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MEXICALIA

Die U-Bahn-Gangs von Mexico City

In Mexico City sind Gangs in den U-Bahnen unterwegs, deren Mitglieder andauernd Klebstoff schnüffeln und rumpöbeln. Aber eigentlich sind diese Reggaeton-Fans ganz nett.

Die U-Bahn-Beamten bitten die Fahrgäste, andere Wagen zu besteigen, damit die Sikarios so wenig Menschen wie möglich belästigen.

Samstagmorgen in einer U-Bahnstation in Mexico City. Die Mitglieder der Panamiur-Gang sind auf dem Weg zu einer Party. Ihr Anführer, Cidel, trägt eine riesige Sonnenbrille, einen gegelten Fauxhawk, Cargopants und ein T-Shirt mit den großen geairbrushten Ziffern 2 und 6 drauf, was auf den 26. November 2010 hinweist, an dem die Panamiurs gegründet wurden. Die vier Dutzend Kids, die um Cidel herum stehen, sind in ähnlichem Stil aufgemacht, mit falschen Goldketten, überdimensionierten Sonnenbrillen, Baseballkappen in grellen Farben und engen Jeans. Sie lassen Schmähgesänge erklingen, die an das Mitglied einer verfeindeten Gang auf dem anderen Bahnsteig gerichtet sind. „Joris Mama nimmt ein Bad, hey ho!“, brüllen sie. „Sie ist fast auf unserem Territorium, hey ho! Mit ’nem dicken Schwanz in einer Hand und einem Lappen mit PVC-Kleber in der anderen, hey ho! Und die Gang sagt: ,Wir ficken sie, wir ficken sie. Wir ficken sie hart in den Arsch! Die verdammte Schlampe!‘“ Sie lachen, denn es ist ein Witz, doch die anderen Fahrgäste sehen ängstlich zu. Panamiur ist eine der hiesigen Gangs, auch „Combos“ genannt, aus „Reguetoneros“ (Reggaeton-Fans) zwischen 18 und Anfang 20, die die U-Bahnstationen von Mexico City heimsuchen. Cidel erzählt mir: Wie den meisten anderen Combos geht es auch den Panamiurs in erster Linie um Musik, Party feiern und zueinander stehen, ganz gleich, was geschieht. Aus der Sicht der Fahrgäste bedeutet es aber auch, dass da neben ihnen Rohrreiniger und Industriekleber auf Stofflappen geschnüffelt und Gang-Gesten und anstößige Bemerkungen über jemandes Mutter gemacht werden, also ist ihre Nervosität verständlich. Vor allem, wenn man an die Berichte denkt, die im Laufe des letzten Jahres über die Combos in den Medien kursierten. Die Combos machten zum ersten Mal im letzten Juli auf sich aufmerksam, als mehr als 600 übelgelaunte Reguetoneros, die von einem abgesagten Reggaeton-Konzert weggeleitet wurden, beschlossen, stattdessen die U-Bahnstationen feinerer Bezirke unsicher zu machen. Schilder wurden von den Wänden gerissen, man fing an, sich zu prügeln, und am Ende wurden mehr als 200 Kids verhaftet und über Nacht ins Gefängnis gesteckt. Ein paar Wochen später, am 4. August, brach an einer anderen U-Bahnstation eine regelrechte Schlacht aus, bei der 50 Combo-Mitglieder von 150 Mitgliedern einer verfeindeten Gang überfallen wurden, die Reggaeton hassen. Überwachungsvideos dieses Zusammenstoßes, auf denen man sah, wie improvisierte Bomben auf dem Bahnsteig explodierten, verbreiteten sich in Windeseile, und auf einmal war in Mexico City ein neuer Jugendtrend geboren und die Öffentlichkeit fragte sich, ob sie ein spanischsprachiges Remake der Warriors erlebte. Obwohl die meisten Combos zweifellos ein rowdyhaftes Verhalten an den Tag legen und öffentlich Chemikalien schnüffeln—wie die amerikanischen Greasers in den 50ern und Heavy-Metal-Fans in den 70ern, sind sie nicht so bedrohlich wie ihr Medienprofil nahelegt. Die Combos sagen, dass die Gangs selbst versuchen, ernste Konflikte zu vermeiden, was vor allem einem Schlichter Mitte 20 namens Brenan zu verdanken ist. 2011 gründete er FU Antrax, eine Art Vereinte Nationen für Klebstoff schnüffelnde, U-Bahn-fahrende Teenager. Brenan kam zum ersten Mal in Kontakt mit den Combos, als er als Türsteher eines Tanzclubs arbeitete, der bei den Reguetoneros beliebt war. Er stellte fest, dass weniger Leute kamen, wenn sich herumgesprochen hatte, dass eine bestimmte Gruppe Ärger mit einer verfeindeten Gang hatte, und überlegte sich, wie man bessere, größere und friedlichere Partys organisieren könnte.

