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Sex

Ein letztes Mal Sex mit Hackfleisch oder: Was wir in 20 Jahren ‚Domian‘ gelernt haben

Der Mann, der Talkshows anspruchsvoll gemacht hat, zieht den Hut. Wir lassen die Karriere-Highlights von Deutschlands einzigem TV-Gott Revue passieren.
Foto: Michael von Aichberger | Wikimedia | CC BY 3.0

Wenn wir ganz ehrlich sind, gehört Jürgen Domian zum wahrscheinlich größten TV-Kulturgut, das Deutschland jemals hervorgebracht hat. Während Formate wie der Tatort zwar in schöner Regelmäßigkeit Fans und Kritiker am Sonntagabend vor den Fernseher locken, war Domian mit seiner nächtlichen Talkshow zwar konstant da, aber nie überpräsent. Ab 1 Uhr Nachts sprach der mittlerweile 57-Jährige mit seinen Anrufern über Gott, die Welt, Mord, Inzest und andere große Themen des menschlichen Zusammenlebens. Jetzt verkündete er, „häufiger die Morgensonne" sehen zu wollen und die Kult-Sendung, die sowohl im Radio (1LIVE) als auch im Fernsehen (WDR) ausgestrahlt wurde, im kommenden Jahr einzustellen. Einen konkreten Termin für seinen letzten Einsatz als Seelsorger der Nation gibt es allerdings noch nicht.

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WDR-Nachttalker Jürgen — WDR Presse & Info (@WDR_Presse)9. März 2015

Nach 20 Jahren, 20.0000 Anrufern und 200.000 regelmäßigen Zuschauern soll jetzt Schluss sein mit der Sendung des Mannes, dem wir auch noch unser dunkelstes Geheimnis verraten hätten. An dieser Stelle wollen wir uns bedanken für all die Jahre voller menschlicher Abgründe, netter Plauderei und einlullender Einschlafhilfe. Hier kommen die fünf elementarsten Erkenntnisse, die wir aus zwei Jahrzehnten Domian mitnehmen durften:

Niemand ist so ein Badass wie Domian

Seien wir ehrlich: Wie viele von uns könnten sich mit unbewegtem Gesicht anhören, wie eine Frau sich bei einem Unfall selbst skalpiert hat? Ein Bruder sich Sex mit seinen Geschwistern vorstellt, ein nekrophiler Student über seine Liebe zu Leichen spricht und eine ältere Dame erstmals offenbart, wie sie ihren Bruder bei der Vergewaltigung des Familiendackels erwischt hat? Domian ist offen, hört zu, bleibt im Rahmen des möglichen freundlich und unterstützend. Domian ist der Typ aus dem Actionfilm, hinter dem die ganze Welt in die Luft fliegen könnte, und er würde sich nicht umdrehen. 20 Jahre sind natürlich eine lange Zeit, in der man seine zwischenmenschliche Toleranz stetig erweitern und das eigene Verständnis von richtig und falsch an das der anrufenden Massen anpassen kann. Trotzdem hätten all diese schlaflosen Nächte und die Gespräche mit Tausenden Wahnsinnigen selbst Chuck Norris psychisch gebrochen.

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Liebe ist frei

Wer bei den Worten „Gummibaum" und „Hackfleisch" nicht auch irgendwie ein bisschen an Domian denken muss, hat die letzten paar Jahre unter einem Stein gelebt. Vielleicht lag es an Domians „Alles geht"-Ausstrahlung und seinem verständnisvollen Lächeln oder dem nächtlichen Sendeplatz, aber wenn es etwas gab, dass sich durch die Sendung wie ein roter Faden gezogen hat, dann waren es verstörende Sexgeschichten. Unvergessen dabei sicherlich vor allem der Typ, der sich einmal im Monat 60 Kilo Hackfleisch gekauft hat, um sich daraus eine Art biologisch abbaubare Bumspuppe zu formen. Ebenfalls unter den All-Time-Classics: Steffen, 42, der eine sehr innige Beziehung mit seinem Gummibaum Hans-Georg führt. Ohne Jürgen und seine Offenbarungssendung hätten wir niemals gewusst, dass es auch zwischen Mensch und Topfpflanze zu Eifersucht und Fremdgehen kommen kann. Danke dafür.

