlugen, um ihre Unterstützung mit den Demonstranten zu zeigen. Mittlerweile war es halb fünf, und ich hatte genug. Auf dem Weg nach Hause kam mir Eren entgegen, der am ersten Wochenende eine Gasgranate gegen den Hinterkopf bekommen hatte und genäht werden musste. Er war wieder auf dem Weg in den Kampf. Mit solchen Jugendlichen wird es Erdoğan schwer haben, die Proteste einfach niederzuknüppeln. Heute, am Sonntag, höre ich immer noch das Knallen der Gasgranaten aus meinem Fenster. Erdoğan will später eine Massenkundgebung von AKP-Unterstützern abhalten, laut Al-Jazeera sind heute morgen Polizisten aus fünf anderen Städten angekommen, um ihre Istanbuler Kollegen zu unterstützen. Die Zeit der Verhandlungen ist offensichtlich vorbei.