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Die Sikarios posieren für ein Foto vor der U-Bahnstation Garibaldi, bevor sie in einen Club gehen, um ihr dreijähriges Bestehen zu feiern. Auf ihren Trikots steht das Logo der U-Bahnstation, in der sie immer abhängen.

„Beim ersten Treffen waren alle eher angespannt und skeptisch“, sagte Brenan. „Aber wir haben das ausdiskutiert und konnten einen sauberen, neuen Start machen.“ Später haben sich einige Combos von FU Antrax abgespalten und eine zweite Combo-Vereinigung gegründet, die sie La Familia nannten. Brenan erzählte mir, dass ein paar von seinen Leuten diese Splittergruppe angreifen wollten, aber er hat es ihnen ausgeredet. „Die Leute sehen mich nicht als ihren Anführer, sondern eher als Koordinator“, sagte er. „Ich koordiniere sie. Ich berate sie und versuche, sie davon abzuhalten, Dummheiten zu machen.“ An diesem Samstagmorgen ist der Anlass für das Treffen der Combos Brenans Geburtstagsparty. Und obwohl die Veranstaltung friedlich sein soll—es kommen bloß 300 seiner engsten Freunde aus diversen Combos ins Lagerhaus, um sich zu besaufen und zu Reggaeton-Klängen abzurocken—hat er über die Details noch nichts durchsickern lassen. Wir kommen an dem Veranstaltungsort an, der aussieht wie jedes x-beliebige Lagerhaus, und es ist nicht mal ein Schild zu sehen. Um 16 Uhr werden die Türen verschlossen. „Die Regierung nennt unsere Partys geheim, aber das ist nur so, weil wir keine eigene Halle bekommen“, sagt Brenan. „Wenn uns die Polizei dabei erwischen würde, wie wir irgendwo ’ne Hausparty veranstalten, würden die sofort mit ’ner Hundertschaft anmarschiert kommen und den Laden dichtmachen. Selbst wenn wir gar nichts Schlimmes machen würden. Die Leute haben Angst vor uns.“ Klar, dass die Behörden die Aktivitäten der Combos im Auge behalten. Jose Alfredo Carrillo, der Chef der Sicherheitsüberwachung des U-Bahnsystems von Mexico City, sagte mir, dass seine Angestellten es samstags mit insgesamt 3.000 Reguetoneros, Fußball-Hooligans und anderen potenziellen Unruhestiftern zu tun haben, die mit der U-Bahn zu Partys oder Sportveranstaltungen fahren. „In den letzten paar Jahren sind diese Gruppen nicht nur für die Züge und Einrichtungen der Bahn zunehmend zum Problem geworden, sondern auch für die anderen Fahrgäste und sogar für einander“, sagte er. „Sie werden immer gewalttätiger und aggressiver, und wir müssen unsere Mitarbeiter trainieren, damit sie sich in der Lage sehen, ihre Sicherheit, ebenso wie die Sicherheit der anderen Fahrgäste zu gewährleisten. Wenn sie in die Züge steigen, dürfen wir nicht zulassen, dass sie sich unter die anderen Gäste mischen. Wir haben schon gesehen, wie sie klauen oder Streit anfangen.“ Oft werden die Combos von Polizisten in Kampfausrüstung beobachtet, die die Züge manchmal räumen lassen, um sie von den anderen Fahrgästen zu trennen. Ich fragte Carillo, ob er die Combos für kriminelle Gruppen halte oder ob es bloß aufsässige Kids seien, die sich amüsieren wollen. „Wir sehen das als ein kulturelles Phänomen“, sagte er. „Sie sind jung und suchen nach Möglichkeiten, sich auszudrücken. Zum Glück sind sie nicht alle gleich. Wir haben schon viele Gruppen gesehen, die sich benehmen können. Probleme gibt es, wenn sie die Grenze zwischen Legalität und Kriminalität überschreiten.“