Reality-TV muss kein Trash sein

Krasse Geschichten aus dem echten Leben, irgendwo zwischen abstrusem Sexfetisch, kompliziertem Familiendrama und persönlichen Problemen—was im Nachmittagsprogramm von RTL bis zum Erbrechen ausgeschlachtet wird, war zwar auch immer das Erfolgsrezept von Domian. Statt die Leute vorzuführen und sie in eine vorher festgelegte Handlungsschablone zu pressen, gab der Moderator seinen Anrufern aber immer Raum zur Selbstentfaltung. Ob sich die Leute wirkliche Hilfe von dem sympathischen Hirschfan versprachen oder einfach nur einen anonymen Raum brauchten, um sich einmal alles von der Seele zu reden, verkam da zur Nebensache. Wer psychologische Auffälligkeiten zeigte oder sich in einer offensichtlichen Gefährdungssituation für sich selbst oder andere befand, wurde von Domian an psychologische Hilfsstellen verwiesen. Niemand wurde ausgelacht, keinem offensichtlich das Gefühl gegeben, abnorm zu sein. Statt schnarrendem Off-Text gab es bei Domian ein verschmitztes Lächeln und eine interessierte Nachfrage.

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Auf dem Papier gibt es vielleicht keinen großen Unterschied zwischen den hysterischen Talkshows der 90er und frühen 2000er á la Arabella und Britt, allerdings zeigen 1LIVE und WDR mit ihrem Format, dass der Zuschauer weder für dumm verkauft, noch von den Protagonisten einer Geschichte angeschrien werden muss, um Interesse zu zeigen. Seit Jahren ist die Sendung das perfekte Beispiel dafür, wie man persönliche Schicksale weder überinszenieren noch scripten muss, um sie interessant zu machen. Und dass Selbstentblößung nicht zwingend mit Selbsterniedrigung und Vorführung zusammenhängen muss.

Hirsche sind die besten Tiere

— Karsten Schmehl (@schmarsten)10. März 2015

Was wäre Domian ohne sein Hemd und seinen Hirsch? Ein nackter Typ, der in einem ziemlich leeren Studio mit Leuten telefoniert, die Fleischwaren ficken. Vor allem aber nicht derselbe. Während sich Deutschlands bekanntester Seelsorger eine Nacht nach der anderen mit intensiven Gesprächen um die Ohren geschlagen hat, war das edle Wildtier in strahlend weißem Porzellan immer an seiner Seite. Den Kopf in den Nacken gelegt, das Maul zu einem stillen Schrei aufgerissen—eine Pose der Ursprünglichkeit, ein Symbol für das Instinkthafte im Menschen. Wir wissen nicht, was mit dem Hirsch jetzt passieren wird. Vielleicht kommt er in ein Museum, vielleicht auf einen Beistelltisch im Domian'schen Wohnzimmer. Womöglich lässt man ihn aber auch einfach in dem Studio, das die letzten Jahrzehnte sein ständiges Zuhause war, stehen. Als eine Art Mahnmal, damit nie vergessen wird, welche Lücke das Ende dieser Sendung in die kollektive Seele Deutschlands gerissen hat.

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Nicht nur Gott erteilt Absolution

Foto: Michael von Aichberger | Wikimedia | CC BY 3.0

Warum irgendjemand den allgemeinen Kult um Seelsorge-Gott Domian übertrieben finden sollte, entzieht sich jeglichem Verständnis. Ist es nicht das Christentum, das grundlegend auf dem Verständnis von Schuld, Sühne und Absolution beruht? Wer seine Verfehlungen beichtet, kann begnadigt werden, und wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Domian ist die konkreteste Entsprechung des christlichen Gottes in unserer Welt. Er ist sanft und weise, wittert er großes Unrecht, lässt er aber auch seinen Zorn auf uns niederfahren und trotzdem liebt er all seine Schäfchen da draußen und grüßt jeden erst einmal mit einem wahrhaft engelsgleichen Lächeln.

Nur im WDR konnte man Gott direkt anrufen und entweder erscheint uns 2016 der Messias oder das Ende ist nahe.

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