Popkultur

Barbara Salesch hat mir gezeigt, was Gerechtigkeit bedeutet 

Richterin Barbara Salesch hinter dem Richterpult. Gerichtsshows haben meine Jugend definiert

Mein Leben begann und endete um 15 Uhr, als Barbara Salesch kam. Es war kein gutes Leben, aber auch kein schlechtes. Es war eines, das vorbeizog und mich nur so halbherzig mitnahm. Aber das war in Ordnung, denn alles andere hätte mich wahrscheinlich überfordert. Und mit weniger Hoffnung erfüllt. 

Ab Montag kommt die Trash-TV-Richterin Barbara Salesch zurück ins Fernsehen, nun 72 Jahre alt. Und ich wünsche allen traurigen Schulkindern, dass sie die gleichen hoffnungsspendenden Abenteuer mit ihr erleben dürfen wie ich sie damals erlebte. Denn Barbara Salesch hat mir gezeigt, dass es im Leben Gerechtigkeit geben kann – wenn man nur bereit ist, auf sie zu warten.

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Montag bis Freitag zwischen 15 und 16 Uhr lief die Reality-TV-Sendung Richterin Barbara Salesch auf Sat. 1, zwölf Jahre lang. Bis 2012. Eine Richterin, die Richterinnensachen macht, also Fälle verhandelt und Menschen verurteilt – oder freispricht. 

Anfangs waren es noch echte Fälle, Mitschnitte aus Gerichtsverfahren, bis Sat. 1 irgendwann erkannte, dass diese einfach nicht aufregend genug waren. Der Sender wollte mehr Mord und mehr Totschlag und begann deshalb, eigene Fälle zu erfinden. Hier stieg ich ein.

Ich war 15 Jahre alt, vielleicht auch 16, 17 oder 18 oder alles davon. Jedenfalls pubertierend, überfordert, traurig. Nach der Schule legte ich erst ein Tiefkühlgericht in die Mikrowelle und mich dann auf die Couch. Nach einer knappen Viertelstunde klingelte das Gerät, ich kippte die heiße Pampe in einen Teller und setzte mich in mein Zimmer, vor den dicken grau-braunen Röhrenfernseher, der meine Hand kribbeln ließ, wenn ich sie nah an den Bildschirm hielt. 

Nun begann mein Nachmittag. Stündlich wechselten die Autoritätspersonen in den schwarzen Roben, Salesch, Hold, Herz, Engeland – erst gegen Abend war dann nichts mehr zu holen, der Kampf für Gerechtigkeit musste über Nacht pausieren. Für mich war es dann Zeit für ein weiteres Mikrowellengericht. Trash-TV war mein Leben und ich liebte es, zumindest glaubte ich das.

Die Darsteller der Sendungen konnten davon eher nicht leben. Richtige Schauspieler waren die wenigsten. Die meisten waren Laien, was man auch, nun ja, sah. Immerhin: Auf den Wikipedia-Seiten der Anwältinnen und Anwälte, die in der Sendung die Staatsanwaltschaft und Verteidigung mimten, steht neben der Berufsbezeichnung “Rechtsanwalt” bei den meisten auch “Schauspieler”. Ich wuchs nahe des Bonner Landgerichts auf, nicht weit von Hürth, dem Drehort der Show. Manchmal sah ich die Menschen also auf dem Nachhauseweg von der Schule, wie sie sich selbst darstellten, irgendwas zwischen Schauspieler, Rechtsanwalt und Promi. Sie wirkten müder als im Fernsehen.

Meine Laune war meist furchtbar. Schule war scheiße, aber wem sage ich das? Sechs Stunden Arbeit, das ist kein Zustand. Alle 45 Minuten ein neues Fach, eine neue Autoritätsperson, neue Konzentration, neue Angst davor, erwischt zu werden, weil ich die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, um stattdessen Richterin Barbara Salesch zu gucken und fettgefressen vor dem Fernseher einzupennen, erschlagen davon, um 7 Uhr aufgestanden zu sein wie so eine alberne Lerche.

