Wie ich als 14-jähriger Jude aus Israel in eine NPD-Hochburg zog
© Johann Sebastian Hänel

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Wie ich als 14-jähriger Jude aus Israel in eine NPD-Hochburg zog

"In nachdenklichen Momenten stelle ich mir vor, was aus mir geworden wäre, wäre ich 50 Jahre früher auf die Welt gekommen. Ein Stück Seife? Eine Lampe? Arische Turnschuhe? Es gab so viele Möglichkeiten!"

Shahak Shapira ist Israeli, Berliner und hat einen durchschnittlich großen Penis. Seine Hobbys sind Hummus, Death Metal und keinen Diabetes haben. Mit 14 Jahren verließ er Israel gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngerem Bruder und landete in einer gottverlassenen NPD-Hochburg in Deutschland. 2015 wurde Shahak für 2,5 Minuten bekannt, nachdem er in der Berliner U-Bahn antisemitische Gesänge filmte und dafür von einer Horde junger Männer angegriffen wurde. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung, in die Heimat zurückzukehren. Dann bot ihm ein skrupelloser Verlag an, für lächerlich viel Geld ein Buch zu schreiben. Er stimmte aus purer … ähm … "Leidenschaft" … zu. Nun schreibt er über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt und über seine Familie. Seine Botschaft: Jeder entscheidet selbst, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht.

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Umleitung.

Das ist mein erstes deutsches Wort. Obwohl Hitler damals angeblich so klasse Autobahnen gebaut hat, ist der Weg vom Leipziger Flughafen voll davon. Eigentlich hat Konrad Adenauer die Autobahn erfunden, schon in den zwanziger Jahren, aber die Burschen, die in ihren tiefergelegten Nissan Micras mit hundertsechzig Stundenkilometern zu harten Böhse-Onkelz-Platten über jene Asphaltwunder germanischer Ingenieurkunst fahren, sind in der Regel keine Geschichtsexperten.

Es ist der 4. Juli 2002. In unserem Auto, einem hochwertigen Geländewagen von Mitsubishi, läuft "Mensch" von Herbert Grönemeyer—die erste Strafe, die ich als Jude in Deutschland erdulden muss. Es tut gleichmäßig weh. Olaf, der neue Freund meiner Mutter, erzählt uns, wie Grönemeyer sich nach dem Tod seines Bruders und seiner Frau zurückgezogen hat und nun mit einem neuen Album in die Musikszene zurückgekehrt ist. Noch ahnen wir nicht, dass dies das meistverkaufte Album der deutschen Musikgeschichte werden wird.

Olaf und meine Mutter haben sich durch ihr gemeinsames Engagement für die deutsch-israelischen Beziehungen im Sportbereich kennengelernt. Sie sprechen einen exotischen Mix aus Deutsch, Englisch und Hebräisch—er nennt sie Baby, sie nennt ihn Nudnik, was auf Jiddisch so viel wie "Nervensäge" bedeutet. Wir fahren von der A9 in eine weitere Umleitung ab, die idyllische Landschaft der sachsen-anhaltinischen Provinz entfaltet sich vor unseren Augen. Burgenlandkreis, so nennt sich diese Gegend. Die von der Saale abfließende Unstrut schlängelt sich zwischen üppigen Weinbergen, mittelalterliche Schlösser flüstern alte Geschichten, und majestätische Sonnenblumen bedecken die Felder wie ein frisch bezogenes Bett. Es ist so beschissen.

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Die "Toskana des Nordens"—so wird das Unstrut-Tal von skrupellosen Tourismuswerbern tatsächlich genannt. Mitten in dieser Mischung aus mittelmäßiger Natur und sparsam gestreuter Kultur befindet sich unser zukünftiger Wohnort: Laucha. Der Name "Laucha" kommt aus dem Slawischen und bedeutet so viel wie sumpfiges Gelände oder morastige Wiese. Eine Kleinstadt mit etwa 3.000 Einwohnern, einer Kirche und einen Kebabstand, der der wahrscheinlich einzigen vietnamesischen Familie im Radius von fünfzig Kilometern gehört.

