Foto: Stephan Ziehen
In England passierte um das entscheidende Punkjahr 1977 wirklich Seltsames in den Charts: „God Save The Queen“ von den Sex Pistols war die Nummer eins-Single, wurde aber nirgends gelistet, weil sie gebannt, quasi verboten war. Die Stranglers enterten vor Abba und Cliff Richard Platz eins der Album-Charts und eine räudige Nummer wie „Gary Gilmores Eyes“ von den Adverts schaffte es bis zur Nummer eins bei den Singles. Aber die britischen Charts waren immer auch cool.
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Hier geht es um etwas ganz anderes! Hier geht es um die Charts, die ich kennenlernen durfte: die deutschen Charts. Sie haben sich aktuell durch das Internet und vor allem durch Internetkaufhäuser mal wieder komplett verändert.
Meine erste Chartplazierung war mit der zweiten DÄ-Platte, Im Schatten der Ärzte, so um Platz 50. Für uns eine unwirkliche Erfahrung. Es gab die Musik aus den Charts und Musiker und Bands, die da nicht stattfanden, weil sie zu cool für den Erfolg waren. Die deutschen Charts wurden immer dominiert von internationalen Acts. Plötzlich kam die Neue Deutsche Welle—plötzlich gab es Bands, die viel mehr Platten verkauften als die meisten ausländischen Künstler, von Michael Jackson und Bruce Springsteen mal abgesehen. Die erfolgreichste Band in den 80ern war Ideal, mit 750.000 verkauften Platten eines Albums. Sowas war vor der NDW undenkbar. Nena hat 500.000 Platten verkauft, und war eigentlich noch viel bekannter, sogar erfolgreich in USA und Asien, AUF DEUTSCH! Nina Hagen hat immerhin noch 300.000 Platten verkauft, wohlgemerkt zu einer Zeit, zu der es noch nicht mal die CD gab. Lindenberg und Maffay lagen da deutlich drunter. Für 250.000 Einheiten gab es damals Gold, für das Doppelte Platin.
Das waren plötzlich vollkommen neue Zahlen. Die Plattenfirmen klatschten sich ab und rieben sich ihre Hände. In dieser Liga spielten die Ärzte nicht. Unsere erste Single-Charts-Platzierung war „Gehn wie ein Ägypter“ ein eingedeutschtes Cover von „Walk Like An Egyptian“ von The Bangles. Ich glaube, die Plattenfirma hat das absichtlich zur Karnevalszeit rausgebracht und das halblustige Lied als Partysong verscherbelt. Hat funktioniert. Die Single „Gehn wie ein Ägypter“ schaffte es in die Vierziger, lächerlich. Aber das war schon was wert. Die Plattenfirma sah wieder Potential in uns.
Die Single hatte damals einen deutlich höheren Stellenwert. Über die Singlecharts kam man auch in die erfolgreichste Musikshow des deutschen Fernsehens, zu Formel Eins.
Es gab reine Single-Verträge, über zwei/drei Singles und das war’s dann. Ein Album wurde erst genehmigt, wenn die Singles gut, also in den Charts, liefen und das bedeutete dann, dass um die drei Songs herum noch ein bisschen Beiwerk geschrieben wurde. Es gibt vielleicht noch ein paar glückliche Menschen da draußen, die ein Fräulein Menke-Album auf Vinyl haben. Wäre echt mal interessant zu hören, was da so neben den Singles drauf ist. Wer weiß, vielleicht hat sie sich da ja selbst verwirklicht, eine Edith Piaf-Nummer gecovert oder so…
Wir beschlossen ’87 die Band aufzulösen und veröffentlichten noch ein Studio- und nicht mal ein Jahr später ein Live-Album. Das Studio-Album ging in die Top-Ten, das Live-Album Nach uns die Sintflut direkt auf eins. Wir wollten jetzt separat als Indie-Musiker weitermachen, was dadurch aber nicht mehr wirklich möglich war.
In den 90ern änderte sich das Chartbild komplett. Mit dem Erfolg von Guns’n’Roses kamen plötzlich auch Rockbands in die Top Ten der Album- und erstaunlicherweise auch der Single-Charts. Nach den amerikanischen Bands kamen auch die deutschen Rockacts den Top Ten näher. Wir reunierten ’93 und öffneten zusammen mit den Toten Hosen die Tore zu den vorderen Chartplätzen. Punk- und Grungebands wie Nirvana veränderten die Welt, töteten den Heavy Metal und machten das Radio für eine Zeit lang halbwegs erträglich.
