FYI.

This story is over 5 years old.

Fotos

Ich verstehe Fotografie einfach nicht

Lasst es uns also mal gemeinsam versuchen, die Sache mit der Fotografie zu verstehen.
Jamie Clifton
London, GB

Ist das ein gutes Foto? (ColorPlay von Photo Illustration Man. Mit freundlicher Genehmigung von www.fotokunstmann.de.) In einem Moment der frühreifen Erkenntnis habe ich einmal meine Fotografie-Lehrerin gefragt, wie sie all die stark gesättigten Modeaufnahmen und Schwarz-Weiß-Bilder von rauchenden Menschen bewertet, die bei ihr eingereicht werden, wo doch „Geschmack eine Meinungsfrage ist und so“. Sie gab mir eine lächerlich vage Antwort, die die Wörter „Komposition“, „Schärfentiefe“ und „Beleuchtung“ beinhaltete, aber ich wusste, sie wollte mich nur loswerden, damit sie wieder Kaffeetrinken und mit ihrer wissenschaftlichen Hilfskraft flirten kann. Seitdem hat mich die Frage danach, was ein „gutes“ Foto ausmacht, nicht mehr losgelassen. Fotografie ist nicht wie Malerei oder Illustration oder Skulptur. Fast jeder kann ein Foto machen, aber du hörst immer noch ein paar Fotografennamen, die wie heilige Begriffe verbreitet werden. Was macht Nan Goldins Bild von ein paar Menschen, die Sex haben, besser als die Amateur-Porno-Fotoautomaten-Session, die ich gerade gemacht habe? Und wieso lästert dieser prätentiöse Foto-Blogger über dein Schwarz-Weiß-Porträt, veranstaltet aber täglich einen Gedenk-Gottesdienst für ein Porträt, das Irving Penn vor 40 Jahren geschossen hat? Jetzt, wo jeder mit einem Smartphone und einer Internetverbindung ein Profi-Fotograf ist, habe ich beschlossen, dass es Zeit ist, ein einfaches System zu erarbeiten, um die guten von den schlechten Fotografen zu trennen. Auf diese Weise können wir uns endlich alle im Dunst pseudo-kultivierter Selbstzufriedenheit auf die Schulter klopfen und alle anderen dafür niedermachen, dass sie verdammte Idioten sind. BEOBACHTUNG #1: GELD = QUALITÄT

Anzeige

Wie steht‘s mit diesem Bild? Ist es gut? Wenn ich in den letzten 23 Jahren Menschsein etwas gelernt habe, dann, dass etwas, das gut ist, weitaus teurer ist als all seine Kopien. Also lasst uns, dieser Logik folgend, damit beginnen, uns die drei teuersten Fotografien, die jemals verkauft wurden, anzusehen:

(Rhein II von Andreas Gursky. Mit freundlicher Genehmigung von Christie's New York.) #1. Andreas Gursky, Rhein II. Kosten: 4,3 Millionen Dollar.
Jemand (den es vermutlich wenig kümmert, wohin sein Geld fließt) zahlte umgerechnet sagenhafte 3,1 Millionen Euro für dieses Bild und machte es somit zum teuersten Foto, das jemals verkauft wurde. Um jeden, der dieses Foto jemals gesehen hat, zu zitieren: „Nee, ich würde nicht so viel bezahlen. Ich könnte dir so ein Bild mit einer Einweg-Kamera und einem Wochenend-Ticket machen.“ Ein Punkt, gegen den man unglaublich schwer argumentieren kann. Also, was macht es so teuer/gut? Die Drittel-Regel scheint hier irgendwie angewendet worden zu sein, aber rechtfertigt so eine vor 200 Jahren willkürlich aufgestellte Regel, die das Fotografieren komplizierter erscheinen lassen soll, als es wirklich ist, so einen Wirbel?

(Untitled #96 von Cindy Sherman. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.) #2. Cindy Sherman, Untitled #96. Kosten: 3,9 Millionen Dollar.
Cindy Sherman hat zwei Fotos in den Top Ten der teuersten Bilder, die jemals verkauft wurden. Sie muss also gut sein, oder? Ich habe mich auf jeden Fall sofort mehr in dieses Foto als in das des Flusses vertieft—was hat sie auf diesem Zettel gelesen, dass sie so deprimiert aussehen lässt? Was wartet da außerhalb des Bildes auf sie? Ist ein komplett oranges Outfit eine vernünftige Wahl für jemanden mit rötlichen Haaren? Etc., etc.—aber bedeutet die Tatsache, dass es Fragen provoziert, auch, dass es ein gutes Bild ist? Ich stelle mich jedes mal selbst infrage, wenn ich Radiohead höre, weil ich ihre Musik verdammt noch mal hasse. Warum bezahlt man also so viel Geld für etwas, das einem ein schlechtes Gefühl bereitet?

