“Irgendwas stimmt hier nicht!”, raunt eine Berlinerin ihrer Freundin zu, als sie auf der Treppe der S-Bahn-Station Sonnenallee schon wieder ein junger Mann überholt, dem hinten ein wippender, flauschiger Schwanz unterm T-Shirt herausragt. In diesen Tagen gehören Menschen wie er zum Straßenbild rund um den Berliner S-Bahnhof Sonnenallee, denn gleich in der Nähe findet gerade die 22. “Eurofurence” statt—die größte Versammlung von “Furrys” in Europa.
Über fünf Tage treffen sich bis zu 2.500 Furrys, Fans und Künstler im Estrel. Deutschlands größtes Hotel sieht aktuell so aus, als sei eine gigantische Gummibärchen-Tüte in der Lobby explodiert: Menschengroße Cartoon-Tiere mit riesigen Augen watscheln durch die Gegend, um sie herum wuseln aufgeregte Fans mit Kameras und Smartphones, überall sitzen Grüppchen von jungen Leuten zusammen, die über einen Computer oder einen Zeichenblock gebeugt miteinander diskutieren. Am Donnerstagnachmittag gibt es eine große Parade. Hunderte Cartoon-Füchse, Drachen, Löwen, Vögel, Waschbären und Dinosaurier stolzieren quiekend und kichernd rund um das Gebäude. Es sah aus wie der Siegeszug einer Subkultur, die sich nicht mehr verstecken will.
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Furrys definieren sich selbst als “Freunde anthropomorpher Tierdarstellungen in Kunst und Kultur”—sie alle teilen eine Faszination für menschenähnliche Tiere. Bei vielen geht das so weit, dass sie sich selbst eine “Fursona” zulegen, eine zweite Identität als Mensch-Tier. Wenn sie es sich leisten können, bauen sie sich extrem aufwendige Kostüme, die sogenannten “Fursuits”. Manche davon sind real existierenden Tieren nachempfunden. Diese Österreicherin zum Beispiel hat sich den kürzlich verstorbenen Hund eines Freundes als Fursona ausgesucht.
Die allermeisten entscheiden sich aber für Kostüme im Cartoon-Stil, da hat das Einhorn dann auch mal Drachenflügel. Darum geht es bei diesem Treffen nämlich vor allem: dass jeder tun und lassen kann, was er oder sie will. “Diese Community hat mein ganzes Leben verändert”, erklärt Flint, ein sehr begeisterter 21-jähriger Schweizer. “Am meisten mag ich, dass alle zusammen sind und einfach Spaß haben, egal wer sie sind. Alle haben sich lieb.” Flint hatte zwar kein Kostüm, weil es ihm zu teuer und zu heiß ist, aber dafür einen aufwendig geschmiedeten Metall-Schwanz. Damit stellt er einen weißen Drachen dar, “der am liebsten Andere terrorisiert und rumnervt”. Die anderen lieben ihn dafür aber, sagt er, deswegen strahlt Flint hier über das ganze Gesicht.
Obwohl fast alle eine “Fursona” ihr Eigen nennen, trägt nur ein kleiner Teil der Furrys wirklich die Kostüme, und auch die halten das wegen der enormen Hitzeentwicklung unter ihren Schaumstoffmasken nicht länger als ein oder zwei Stunden aus. Hitzschlag ist ein so weit verbreitetes Problem auf Furry-Treffen, dass die Eurofurence-Veranstalter Gegenmaßnahmen eingerichtet haben: An jeder Ecke stehen Helfer, die Wasser aus Trinkschläuchen anbieten (“If you want water, raise your paw!”), und einige Securitys laufen mit Wärmebildkameras herum, um sicherzugehen, dass die Furrys in ihren Kostümen nicht schmelzen.
Der Großteil der Teilnehmer läuft einfach in der universellen Nerd-Uniform—schwarzes Schlabber-T-Shirt und Cargo-Shorts—herum und ist froh, sich mit Gleichgesinnten austauschen zu können. Obwohl der Frauenanteil bei den Furrys wächst, besteht das Publikum vor allem aus jungen Männern (das Durchschnittsalter liegt um die 18). Die meisten sehen aus wie Leute, die die große Pause lieber in einer Ecke mit Rollenspielen verbringen, als sich den gnadenlosen Kindern auf dem Schulhof auszusetzen.
Weil dieses ganze Hotel aber zu einem absoluten Nerd-Paradies umfunktioniert wurde (es gibt sogar einen Raum mit Spielekonsolen aus den 80ern), ist die Stimmung ausgelassen. Die Kostüm-Furrys zum Beispiel können quasi nicht aneinander vorbeilaufen, ohne sich zu umarmen, zu knuddeln oder gegenseitig an die Schnauze zu fassen, und auch Unkostümierte können sich jederzeit eine Umarmung abholen. Überhaupt scheint es primär darum zu gehen, so süß wie möglich zu sein: Viele der Furrys antworten gar nicht, wenn sie im Kostüm sind, sondern fiepen und spielen neckisches Entsetzen vor. Sogar der Alkohol der Furrys ist extrem süß: An einem Stand verkauft jemand Schnäpse mit Namen wie “Fuchsparty-Starter” oder “Orgienbrause”, aus Sanddorn und Vanille.
Als die Medien die Furrys in den 90ern bemerkten, konzentrierte sich die Berichterstattung vor allem auf den Fetisch-Aspekt der Subkultur. Furrys, das waren die Freaks, die sich daran aufgeilen, in Tierkostümen schwitzige Orgien zu feiern. Die Realität ist ein bisschen komplizierter. Viele Furrys verbinden ihr “Fandom” überhaupt nicht mit Sex, ihnen machen einfach die Kostüme Spaß. Auf der anderen Seite gibt es eine starke Strömung, die ihrer Fantasie freien Lauf lässt und dabei erotische Zeichnungen, Comics und sogar Drachen-Dildos hervorbringt. “Das Spannende ist eben, anders zu sein als normale Menschen und sich vorzustellen, eine tierische Seite zu haben”, erklärt ein Künstler, der an seinem Stand ziemlich explizite Comics verkauft. (Eines handelt davon, dass Rotkäppchen den Wolf vergewaltigt, der das widerlich findet, weil er schwul ist. Am Ende kommt aber ein Eisbär-Polizist, der Rotkäppchen verhaftet und den Wolf mit seinem riesigen Schwanz tröstet.) Der Anteil von LGBTs scheint unter Furrys deutlich überdurchschnittlich hoch, an den Verkaufsständen liegen mindestens so viele schwule wie heterosexuelle (Furry-)Pornos aus.
Mit Zoophilie hat das Ganze aber nichts zu tun, an echten Tieren haben die Furrys kein Interesse. “Es gibt ja auch Leute, die die Fantasie haben, mit Mister Spock von Star Trek rumzumachen”, meint der Künstler. Aber haben Leutewirklich Sex in den Kostümen? “Es gibt Leute”, sagt er, “die das versuchen. Aber aus technischen Gründen ist das eigentlich nicht machbar.” Es wäre aus Überhitzungsgründen wohl auch zu gefährlich.
Viel wichtiger als der Sex scheint den Furrys aber vor allem die Freiheit zu sein, ihre Kreativität und ihre Albernheit auszuleben, ohne dafür ausgelacht oder verurteilt zu werden. “Manche Leute hier sind ein bisschen unsozial, sie haben vielleicht nicht viele Beziehungen im echten Leben”, erklärt mir Jerry, ein 29-jähriger Ingenieur aus Slowenien. “Die brauchen diese Verkleidung einfach, um aus sich herauszukommen. Das Kostüm gibt ihnen Freiheit.”