Dementsprechend kann man im kleinen Bistro am Marktplatz nicht nur die feinste Selektion von saftigen Scheiben aus dem rotierenden Fleisch-Klumpen bestellen, sondern auch ein authentisches Bami Goreng. Ist zwar ein indonesisches und kein vietnamesisches Gericht, aber Hauptsache aus Tokio. Oft leiden Restaurants, die gleich mehrere Küchenstile mit Kebabspieß und Wok kulinarisch vergewaltigen, unter einem schlechten Ruf. Zu Recht! Man kann nicht in allen Nationalgerichten dieser Welt brillieren. Für einen Vogel ist das Fliegen Arbeit genug, er muss nicht auch noch Schwimmen lernen. Was gibt es allerdings für ein schöneres Zeichen der Integrationsbereitschaft, als wenn der einzige Kebab einer Stadt in Sachsen-Anhalt von Vietnamesen am Spieß gedreht wird?

Ein weiteres Highlight ist das Gymnasium Laucha, das stolz den Titel "Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage" trägt. Es ist ein modernes Gebäude aus Glas und Metall. Als einzige Schule in der gesamten Bundesrepublik bietet das Gymnasium Luft- und Raumfahrt als Unterrichtsfach an, und es besitzt einen eigenen Weinberg, der von den Schülern der Weinbau AG bewirtschaftet wird. Es war ja nicht alles schlecht in Laucha. Mein persönliches Nonplusultra am Gymnasium war allerdings die Tatsache, dass das Schulgebäude, anders als meine Schule in Israel, nicht von einem fünf Meter hohen Zaun umgeben war. Keine Security am Eingang, kein Metalldetektor, keine Taschenkontrolle—die Kinder konnten die Schule nach Lust und Laune betreten und verlassen. Donnerwetter! Eine Welt ohne Terrorgefahr lächelte mich fröhlich an, und ich lächelte nicht zurück. Ich war ein pessimistisches Kind.

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Was gibt es für ein schöneres Zeichen der Integrationsbereitschaft, als wenn der einzige Kebabstand einer Stadt in Sachsen-Anhalt von Vietnamesen betrieben wird?

Unser Mitsubishi-Jeep rollt durch die Hauptstraße am Rathaus vorbei, wo sich die Dorfjugend von Welt so trifft. Als der Wagen vor der Bahnschranke stehen bleibt, sehe ich einen glatzköpfigen Mann auf einem kleinen Fahrrad am Straßenrand. Sein Gesicht ist gepierct, die Haut von Tätowierungen bedeckt. Es ist ein sonniger Tag mitten im Juli, und die kurze Hose bedeckt nicht mal ansatzweise das riesige Hakenkreuz auf seinem Bein. Willkommen in Laucha.

Gehen drei Juden nach Sachsen-Anhalt …—klingt wie ein schlechter Witz. Ich werde oft gefragt, wie ein vierzehnjähriger Israeli ausgerechnet in diesem Kaff landen konnte. Es ist ja auch absurd, aber welcher Israeli weiß schon, wie es in der ostdeutschen Provinz zugeht? Die Defizite in den ostdeutschen Bundesländern aufgrund der Teilung waren uns fremd, unsere Mauer in Israel steht ja noch, und genau wie Tel Aviv von weitem wie das Miami des Nahen Ostens funkelt, sieht Laucha auf den ersten Blick nicht viel anders aus als jedes andere langweilige Drecksloch in der Pampa.

Wer hätte gedacht, dass die NPD bei der Kommunalwahl von 2009 mit stolzen 13,5 Prozent in Laucha das höchste Ergebnis in Sachsen-Anhalt einfuhr? Oder, dass sich die rechtsextreme Szene hier ungestört austoben darf, angeführt vom örtlichen Bezirksschornsteinfeger, der wirklich exakt wie eine Mischung aus Adolf Hitler und Wolfgang Petry aussieht (Lutz Battke heißt der Mann—let me google it for you)? Ich hätte es nicht geahnt. Aber ich kannte bis dato in Deutschland auch nur Herbert Grönemeyer. Und Hitler.