Anzeige

(Dead Troops Talk von Jeff Walls. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.) #3. Jeff Wall, Dead Troops Talk. Kosten: 3,6 Millionen Euro.
Millionen von Dollar für einen Fotoabzug zu bezahlen, ist wohl der beste Weg, hungernden Kindern ins Gebiss zu treten, weil Drucke nicht mehr und nicht weniger sind als Drucke. Ein originales Rothko-Gemälde wurde sorgfältig bearbeitet, bis zu dem Punkt, dass man jede einzelne Farbschicht ausmachen kann (was es nebenbei gesagt rechtfertigt, 55 Millionen Dollar für Kunst auszugeben, anstatt im Sterben liegende Säuglinge zu retten), wohingegen der ursprüngliche Jeff-Wall-Druck, den du bei einer Auktion kaufen kannst, sein Leben als eine Replik begann. Das ist es auch, was alle Drucke sind: Kopien von Negativen. Trotz alldem schätze ich, dass ich 3.600.000 Dollar für dieses Foto bezahlen würde. Ich würde es wahrscheinlich tun, weil es genug Atmosphäre hat, dass ich darüber ernsthaft mit einem heißen französischen Mädchen sprechen könnte, ohne dabei aus Verlegenheit zu sterben. Zusammenfassend: Damit ein Foto gut ist, muss es langweilig sein, dir ein schlechtes  Gefühl vermitteln oder per Definition unoriginell sein. BEOBACHTUNG #2: TOTE MENSCHEN MACHEN GUTE FOTOS

(Hyères, Frankreich, 1932 von Henri Cartier Bresson. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.) Genauso wie sich niemand für Elliot Smith interessierte, bis er sich umbrachte, sind Fotografen nie gut, bis sie des Lebens beraubt werden. Henri Cartier Bresson, Helmut Newton, Richard Avedon, Diane Arbus, Irving Penn und so ziemlich alle Anderen, deren Namen auftauchten, als ich mich bei Google mit dem Thema auseinandergesetzt habe, sind schon seit Jaaaaahren tot. Zusammenfassend: Um ein gutes Foto zu machen, musst du tot sein. BEOBACHTUNG #3: DIE KRITIKER MÜSSEN ES WISSEN Lasst uns mal schauen, was einige Experten glauben, indem wir uns die letzten Gewinner des World Press Photo Award ansehen, weithin bekannt als die bedeutendste Auszeichnung, die ein Fotograf erhalten kann.

Anzeige

(Sanna, Jemen von Samuel Aranda - 2012 World Press Photo of the Year. Mit freundlicher Genehmigung von The New York Times). Gewinner 2012 - Sanaa, Jemen von Samuel Aranda
Dieses Foto zeigt eine Mutter, die ihren Sohn nach einem Tränengasangriff bei Protesten im Jemen, wo mindestens 12 Menschen getötet und mehr als 30 verletzt wurden, wiegt. Der Sohn lag zwei Tage im Koma und wurde zwei weitere Male während der Proteste verletzt.

(Bibi Aisha von Jodi Bieber. Mit freundlicher Genehmigung des Institute for Artist Management/Goodman Gallery für Time Magazine.) Gewinner 2011 - Bibi Aisha von Jodi Bieber
Dieses Foto zeigt Bibi Aisha, ein 18-jähriges afghanisches Mädchen, das der Familie eines Taliban-Kämpfers übergeben wurde, um einen Streit zwischen den jeweiligen Familien zu schlichten. Sie wurde gezwungen, ihn zu heiraten, als sie in die Pubertät kam, und wurde dann von seinen Eltern misshandelt. Sie lief zurück zu ihren Eltern, weil niemand gerne von seinen Schwiegereltern geschlagen wird. Dann wurde sie aufgespürt und ihr wurden als Strafe für ihr Weglaufen Ohren und Nase abgeschnitten. Verdammt nochmal, das ist deprimierend. Damit ein Foto W.PPA-würdig ist, muss es dich offenbar dazu bringen, dich unfreiwillig zu einer Kugel zusammen zu rollen und alles Wasser aus deinem Körper zu heulen. Hier kommt also der nächste Tipp, um ein gutes Foto auszumachen: Wenn es dich sofort dazu bringt, dich selbst töten zu wollen, um all den Schrecken und dem Bösen in der Welt zu entfliehen, stehst du vor einem Gewinner-Foto. Natürlich vernachlässige ich hier einige andere Genres der Fotografie wie Stockfotografie, Hochzeitsfotos, Essensfotografie, etc.—aber ich habe noch nie jemanden sagen hören: „Dieses Bild eines Weihnachtsmannes, der an einem Lolli leckt, zählt zu den größten Bildern der heutige Zeit.“ Also können wir solche Bilder vorerst vergessen. Zusammenfassend: Damit ein Foto gut ist, muss es dich dazu bringen, die Menschheit zu hassen. BEOBACHTUNG #4: DER PROFI MUSS ES WISSEN

