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Ultra-orthodoxe Juden boykottieren die israelische Armee

Weil ein neues Gesetz die Befreiung ultra-orthodoxer Juden vom Militärdienst in Israel beenden will, sind eine halbe Million Haredim auf die Straße gegangen.

Hunderttausende ultra-orthodoxe Juden—Haredim—versammelten sich am Sonntag im Zentrum Jerusalems, um gegen die Wehrpflicht zu protestieren. Im Moment sind sie noch vom Wehrdienst befreit, damit sie ihren orthodoxen Lebensstil ausleben können. Aber ein neuer Gesetzesentwurf könnte das ändern, und darüber sind die Haredim nicht glücklich.

Am Sonntag verwandelte sich Jerusalem in ein Meer aus schwarzen Hüten, weißen Hemden und langen Bärten. Es gab keine feurigen Reden oder Sprechchöre. Stattdessen kamen Unmengen von Haredim, um zu beten. Zur Mincha, dem Nachmittagsgebet, beteten die Männer die Amidah, ein stummes Gebet, dass im Stehen verrichtet wird. Körper jeder Größe wiegten sich vor und zurück, während Lippen sich lautlos bewegten. Die Haredim-Führer hatten alle Männer über neun Jahren aufgefordert, an dem Protest teilzunehmen. Sogar Frauen wurden aufgefordert, obwohl sie abseits der Männer am Rande der Menge in abgetrennten Gruppen standen. Man rechnete mit 500.000 Teilnehmern, die Lokalpresse sprach im Nachhinein von 250.000 bis 400.000. In jedem Fall war es die größte Menschenmenge, in der ich je gestanden habe. Trotzdem war es gespenstisch still.

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Bis letztes Jahr waren Ultra-Orthodoxe vom Dienst in der israelischen Armee befreit, und zwar seit der Gründung des Staates 1949. Während die Armee sonst jeden Bürger oder Aufenthaltsberechtigten ab 18 einziehen darf, können junge Haredim die Wehrpflicht umgehen, wenn sie religiöse Texte in sogenannten Yeshivas studieren. Die Haredim halten dieses Studium für einen mindestens ebenso wichtigen—wenn nicht wichtigeren—Beitrag zum Judentum. Die Wehrpflicht sehen sie als eine Art religiöser Verfolgung, die ihnen das Recht auf Ausübung ihres Glaubens verwehrt und sie in einen säkulareren Lebenswandel ziehen soll.

Viele der jüdischen Bewohner Israels sind nicht sehr gut auf die ultra-orthodoxe Gemeinde zu sprechen. In ihren Augen weigern sich die Haredim, zur Gesellschaft beizutragen und stellen eine finanzielle Bürde für das ganze Land dar—während sie gleichzeitig durch die rabbinischen Gerichte kulturelle Kontrolle über säkulare und liberale Juden ausüben. Zehn Prozent der acht Millionen in Israel lebenden Juden sind Haredim. Sie erhalten am meisten finanzielle Unterstützung vom Staat und sind gleichzeitig eine der demographischen Gruppen mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Und ihr Bevölkerungsanteil wächst stetig—Schätzungen zufolge wird in 25 Jahren ein Viertel aller Juden in Israel ultra-orthodox sein.

Während des Protests kam ein Teenager namens Haim zu mir und fragte mich, ob ich tefilin anziehen wolle—zwei kleine schwarze Schachteln mit Torah-Rollen, die man an den Armen trägt. Ich habe höflich abgelehnt und ihn gefragt, wie er den Protest findet. Haim wurde in Jerusalem geboren und würde in die Armee eingezogen werden, wenn das neue Gesetz verabschiedet wird. Er glaubt, dass der Staat versucht, religiöse Jugendliche von ihrem frommen Lebenswandel wegzulocken, aber die heutige Demo hat ihm für die Zukunft Mut gemacht. „Die ganze Gemeinde legt ihre Meinungsverschiedenheiten beiseite und versammelt sich zum Wohle aller“, sagte er. Er glaubt, dass das Gesetz trotzdem verabschiedet wird aber meint: „Dieser Protest ist dazu da, der Welt zu zeigen, dass wir dagegen sind. Wir sind dagegen, dass der Staat das Gebet abschaffen will.“

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2012 erklärte der Oberste Gerichtshof das Gesetz über die Ausnahmeregelung aufgrund der Ungleichheit für illegal. Letzten Monat hat die Regierung einen Gesetzesentwurf vorgelegt, nach dem eine bestimmte Anzahl von Yeshiva-Studenten eingezogen werden müsste, während noch eine bestimmte Anzahl von Ausnahmen gemacht würde. Wer sich weigert, könnte im Gefängnis landen. Obwohl das Gesetz noch diesen Monat verabschiedet werden soll, würde es erst in drei Jahren in Kraft treten—in der israelischen Politik ist das eine lange Zeit. Die Haredim-Gemeinde will den Druck durch Demonstrationen und Gebete aufrecht erhalten und hofft so, das Gesetz zu kippen, bevor es in Kraft treten kann.

