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Angewichst, gedemütigt und vergiftet

Wir wachsen mit sexueller Gewalt auf und vergessen, dass sie nicht normal ist.
Foto von Michael ​

Foto von Flickr; Ira Gelb; CC BY-ND 2.0

Ich habe in meinem Umfeld mehr Frauen, die bereits Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen machen mussten, als Freundinnen, die noch nie dumm angelabert, angefasst oder sogar bedrängt wurden.

Sexuelle Gewalt integriert sich hervorragend in unseren Alltag und das Thema ermüdet die breite Masse fast genauso, wie der drohende Klimawandel. Das riesige Problem dabei ist, dass Frauen von klein auf vermittelt bekommen, selber bis zu einem bestimmten Punkt mit schuld zu sein.

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Für mein 10-jähriges Ich war es das grösste überhaupt, bei meiner Freundin zu übernachten. Sie hatte einen Hund, einen Schrank voll Popcorn, Schokolade und Chips und einen Fernseher in ihrem Zimmer. Ihr Vater kam gegen Mitternacht ins Zimmer, um unsere überdrehten Gemüter zu bändigen und das Licht auszuknipsen. Plötzlich hielt er inne und erklärte uns mit theatralisch schreckensgeweiteten Augen, dass soeben eine Spinne in mein Pyjama-Bein gekrabbelt sei. Wir sollten uns nicht bewegen und er würde das „Ding" schnell rausfischen.

Foto von Flickr; Roga muffin; CC BY-ND 2.0

Nach fordernden Nachforschungen zwischen nackten Kinderschenkeln entschied er sich dann, doch keine Spinne gesehen zu haben und verschwand. Die Stimmung war plötzlich getrübt. Ich fühlte mich schuldig und überlegte mir, nun eigentlich erleichtert sein zu müssen, zumal es ja keine Spinne gab. Dafür einen Spinner, der—wie ich Jahre später erfuhr—fünf Jahre später wegen Kindsmissbrauch ins Gefängnis ging.

Natürlich ist es nicht die Norm, als Kind einem Pädo ausgesetzt zu sein. Doch auch unter Kindern werden häufig Grenzen der Ehre und der sexuellen Integrität verletzt. Wenn eine ganze Schulklasse auf dem Pausenhof ein heulendes Mädchen festhält, damit ein Junge es küssen kann, dann werden definitiv falsche Botschaften gestreut.

Ich war das heulende Mädchen und damals noch einen halben Kopf grösser als die meisten Jungs in meiner Klasse. Auf dem Nachhauseweg wurden Grössenunterschied und meine Wut dem Bub zum Verhängnis. Ich verpasste ihm ein Veilchen und stellte meine Ehre wieder her.

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In der Oberstufe hätte ich den Kürzeren gezogen, wenn ich meine Mitschüler verprügelt hätte. Freitags mussten wir immer gewisse Ämtchen abhandeln. Ich sollte die Zeitungen bündeln und im Lift versorgen. Als ich die Bündel ordentlich aufeinandergestapelt hatte, stürzte plötzlich ein Junge aus der Parallelklasse in den Fahrstuhl, schloss die Tür und drückte auf den Knopf.

Die Zeit, in der wir eine Etage nach unten fuhren, kam mir vor, wie eine Ewigkeit. Seine Hände an meinen Brüsten und sein dämliches Grinsen verursachten Übelkeit. Seine Freunde empfingen uns johlend und klopften ihm gratulierend auf die Schulter. Der Schulsozialarbeiter erklärte mir später, dass ich den Testosteron-Überschuss als Kompliment verstehen sollte.

Foto von Flickr; Zardozdue; CC BY 2.0

Auch als erwachsene Frau höre ich immer wieder, ich solle plumpe Anmachen und Gegrabsche im Club als Kompliment verstehen und meine Mutter riet mir einmal, meine langen, blonden Haare kurz abzuschneiden und zu färben.

In was für einer verqueren Gesellschaft leben wir, wenn Frauen nach wie vor glauben gemacht werden, dass Übergriffe etwas mit ihnen selber und ihrer Wirkung auf die Aussenwelt zu tun haben. In den USA hat sich dafür die Bezeichnung „victim blaming" durchgesetzt. Ein Taxifahrer fragte mich kürzlich, ob ich mein Einkommen nicht etwas aufbessern wolle. Viele Studentinnen würden das machen und er sei auch ganz lieb. Mann geht in Selbstverantwortung durchs Leben und möchte seine Urteilsfähigkeit nicht abgesprochen bekommen. Die Masche der „Opfer seiner Triebe" begründet nichts.

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Nachdem ich in den letzten Jahren drei Mal mit GHB vergiftet wurde und mindestens einmal an einer Vergewaltigung nur knapp vorbeigeschrammt bin, ertrage ich es nicht mehr, Kleinigkeiten wie eine Hand am Po oder die zugeflüsterte Aufforderung „Blas mir einen!" im Tram gleichgültig hinzunehmen. Wie in der Primarschule Selbstjustiz walten zu lassen, ist aber keine (zumindest dauerhafte) Lösung und der Weg zur Polizei erscheint oft zu übertrieben oder zu aufwändig.

Foto von Flickr; Peter; CC BY 2.0

Kürzlich bin ich mit meinem Rad zur Arbeit in einen Club gefahren, wo ich ein Public Viewing organisiert habe. Es war im Sommer, sieben Uhr abends, ich trug Alltagskleidung. Schon ziemlich bald bemerkte ich einen grauen Mercedes, der hinter mir herfuhr. Platz zum Überholen gab es genügend. Ich scherte mich nicht wirklich um den Autofahrer hinter mir, der mir durch verschiedene Seitenstrassen folgte. Doch dann kam ich zu einer Parklücke. Als ich gerade vorbeifahren wollte, gab der Mercedes-Fahrer Gas und zwang mich so, in die Lücke zu fahren, um ihn vorbei zu lassen.

Doch statt vorbeizufahren hielt er an; ich war zugeparkt. Er grinste mir ins Gesicht und bedeutete mir bei offenem Fenster und offener Schnösel-Hose, meinen Blick nach unten zu verlagern. Er war seinem Höhepunkt nahe und knetete sich—mich angrinsend—seinem Ziel entgegen. Er schien sein Erbgut nicht verschwenden zu wollen und zielte affektiert auf mein T-Shirt.

Das Shirt blieb sauber, mein Kopf voller Wut und Adrenalin. Im Zahlenmerken war ich zwar immer eine riesige Null gewesen, aber dieses Kennzeichen hat sich mir ins Hirn gebrannt und ihm einen Eintrag in sein Strafregister beschert. Der Migrationsbehörde wurde sein „Ausrutscher" ebenfalls mitgeteilt, da sich der US-Bürger aber in der Chefetage des Basler Universität-Spitals rumtreibt und wohl ordentlich Steuern abdrückt, werden ihm die 5000 Franken Busse, die ihm sein Feierabend-Amüsement eingebracht hat, nicht wirklich wehtun.

Foto von Flickr; Mitya Ku; CC BY-SA 2.0

Dass ich zur Polizei gegangen bin und den Typen angezeigt habe, hat mir in meinem Umfeld sogar noch Kritik eingebracht: „Der hat halt ein Problem. Testosteron-Überschuss. Aber mit einem Gerichtsverfahren kannst du ihm sein Leben zerstören. Das ist dir hoffentlich bewusst." Das ist Rape Culture.

Titelfoto von Flickr; michael; CC BY-ND 2.0