Stellt euch vor, eure beste Freundin bekommt ihr erstes Kind. Gut, “beste Freundin” ist vielleicht übertrieben. Ihr habt sie noch nie getroffen, kennt sie nur aus dem Internet, aber sie sagt euch immer wieder, wie wichtig ihr für sie seid. Außerdem wisst ihr alles über sie – glaubt ihr. Ihr wusstet, sie ist schwanger und steht kurz vor der Entbindung. Die Schwangerschaft lief größtenteils komplikationslos, am Schluss ließ das Baby dann aber doch noch ordentlich auf sich warten. Gespannt habt ihr verfolgt, wie sie ihre Tasche fürs Krankenhaus packte, wie sie überlegte, welchen Strampler ihr Sohn als Erstes tragen soll. Und dann … nichts mehr. Stille. Erst Tage später erfahrt ihr über einen Instagram-Post, dass ihr Sohn gesund auf die Welt gekommen ist. Wie er heißt, wisst ihr nicht. Wärt ihr sauer?
Nun, die Fans von Bianca Claßen, ehemals Heinecke, sind es. Nicht alle, aber viele. Zumindest so viele, dass sich Deutschlands größter YouTube-Star unter dem ersten Bild ihres Kindes dazu genötigt sah, ein paar ernste Worte an die Followerschaft zu richten. “An all die Leute, die kein Verständnis dafür hatten, dass auch wir mal unser Handy für 4 Tage ausgemacht haben (sogar mit Ankündigung) und uns nicht gemeldet haben, kann ich nur meinen Kopf schütteln”, schrieb Bibi. “Legt auch mal euer Handy weg, vor allem wenn ihr mal ein Kind kriegen solltet.”
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Tatsächlich lagen fünf Tage zwischen Bibis letzten beiden Instagram-Posts und dem letzten Lebenszeichen auf ihrem YouTube-Kanal, BibisBeautyPalace (5,4 Millionen Abonnenten). Fünf Tage, in denen ihre 6,2 Millionen Follower zunehmend frustriert in ein Informationsloch starrten.
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“Das finde ich den Followern gegenüber echt unfair. Die ganze Schwangerschaft wurde alles geteilt, und nun plötzlich nichts mehr?”, schreibt “dreiherzen.eineliebe”. Und hat damit Recht: Über 20 Videos hat Bibi in den letzten Monaten hochgeladen, in denen sie mit clickbaitigen Überschriften zu “emotionalen Zusammenbrüchen”, “ersten Wehen” und “aktuellen Problemen” ordentlich Klicks sammelte. Die Fans wurden mit Infos zum ersten Kind ihrer besten Online-Freundin angefüttert – dann wollen die das jetzt natürlich auch sehen. “Wäre wirklich nicht zu viel verlangt”, kommentiert “thedubai00009”. “Geld wollen sie, aber mal kurz posten, dass das Kind da ist, geht nicht.”
Andere verstehen nicht, warum sich nicht zumindest Bibis Mann Julian über seinen Instagram-Account zu Wort gemeldet hat. Auch er ist YouTube-Star und Influencer. Sein Privatleben öffentlich zu machen, ist also sein Job. “Ich meine, sie verdienen das Geld mit uns”, schreibt “leli708”. “Für Bibi war die Geburt sicher anstrengend, aber Julian hätte sicher einmal zwei Minuten gehabt, wo er eine kleine Info geben konnte.” Nutzerin “linda._suarez” versucht gar nicht erst, Verständnis zu heucheln – und hat sich vor Wut anscheinend in der Feststelltaste ihrer Tastatur festgekrallt: “ICH BIN SELBER MAMA UND NAJA, ALS DER KLEINE GEBOREN IST, HABE ICH AUCH MEINER FAMILIE BESCHEID GESAGT.”
Das klingt im ersten Moment nicht nur absurd emotional, sondern auch sehr unfair. Bianca Claßen ist 25 und zum ersten Mal Mutter geworden. Natürlich hat sie Besseres zu tun, als sich direkt nach der Geburt ihre aktuelle Verfassung zu posten. Gerade wenn es, wie sie selbst auf Instagram schreibt, “Komplikationen” gab. Andererseits zeigt der Kommentar aber auch sehr deutlich, als was sich ihre treuen Fans begreifen – als Teil ihrer “Familie”. Und das kommt natürlich nicht von ungefähr.
Influencerinnen wie Bibi leben davon, dass sie eine Art visuelle Brieffreundschaft mit Jugendlichen führen, die sie nie zu Gesicht bekommen werden. Sie erzählen, was in ihrem aufregenden Leben passiert und Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum lauschen gebannt. Sie warten auf den nächsten spannenden Drogerie-Haul, die nächste echt spontane Roomtour, den nächsten total verrückten Prank, für den die eigenen Eltern einem definitiv eine Woche Handyverbot erteilen würden. YouTube-Stars zeigen Einblicke in ein Leben zwischen perfekter Inszenierung und vermeintlicher Anarchie. Aufgekratzt wie ein Teenager, aber ohne nervige Eltern, die einem Grenzen setzen. Ultimativ zugänglich und trotzdem unerreichbar.
Deswegen sehen die Fans Bibi und Julienco einerseits als “Familie”, fordern aber trotzdem ein, für ihre treue Followerschaft mit Content entlohnt zu werden. Und wenn keine Zeit für ein Video nach der Geburt ist, dann eben zumindest ein Foto aus dem Kreissaal. Oder, wie “leckiunicorn” es formuliert: “Man könnte sich mal zwei Minuten nehmen und sagen: ‘Der Kleine ist da und ich melde mich bald wieder.’”
Der Großteil der Fans, das muss auch gesagt werden, freut sich einfach mit ihrem Idol. Hunderte Herzen, Likes, Glückwünsche von jungen Menschen, vornehmlich Frauen, die wahrscheinlich keine Vorstellung haben, was das bedeutet – Mutter werden. Der Zynismus und die Wut anderer Nutzerinnen und Nutzer scheint auch sie mitzunehmen. Wer Bibi angreift, greift auch sie an. Die 25-Jährige ist schließlich ihre Freundin, ihre Familie, da hat man Verständnis und lässt dem anderen auch mal Freiraum. Sollte die Content-Maschine der Familie Claßen durch das Baby allerdings langfristig ins Stottern geraten, werden wahrscheinlich auch sie sich andere Idole suchen. Menschen, die ihr Leben über YouTube mit der Welt teilen, gibt es schließlich genug.
“Nur weil ihr denen bei YouTube und hier folgt, habt ihr kein Anrecht auf Informationen!”, kommentiert “missnerdybln” auf Instagram. Und bringt das zentrale Missverständnis vieler Internetstar-Fans auf den Punkt. “Ihr seid irgendwelche Follower”, schreibt sie, “keine Familienangehörigen oder gar enge Freunde”.
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