In den Singlecharts dominierte aber überwiegend der Eurotrash, Dr. Alban, Haddaway, 2Unlimited und so. Aber in dieser Zeit begann die Single an Einfluss zu verlieren, während Alben für Plattenfirmen immer mehr brachten. Kinder und Jugendliche waren immer weiter weg vom Musikgeschehen, die Bravo hatte eine immer kleinere Auflage und damit verschwand die Relevanz von Singles zunehmend. Andererseits wurden immer mehr Alben umgesetzt. Bands wie die Prinzen haben 1,5 Millionen Einheiten von einem Album verkauft.
Damals wurde für die Charts gezählt, was an Ware in den Läden stand. Händler tippten, was erfolgreich sein würde und das beeinflusste dann die Chartposition. Marius Müller-Westernhagen hatte auf diese Weise einmal ein Album von 0 auf 1 gepusht, musste aber seinen Platin-Award ein Jahr später wieder zurückgeben, weil die Platten nicht real verkauft waren (auf Platz zwei nach ihm waren übrigens Die Ärzte).
Apropos Ärzte: Singles gingen bei uns eher selten. Wir kamen an diesem ganzen Partyzeug nicht vorbei. Bis wir „Männer sind Schweine“ veröffentlichten. Das kam in eine ganz, ganz schlimme weltumspannende Phase der Musik: Die Celine-Dion-Phase.
Celine Dion hat 1999 mit ihrem Song „My Heart Will Go On“ sechs Monate lang die Singlecharts auf der ganzen Welt dominiert. Keiner konnte es mehr hören, keiner wollte es mehr hören, die Radioredakteure der Formatradios brachten es trotzdem immer und immer wieder in die Playlisten, es war unfassbar. In Deutschland war es allein drei Monate auf Platz eins und ein Jahr lang in den Top 10. Und „Männer sind Schweine“ war die Single, die Celine Dion von Platz eins vertrieb.
Auf der Strasse ist einmal ein Mann vor uns auf die Knie gegangen, um sich dafür zu bedanken. Die Welt konnte wieder aufatmen. Es war dramatisch.
Rap will ich hier nicht vergessen. Deutschrap hatte sich im Untergrund ab Ende der 80er aufgebaut, aber erst als die Fantastischen Vier Humor mit ins Spiel brachten, wurde er auch kommerziell erfolgreich. Der Deutsche, ich nenn es mal Hochschul-Rap, feierte ähnliche Erfolge wie die NDW zehn Jahre vorher. Aggro Berlin erweiterte dann mit unverblümter Sprache das Publikum und zog eine deutlich jüngere Klientel, die wieder mehr Singles kaufte. Acts wie Sido oder Bushido verkauften sogar richtig viele Alben.
Bis in die 2000er hinein gaben aber überwiegend Rockbands den Ton in den Album-Charts an, erst dann eroberten sich Popgrößen wie Madonna den Thron zurück und in dem Schatten des Pop kam dann auch der Schlager zurück. Heavy Metal war tot, toter geht gar nicht, und damit ging auch der Rock unter. Nur die ganz Großen hielten sich da noch, Rammstein, Die Toten Hosen, Metallica, Blur, … vielleicht Coldplay, wenn man die Rockband nennen will.
Aber die Verkäufe gingen inzwischen so rasant zurück, dass man die Statuten für die Charts wieder mal änderte. Gezählt wurden nun auch Radio- und TV-Einsätze, was dem Schlager gut tat, und man setzte die Wertung für das Erreichen von Gold- und Platinstatus herunter auf 100.000 (Gold) und 300.000 (Platin) Einheiten, um weiterhin öffentlich Erfolge feiern zu können. Die Single-Verkäufe verringerten sich auch ins Lächerliche, weil größere Läden keine Singles mehr lagern wollen. Eigentlich gibt es bei Singles nur noch Sammler-Editionen und Downloads.