(Porträts des Team USA 2012 von Joe Klamar. Mit freundlicher Genehmigung von Joe Klamar/AFP/GettyImages) Was ist mit diesem Foto des Olympia-Taekwondo-Teams der USA? Ist das ein gutes Foto? In einer letzten Anstrengung zu verstehen, was ein gutes Foto ausmacht, dachte ich, ich sollte mich mit einem Kerl namens Lysha unterhalten. Er hat vor Kurzem eine Fotografie-Auktion mit dem Bloomsbury-Auktionshaus zusammengestellt, so dass ich dachte, er könnte mich aus dem dunklen, unkultivierten Abgrund befreien, in dem ich feststecke, und mir den Weg zur Erleuchtung zeigen. VICE: Also, sag mir Lysha, was macht ein gutes Foto aus?
Lysha: Es variiert definitiv von Foto zu Foto, aber eine gute Komposition hilft, und wenn hinter dem Bild eine Geschichte steckt und es ein gutes Thema hat, ist das auch alles cool. Was macht eine gute Komposition aus? Muss es der Drittel-Regel folgen?
Nein, absolut nicht. Ich denke, wenn du ein Foto siehst und es magst, ist es ein gutes Foto, unabhängig davon, ob es der Drittel-Regel folgt oder nicht. Offensichtlich sehen Fotos, die der Regel folgen, normalerweise gut aus—sie sehen professionell aus—aber alles kann gut sein, es muss nicht irgendwelchen Regeln folgen. Warum glaubst du, verkauft Gursky seine Fotos so teuer und beeindruckender Fotojournalismus mit einem tatsächlichen Gegenstand verkauft sich nicht?
Nun, Gursky wird als Kunst angesehen, während Fotojournalismus nur als gewöhnliche Fotografie gesehen wird. Bildende Kunst wird für lächerlich viel Geld verkauft, das hat Gursky geholfen. Glaubst du, dass ein Foto ein Konzept oder eine Idee haben muss, um gut zu sein?
Nein, überhaupt nicht. Es kann auf jeden Fall ein Foto interessant machen, weil du einen Hinweis auf das hast, was du da gerade siehst, aber so lange es ästhetisch ist, ist es gut. Und wenn es Teil eines Trends ist, kann das gut sein. Wie dieses Outtake-Foto vom Abbey Road-Cover-Shoot. Die Medien waren verrückt danach. Aber dann war da noch dieses Dora-Maar-Foto, das für den dreifachen Preis verkauft wurde, weil es diese erstaunliche Geschichte hat. Sie war Picassos Muse, daher kommt‘s. Zusammenfassend: Um ein gutes Foto zu machen, musst du Picasso gefickt haben. Nach dieser Fallstudie in Fotografie denke ich, können wir uns darauf einigen, was ein Foto gut ausmacht: hohe Summen, Tod, Antipathie und Vetternwirtschaft. Also, das nächste Mal, wenn du mit deinen Freunden durch deine Urlaubsschnappschüsse gehst und auf ein besonders lustiges Bild von deinem Kumpel stößt, auf dem er von einem Affen angepisst wird, darfst du sagen: „Hey, das ist lustig“, oder: „Gott, bin ich froh, dass wir ein Bild davon haben“, aber das heißt nicht, dass du es „gut“ nennen solltest—jeder auf diesem Planeten, der dich jemals geliebt hat, wird dir ins Gesicht lachen. Außer wenn dich Affenpisse traurig macht und der Freund, der das Foto gemacht hat, tot ist, dann ist alles in Ordnung, du kompetenter Fotokritiker, du.