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Die Kriegsschiffinsel – Japans verlassene Metropole

Früher war es einer der am dichtest bevölkerten Orte der Welt. Heute landet auf der japanischen Insel Hashima nur noch die Vogelscheiße von vorbeifliegenden Möwen.

Das einzige, das diese Tage auf der japanischen Insel Hashima landet, ist die Vogelscheiße von vorbeifliegenden Möwen. Die etwa eine Stunde Bootsfahrt vom Hafen von Nagasaki entfernte Insel verfällt seit drei Jahrzehnten langsam und von Menschen nahezu unbeobachtet. Zuvor war die Insel, auf der sich eine einstige Kohlemine von Mitsubishi befindet, einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt. Es lebten auf der Insel—in Hochhäusern neben- und aufeinandergestapelt—bis zu 13.000 Menschen pro Quadratkilometer.

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Die Mine, die 1887 eröffnete, war schon fast 100 Jahre in Betrieb, als die Kohlenindustrie in den 1970er Jahren weltweit in die Krise geriet und 1974 schließlich das Schicksal von Hashima besiegelte. Ohne Jobs gab es für die ehemaligen Arbeiter keinen Grund mehr, in dieser urbanen Hölle im Kleinformat zu bleiben. Nahezu über Nacht flohen fast alle Einwohner Hashimas zurück aufs Festland. Was sie nicht brauchen und mitnehmen konnten, überließen sie Wind und Wetter.

Heute ist es illegal, sich auch nur in die Nähe der ehemals dicht besiedelten Industriestadt zu wagen. Die zerfallenen Ruinen—bei denen keine Restauration mehr helfen würde—sind eine Gefahr für jeden, der sich in ihnen bewegt. Die Regierung hat zudem kein großes Interesse daran, Aufmerksamkeit auf diesen Schandfleck der industriellen Nachkriegswirtschaft Japans zu lenken.

Als Strafe für einen Besuch auf der Kriegsschiffinsel blühen einem 30 Tage Gefängnis und eine Ausweisung aus dem Land der aufgehenden Sonne. Nach einem Deal mit einem Fischer landete ich kurz vor Sonnenaufgang mit ein paar Freunden trotzdem auf der verlassenen Insel.

Das war gar nicht so einfach. Im Hafen in Nagasaki findet man eher mit alten Menschen beladene Kreuzfahrtschiffe oder mit Öl befüllte Tanklaster, als Fischer mit schiefen Zähnen, die für ein kleines Zubrot das Gesetz brechen würden. Deshalb nahmen wir frühmorgens eine Fähre auf die noch immer bewohnte Insel Takashima, die am nächsten bei Hashima liegt.

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Nachdem wir schon eine Zeit lang herumgefragt hatten—und uns jeder Japaner nach ein paar Sätzen freundlich den Rücken zukehrte—, fanden wir schließlich unseren Mann. Die Regeln des japanischen Anstands gebieten es, nie direkt zu sagen, was man eigentlich will. Deshalb wussten wir selbst an Deck noch nicht genau, ob wir tatsächlich einen Fuß auf Hashima setzen würden. Wir hatten mit unseren Seemann nur vereinbart, uns nahe genug zur Insel zu bringen, um sie zu sehen.

Als wir die Insel das erste mal erblickten, stach uns sofort die Architektur der Wellenbrecher ins Auge, die ihrer Form nach an ein Kriegsschiff erinnern und der Insel ihren inoffiziellen Namen bescherten: „Gunkanjima"—die Kriegsschiffinsel.

So langsam wie wir der Insel näher kamen, so langsam führten wir auch das Verhandlungsgespräch mit unseren Fischersmann fort. Erst als wir unsere Füße auf die Insel setzten, stimmte er schließlich zu, uns in ein paar Stunden wieder abzuholen.

In manchen Gegenden der Insel sind sämtliche Fassaden der Gebäude schon vor langer Zeit zu Boden gestürzt. Dahinter zeigen sich die ehemaligen Behausungen der Minenarbeiter mit erodierten Fernsehtischen, von denen vor langer Zeit Fernsehgeräte aus den 70er Jahren hinuntergefallen sind.

Es ist schwierig sich vorzustellen, wie Menschen hier einst gelebt haben. Aber die Abwesenheit von öffentlichen Plätzen an der frischen Luft, die gefängnisartigen Wellenbrecher und die Anzahl an Menschen müssen eine klaustrophobische, unangenehme Stimmung erzeugt haben, so als würdest du Teil einer Ameisenfarm sein.

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Persönliche Überbleibsel lagen überall verstreut herum—alte Schuhe, Shampooflaschen, Zeitungen und sogar Poster, mit denen Jugendliche ihre Zimmerwände schmückten—und waren der anschaulichste Beweis dafür, dass hier wirklich einmal Menschen ein Leben geführt haben.

Wir besuchten die leeren Klassenräume der alten Schule. Die verrosteten Gerüste von Tischen und Stühlen lagen vor der Tafel, auf der sich die verblassten Kreidespuren der letzten Schulstunde vor 30 Jahren abzeichneten.

Vom obersten Stock betrachteten wir die ehemalige Aula, deren Decke schon vor langer Zeit einstürzte. Es war offensichtlich gefährlich dort herumzuspazieren. Wir marschierten über Querverstrebungen, die irgendwann von der Decke gefallen sind.

Im neunten Stock eines Wohnblocks betrat ich eine ehemalige Wohnung, um den Meeresblick vom Fenster aus zu genießen. Den traditionellen Tatamiboden unter meinen Füßen, den wohl noch nie zuvor ein Straßenschuh betrat, gefiel diese neuartige Erfahrung nicht. Der Boden gab nach, mit einem ohrenbetäubenden Lärm öffnete sich der Grund unter mir. Ich fiel…

…etwa einen Meter. Aber das war genug, dass wir alle ausflippten und unsere weitere Begehung mit erheblich mehr Vorsicht fortsetzten.

Mit einer Fläche von nur 6,3 Hektar ist die Insel wirklich klein. Das merkt man nicht so richtig, wenn man in den die Perspektive verzerrenden Hochhäusern steht und nach unten blickt. Deshalb haben wir abschließend noch den zentralen Wachturm auf der Insel besucht, dessen Verbindungswege heute nicht mehr nutzbar sind.

Uns kam nie in den Sinn, dass unser Transportboot nicht zurück kommen könnte, um uns abzuholen. Wir waren mehr besorgt über die kurze Zeit, die uns auf dieser Insel blieb, und das wir möglichst viel von diesem ungewöhnlichen Ort aufsaugen konnten.

Und dann, zwei Tage nachdem dies geschrieben wurde, machte die Insel auf Beschluss der Regierung plötzlich wieder auf. Seit April 2009 ist Hashima wieder für Besucher zugänglich.