Die Welt war ungerecht. Warum durften Lehrerinnen und Lehrer in den Pausen in ihrem kleinen Kabuff verschwinden, aus dem dann dieses peinlich glucksende Lachen durch die leeren Korridore hallte? Warum mussten wir uns währenddessen auf den Toiletten verstecken, um zu rauchen und dabei alle paar Tage vom Chemielehrer erwischt zu werden, der seine Pausenaufsicht einzig dazu zu nutzen schien, die Toiletten nach mir abzusuchen? Sein Spitzname war “Der Sheriff”, auch weil er sehr breitbeinig ging, als würde er morgens in die Schule galoppieren, und seinen Po in sehr engen Cowboy-Jeans präsentierte.

In der Schule war er das Gesetz, zu Hause war es Barbara Salesch. Meine Mutter war arbeiten, wie das alleinerziehende Mütter halt so tun, vielleicht saß sie auch einfach, vom Alleinerziehen geschafft, vor dem Computer und spielte Solitär. So fiel es Richterin Salesch zu, mir ein Gespür für Recht und Unrecht, Rechtsstaatlichkeit und Fairness zu vermitteln. Und Junge, Junge, wie sie das konnte.

Sie war streng, aber auch freundlich – so lange man sie respektvoll behandelte. Sie war wie eine Großmutter im Märchen, gütig, aber wenn man ihr die falschen Fragen stellte, auch irgendwie ein Wolf. Wer Verbrechen begangen hatte, keine Reue zeigte, ja spottete, log oder trog, den verurteilte sie nicht nur. Wer sie zur Närrin halten wollte, bekam ihre Autorität  zu spüren, mit der sie sonst so sparsam umging. Dann wurde sie auch schon mal laut und persönlich. Und wenn Barbara Salesch laut und persönlich wurde, dann wollte man nicht vor dem gigantischen Richterpult stehen wie einst Franz Kafka in diesem Buch, das ich in der Schule lesen musste.

Und doch war das kafkaeske Erlebnis so ziemlich das Gegenteil von dem, was Salesch vermittelte. Bei ihr war die Justiz kein unübersichtlicher, unpersönlicher und willkürlicher Apparat. Bei Barbara Salesch war die Justiz Barbara Salesch, ein feuerroter Kopf mit lieben Augen, und die Gewissheit, dass es für die Guten gut ausgehen würde. Und während das Mikrowellenessen mir den Schoß verbrannte, wuchs in mir die Gewissheit, dass es auch für mich am Ende gut ausgehen würde.

Denn klar war alles Scheiße. Die Schule war Scheiße, die Lehrer waren Scheiße, das Essen war Scheiße und das Fernsehprogramm war es auch, ich war ja nicht blöd. Aber es reichte, um mich den Tag vergessen zu lassen, die Aufgaben und Strapazen und die Traurigkeit – die ganze Scheiße eben. 

Und ich sah, dass Gerechtigkeit siegt, denn das tat sie bei Barbara Salesch immer. Es gab keine fehlerhaften Urteile, keine zu Unrecht zum Tode verurteilten. Alles Unrecht wurde im Zweifelsfall in letzter Minute aufgelöst, wenn ein Überraschungszeuge durch die Gerichtstür stolperte, abgehetzt und aufgeregt. Und sich zuerst einmal bei Barbara Salesch entschuldigen musste: Denn vor Gericht muss Ordnung herrschen und wer nicht geladen ist, der kann nicht einfach in den Saal platzen. 

Ich jedenfalls war damals überzeugt, dass das Leben immer nur so lange nervt, bis der Überraschungszeuge auftritt. Dann wird alles besser. Man muss nur warten. 

Vor zwanzig Jahren lief die letzte Folge Richterin Barbara Salesch, ich habe meine letzte Folge wahrscheinlich 2004 geguckt. Seitdem wurde alles besser. Ich musste nur ein paar Jahrzehnte warten. Und wenn Frau Salesch nun selbst zurückkommt, dann wird eine neue Generation frustrierter Pubertierender diese Lehre aufnehmen können. Denn das ist wohl die wichtigste Erkenntnis aus der Jugend: Irgendwann wird es besser, es ist nie zu spät für Gerechtigkeit. Vor allem wenn Barbara Salesch wieder im Fernsehen läuft.

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