Der Protest war eine beeindruckende Demonstration der Massen, die die Ultra-Orthodoxen mobilisieren können. Die Hauptstraßen in die Stadt wurden gesperrt. Der zentrale Busbahnhof und die Nahverkehrsbahn wurden geschlossen. Tausende Polizisten waren im Einsatz, um die Gewalt zu verhindern, die in letzter Zeit immer wieder bei ultra-orthodoxen Protesten ausgebrochen ist. Am Sonntag hielten sich die Polizisten allerdings merklich von der Masse fern.

Flyer mit Protest-Slogans bedeckten die Straße, während Jungen Schilder hoch hielten, auf denen auf Englisch und Hebräisch „Die israelische Regierung verfolgt gläubige Juden und trampelt auf ihnen herum!“ und „Ihr habt das Problem geschaffen, als ihr den Staat Israel geschaffen habt. Verlangt nicht von uns, es zu lösen, indem wir den IDF beitreten!“ stand. Der zweite Spruch verdeutlicht den starken Anti-Zionismus, der in einigen Teilen der Haredim verbreitet ist, vor allem bei den chassidischen Juden.

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Chassidische Juden glauben an eine Spielart des ultra-orthodoxen Judentums, die im Europa des 18. Jahrhunderts entstand. Die Chassidim lehnten schon den frühen Zionismus ab, weil sie der Tendenz zum Säkularismus misstrauten und glaubten, dass die Juden Gott versprochen hatten, nie mit Gewalt einen Staat in Israel zu errichten. Deshalb sind sie natürlich nicht sehr zufrieden damit, wie die Dinge seit Israels Gründung gelaufen sind.

Eine der größten anti-zionistischen Konfessionen, die Satmar, haben große Gemeinden in Williamsburg und Brooklyn in New York und Stamford Hill in London. Die Satmar lehnen den israelischen Staat so rigoros ab, dass sie nicht einmal finanzielle Unterstützung von der Regierung akzeptieren. Einer ihrer religiösen Führer hat neulich den „Jihad gegen die israelische Regierung“ erklärt.

Ich traf mich vor Beginn des Protests mit Yakov, einem 20 Jahre alten chassidischen Satmar aus England, der mir sagte „es ist besser, zum Islam zu konvertieren als zur Armee zu gehen.“ Er erklärte: „Dann ist man immerhin noch Monotheist. Bei der Armee verehrt man den Staat.“ Yakov ist gegen jede Einmischung in das, was er den „reinen“ Lebenswandel nennt. Für ihn bedeutet Chassid zu sein, ein Leben voller Gebet. Er erklärt, durch das Befolgen von strengen Regeln und täglichen Ritualen, die seinem Leben einen tiefen Sinn geben, habe er eine engere Bindung zu Gott.

Er sieht nichts unaufrichtiges daran, als Anto-Zionist in Israel zu leben. „Ich habe keine andere Wahl, ich will in einer Umgebung leben, wo ich im religiösen Leben eintauchen kann. In Mea Shearim [einer chassidischen Enklave in Jerusalem] zu leben, hält mich rein. Ich kann rausgehen und nichts Säkulares sehen.“ Während es für Chassidim ein idyllischer Ort sein mag, brechen in Mea Shearim immer wieder regelrechte anti-staatliche Krawalle aus. Letzten Juli musste eine junger Haredim-Soldat, der seine Familie in der Nachbarschaft besuchte, von der Polizei vor einem wütenden Mob gerettet werden.

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Weil Yakov kein israelischer Staatsbürger ist, müsste er keinen Wehrdienst leisten. Trotzdem lehnt er die Idee nachdrücklich ab und glaubt nicht, dass die Regierung ihre Drohungen wahrmachen kann, Verweigerer ins Gefängnis zu stecken. „Sie können nicht jeden Yeshiva-Studenten verhaften“, sagt er. „Sie müssten schon Internierungslager für sie bauen, und wie würde das denn aussehen? Juden in Lager zu stecken?“

Er hat nicht ganz unrecht.

„Sogar wenn sie das machen würde, würden wir Yeshivas im Gefängnis bilden. Wir werden lernen, egal wo sie uns hinstecken.“

Nachdem das Gebet beendet war, schmetterte religiöse Musik aus den überall aufgetürmten Lautsprechern. Die Stimmung war festlich, und die jungen Haredim fingen an, Arm in Arm in großen Kreisen zu tanzen. Bei Sonnenuntergang füllten zehntausende Haredim die Strassen. Durch ihre große Zahl ermutigt, schienen sie zuversichtlich, dass Gott ihre Gebete erhören würde. Ob dank politischer Manöver oder eines göttlichen Eingriffs, hatte Yakov mir vorher erklärt, „eine Sache ist sicher: wir werden nicht in der israelischen Armee dienen.“

@daniel_tepper