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Die Sikarios, die größte Combo in Mexico City, feiern ihr dreijähriges Bestehen in einem Club in der Nähe der U-Bahnstation Ciudad Azteca.

Auf manche Combos passt das Stereotyp der gewalttätigen Unruhestifter, wie zum Beispiel die Sikarios, die größte und berüchtigtste U-Bahn-Gang von Mexico City. Angeblich haben sie Hunderte von Mitgliedern, ihr Name leitet sich von dem spanischen Wort für „Auftragskiller“ ab und ihr Logo ist die Abbildung einer AK-47, an der Stelle, wo das „k“ sein sollte. Doch die Sikarios haben weder Verbindungen zu Drogenkartellen oder dem organisierten Verbrechen, noch sind sie so gefährlich, wie ihr Ruf einen glauben machen will. Trotzdem haben die Behörden sie ständig auf dem Kieker. Im Dezember haben sie ihren Jahrestag gefeiert und taten dabei das, was sie am besten können: Sie versammelten sich mit etwa 400 Leuten in einem Club und haben die ganze Nacht getanzt, getrunken, die Trommel geschlagen und Klebstoff geschnüffelt, bis die Polizei kam und ihnen den Spaß verdarb. „Die Polizei behauptete, wir hätten eine Bäckerei ausgeraubt, aber das stimmte überhaupt nicht“, sagte Micky, der Anführer der Sikarios. „Wir waren draußen mit unseren Trommeln, und sie wussten einfach nicht, was sie davon halten sollten. Sie nahmen ein paar von uns fest, fuhren mit ihnen im Polizeiwagen herum und nahmen ihnen ihr Geld und ihre Handys ab … Wir werden stigmatisiert. Die haben sich in den Kopf gesetzt, dass wir drogenabhängig und gewalttätig sind und stehlen. Aber das stimmt gar nicht.“ Als ich die allseits bekannten Combo-Schlachten im letzten Jahr erwähnte, gab Micky kleineren, schlechter organisierten Gruppen die Schuld, deren Anführer keine Kontrolle über sie hätten. Auf seiner Geburtstagsparty sagt auch Brenan, dass über die Combos ungerecht geurteilt wird. „Wenn uns die Leute auf der Straße sehen, denken sie sofort, wir wollen sie ausrauben, nur weil wir solche Klamotten tragen, dabei kommen wir vielleicht gerade von der Schule“, sagt er. „Die Leute denken, wir arbeiten nicht, aber das stimmt auch nicht. Ich habe sogar einen Abschluss, ich bin Elektrotechniker.“ Dann frage ich nach seinen Freunden, die Klebstoff schnüffelnd um uns herumstehen, aber er zuckt die Achseln. „Leute nehmen keine Drogen, weil sie in einer Combo sind oder Reggaeton hören. Viele haben Probleme in der Familie und nehmen Drogen, um sich davon abzulenken. Und bloß weil einer von uns abhängig ist, heißt das nicht, dass wir alle abhängig sind. Und nur weil einer von uns stiehlt, heißt das nicht, dass wir alle Diebe sind. Es gibt sogar Politiker, die Drogen nehmen, es gibt große Stars, die Drogen nehmen, deswegen behaupte ich ja auch nicht, dass sie alle Drogen nehmen … Ich bin nicht derjenige, der sich ein Urteil darüber erlaubt.“ Fotos von Mauricio Castillo

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