Irgendwann verschwanden dann die großen Plattenläden komplett. World Of Music, die größte Handelskette Deutschlands, ging pleite. Karstadt ging pleite. Stattdessen verkauft Amazon jetzt Platten und bestimmt die Preise. Obwohl die Single als Medium fast komplett abgeschafft wurde, gibt es die Singlecharts immer noch. Das sind heute aber fast ausschließlich Downloadcharts. Aber es gibt immer noch traditionelle Fans, die lieber Hardware kaufen, und so erklärt sich zum einen das Mega-Comeback des Schlagers und das stärker werdende Aufflackern des Heavy Metal.
Klar, dass in Zeiten, wo das Internet und Internetportale den Ton angeben, jugendaffinere Musik—wie deutschsprachiger Gangsterrap—die Onlinecharts anführt.
Inzwischen ist die Wertung für die Charts allerdings ein weiteres Mal aufs Perverseste geändert worden. Nun zählen nicht mehr allein die verkauften Einheiten, sondern auch der Preis, sprich das umgesetzte Geld, die Chartposition. Deswegen verkaufen so viele Musiker jetzt limitierte Premium Boxen. Ich habe gestern die Box eines Rappers gesehen, von dem ich noch nie gehört habe, die 40 Euro kostet. Eine Box wird also gerechnet wie vier normale CDs. Wenn du davon 100 verkauft hast, bist du in den Charts. Meine Theorie ist, dass Streetteams diese Boxen kaufen und damit dann eine Chartplatzierung zustande kommt.
Wenn du eine limitierte CD für 120 Euro auf den Markt bringst, wie Rammstein, ziehst du damit Bands ab, die von der Stückzahl das Zehnfache verkaufen müssen, um mitzuhalten. Gewertet wird nach dem Preis, nicht nach der Menge—Kapitalismus pur. Gruselig.
Und da wundert sich jemand, dass die Leute das Interesse an der Musik verlieren?
Die seltsamste Platz eins-Position in den amerikanischen Charts jemals war Mariah Carey. Sie erreichte mit ihrem Debütalbum aus dem Stand die Nummer eins der amerikanischen Billboard Albumcharts. Sie hatte zu dem Zeitpunkt noch nie ein Livekonzert gespielt—dazu kam es erst fünf Jahre später, zu ihrem dritten Album—und nur zwei Singles auf MTV laufen. Lag der Charterfolg vielleicht daran, dass der Chef vom Billboard ihr Ehemann war?
Obwohl immer weniger Tonträger verkauft werden, gibt es immer mehr Charts. iTunes, Amazon, Media Markt, alle haben ihre eigenen Verkaufscharts und wenn man schon nicht den heiß umkämpften ersten Platz in der offiziellen Hitliste des Landes geschafft hat, dann vielleicht Platz eins bei den 10 wichtigsten Tonträgern in einem Magazin, womit man wieder werben kann.
Damit die vielen Menschen, die in den unzähligen Managements und verbliebenen oder neu gegründeten Plattenfirmen etwas zum Feiern haben und die Zeit von der Veröffentlichung bis zur endgültigen Chartposition nicht sinnlos verstreicht, gibt es seit einigen Jahren die sogenannten Trendcharts. Das sind tagesaktuelle Charts, die natürlich komplett nur auf Angaben der größten Tonträgerverkäufer und der Schätzungen der Vertriebe basieren. Da wird dann schon mal eine „Trend-Nummer eins“ gefeiert, die am Ende nur Nummer vier in den Charts wird. Dem nicht genug, wurden dann die Tagestrends noch aufgeteilt in Vor-und Nachmittagstrends. Unfassbar, oder?!
Aber nun kommt das Allerlustigste: Vor circa fünf Jahren teilte mir mal eine Mitarbeiterin mit, dass es gleich die Trends auf die Trends geben würde und ich da gar nicht schlecht dastehen würde. Sie riet mir wirklich, eine Flasche Schampus auf die Nummer eins der Trends auf die Trends aufzumachen und auch noch eine Woche später, als es keine Erstplatzierung zu feiern gab, blieb sie bei der Meinung, dass man mir die eins bei den Trends auf die Trends nicht nehmen könne.
Wer auch immer das Charts-System erfand, er wird kein Musikfreund gewesen sein.
Bela Bs neues Album Bye ist tatsächlich auf Platz 5 der Albumcharts eingestiegen, bestellt es bei Amazon oder iTunes vor.
Bela B auf Tour:
16.5. A-Linz, Posthof
18.5. A-Wien, Arena
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