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Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau meine Mutter mich und meinen jüngeren Bruder fragte, ob wir nach Deutschland ziehen wollten. Ich fand die Idee aufregend, denn Israel zeichnet sich nicht gerade durch eine hohe Lebensqualität aus. Ein paar Jahre vorher, 2000, nach mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern, führte die zweite Intifada zum Lynchmord an zwei israelischen Reservisten, die sich nach Ramallah verirrt hatten. Ein Mob von über tausend Palästinensern überfiel sie. Sie schlugen sie zu Tode, stachen ihnen die Augen aus, rissen die Innereien auseinander. Militärische Angriffe folgten, Selbstmordattentate, Autobomben, Hass erzeugte Hass.

Insgesamt verloren über 3.000 Palästinenser und mehr als 1.000 Israelis ihr Leben während der zweiten Intifada. Mein letztes Jahr in Israel war eines der blutrünstigsten überhaupt. Allein im März 2002, vier Monate vor unserem Umzug, starben über 130 israelische Zivilisten durch Selbstmordattentate. Einen Monat später kamen etwa 500 Palästinenser in einem Flüchtlingslager in Jenin zu Tode. Zwanzig Tage bevor wir Israel verließen, begann der Bau einer 759 Kilometer langen Absperrung, einer Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland, und die Angst, die in Israel damals zur Tagesordnung gehörte, war vorerst in Vergessenheit geraten.

Ganz offiziell wohnte ich von nun an also in der Eckartsbergaer Straße. Eck-arts-fucking-bergaer Straße.

Meine Mutter beschrieb unsere Auswanderung als eine Art diplomatische Mission, die lediglich ein Jahr dauern sollte. Doch ich wusste schon damals, dass ich nicht zurückkommen würde. Wahrscheinlich war es ihrerseits ein Versuch, die Tatsache zu rechtfertigen, dass ausgerechnet sie, die Tochter eines Holocaust-Überlebenden, in das Land zurückkehrte, in dem man vor nicht allzu langer Zeit Juden in Dünger für Sauerkraut verarbeitet hatte. In nachdenklichen Momenten stelle ich mir vor, was aus mir geworden wäre, wäre ich 50 Jahre früher auf die Welt gekommen. Ein Stück Seife? Eine Lampe? Arische Turnschuhe? Es gab so viele Möglichkeiten!

Ganz offiziell wohnte ich von nun an also in der Eckartsbergaer Straße. Eck-arts-fucking-bergaer Straße. Stellen Sie sich vor, Sie wandern nach Deutschland ein, als kleiner Junge, lange vor den Zeiten von Smartphone und Google Maps, sprechen kein Wort Deutsch und landen in einer Straße mit so einem Namen. Zwanzig Buchstaben! Welche Straße in dieser Kleinstadt braucht denn bitte schon zwanzig Buchstaben? Vielleicht haben ja Nazis die Straße kurz vor unserer Ankunft umbenannt ("Wenn die grenzdebilen Ausländer es nicht schaffen, sich zu merken, wo sie überhaupt wohnen, werden sie sich auf ihrem fliegenden Teppich zurück ins Judenland verpissen")? Jede ultraorthodoxe Familie in Jerusalem hat mehr Kinder als Laucha Straßen, und keins von ihnen heißt Eckartsbergaer.

Doch wir ließen uns nicht beirren. Und so haben die drei Israelis von der Eckartsbergaer Straße ihre Koffer ausgepackt, in dieser isolierten Oase mitten im braunsten Ort Sachsen-Anhalts, um sich dem Bofrost-Katalog zu widmen, völlig begeistert von der zivilisatorischen Errungenschaft, dass ein Mann mit einem Lkw auf Bestellung tiefgekühlte Pizzen ins Haus bringt.

Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel "Die Ödyssee" aus Shahaks Buch DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SCHREIBEN DÜRFEN!