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Fotos

Einblick in die Einrichtungen für die vergessenen Tschernobyl-Opfer

Die Fotografin Jadwiga Bronte war zu Besuch in weißrussischen "Internaten", einer Mischung aus psychiatrischer Anstalt, Waisenhaus und Hospiz, in denen Opfer der Nuklearkatastrophe untergebracht sind.
Ein Tschernobyl-Opfer

Die Katastrophe von Tschernobyl jährt sich dieses Jahr zum dreißigstem Mal, doch die Auswirkungen der verheerenden Explosion sind noch heute spürbar. Die Kernschmelze des Atomkraftwerks im Norden der Ukraine hat eine riesige Anzahl radioaktiver Partikel freigesetzt, wodurch ein Großteil der Region kontaminiert wurde. Etwa 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags trafen das Nachbarland Weißrussland.

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In ihrer Fotoreihe The Invisible People of Belarus erforscht die Fotografin Jadwiga Bronte die Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl auf die Menschen in Weißrussland, vor allem auf solche, die in Regierungseinrichtungen leben, die „Internate" genannt werden. Diese Einrichtungen sind eine Mischung aus psychiatrischer Anstalt, Waisenhaus und Hospiz, wo Tausende Weißrussen und Weißrussinnen von der Öffentlichkeit abgeschottet ihr Dasein fristen. Oft werden sie von ihren Angehörigen kurz nach der Geburt schon der Regierung übergeben.

Ich habe mich mit Jadwiga über ihr Projekt unterhalten.

VICE: Was hat dich dazu bewegt, die Geschichte der Internate zu erzählen?
Jadwiga Bronte: Dieses Thema war für mich schon immer sehr persönlich. Ich wurde im Nachbarland Polen geboren, was zur Zeit der Tschernobyl-Katastrophe ein Satellitenstaat der UdSSR war. Nachdem ich durch einen fantastischen Foto-Essay mehr über die Nachwirkungen der Katastrophe gelernt hatte—Chernobyl Legacy von Paul Fusco—, hatte ich das Gefühl, es sei meine Pflicht, nach Weißrussland zu gehen und an diesem Projekt zu arbeiten.

Was mich am meisten überrascht hat, war, dass es nicht nur die Opfer von Tschernobyl sind, die in diesen Einrichtungen untergebracht sind. Buchstäblich alle, die von der weißrussischen Regierung als „anders" angesehen werden, können aus der Gesellschaft entfernt und weggesperrt werden.

Verletzliche und benachteiligte Menschen zu fotografieren, bringt natürlich große ethische Verantwortung mit sich. Ich finde, du bist sehr gut mit diesem Projekt umgegangen, aber hattest du vorher irgendwelche Sorgen?
Probleme der visuellen Repräsentation sind schon seit geraumer Zeit ein wichtiges Thema in der Fotografie, vor allem wenn es um benachteiligte Menschen geht. Behinderung darzustellen, ist ein sehr empfindliches Thema, bei dem immer ästhetische und ethische Überlegungen eine Rolle spielen. Dokumentarfotografen und Fotojournalisten sind schon oft für ihre Herangehensweisen und ästhetischen Entscheidungen kritisiert worden, und es hat seine Gründe, warum es heutzutage fast keine Fotos von Menschen mit Behinderungen gibt. Es könnte durchaus an den früheren Herangehensweisen an dieses Thema und die großen Probleme im Bereich „gute Repräsentation" und „Andersartigkeit" liegen. Behinderte Menschen sind schon fast zu einer Metapher für Andersartigkeit geworden.

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Laut den Recherchen der visuellen Repräsentation von behinderten Menschen, die ich dieses Jahr durchgeführt habe, verändert sich unsere Einschätzung der Ethik eines Fotos, wenn wir wissen, wann und warum es entstanden ist. Mein Bewusstsein für historische Herangehensweisen an diese Themen wurde zu einem grundlegenden Bestandteil des Projekts in Weißrussland. Es hat dafür gesorgt, dass ich meine Absichten immer deutlich vor Augen hatte, wenn ich ein Foto geschossen habe.

Für mich sind die Menschen in den Einrichtungen, die ich besucht habe, unglaubliche Leute. Sie sind schön und stark. Ich will durch meine Arbeit zeigen, dass behinderte Menschen in der Lage sind zu studieren, zu arbeiten, dauerhafte Beziehungen zu führen und andere Beiträge zur Gesellschaft zu leisten. Ich finde, dass in den meisten meiner Porträts eine ungezähmte Freude erkennbar ist. Ich hoffe, die Betrachter können sie auch sehen. An so einem heiklen Thema zu arbeiten, ist schwierig. Es wird immer Kritik geben. Doch ich finde, die Leute sollten immer ihr Bewusstsein schärfen.

Hattest du irgendwelche Hindernisse zu überwinden, um in den Internaten zu fotografieren?
Ich hatte vorher noch nie an einem Projekt über geistig behinderte Menschen gearbeitet, also war meine Hauptsorge, dass ich stressigen Situationen oder Ängste hervorrufen könnte.

Welche Änderungen würdest du hinsichtlich der Internate begrüßen? Wie könnte man das Problem deiner Meinung nach lösen?
Ich würde mir wünschen, dass die Einrichtungen ihre Vorgehensweise ändern und dass sich die Lebensqualität der Menschen, die dort eingesperrt sind, bessert. Dass sich die Mentalität der Menschen in Weißrussland ändert, indem man ihnen ihre eigene versteckte Geschichte beibringt und ihnen ein bisschen klarer werden lässt, was in ihrem eigenen Land vor sich geht. Menschen mit Behinderungen sind definitiv noch immer ein ziemliches Tabu-Thema in Weißrussland, und oft ist es leichter, sie zu verlassen oder sie [an die Regierung ] „fortzugeben", als von der eigenen Gemeinde ausgeschlossen zu werden.

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Ich denke also, die Menschen in Europa sollten sich darüber im Klaren sein, dass es anhaltende Probleme mit Menschenrechtsverletzungen, schlechter medizinischer Versorgung und Hunger gibt, die sehr oft mit Armut und mangelnder Bildung einhergehen. Die Leute denken oft, dass diese Probleme mehr in Ländern der dritten Welt vorkommen und nicht an der Schwelle zur EU.

Es gibt in deinem Projekt ein Foto, das aussieht wie ein Wandgemälde von einer Frau. Welche Bedeutung hat dieses Bild?
Das ist ein altes Foto von einer Frau, der Mutter eines Hospizbewohners. Es ist sehr selten, dass die Bewohner Bilder von ihren Eltern haben, weil die meisten direkt nach der Geburt verlassen worden sind.

Allerdings hat dieses Bild für mich zwei Bedeutungen. Erstens ist es eine Metapher für das Vergehen der Zeit, für die überdauernde Sowjet-Mentalität und als Erinnerung, dass diese Probleme schon lange existieren. Und zweitens könnte es sein, dass diese unsichtbaren Menschen unsichtbar bleiben und dass sich wirklich niemand an sie erinnern wird. Es könnte sein, dass ein Foto der einzige Beweis für ihre Existenz sein wird.

Danke, Jadwiga.

Mehr Fotos aus Jadwigas Projekt, so wie die anderen Abschlussprojekte des Master-Studiengangs Fotografie des London College of Communication, gibt es vom 15. bis 23. Januar am LCC zu sehen.