Ich wurde im Verlauf meines Lebens immer wieder als “Psycho” bezeichnet. Einer meiner Ex-Freunde hielt meine notorischen Seitensprünge für ein “deutliches Anzeichen” dafür, dass ich psychopathische Tendenzen hätte. Ein anderer ist leichenblass geworden und hat auf dem Absatz kehrt gemacht, als er mich in einer größeren Menschenmenge erspähte. (Derselbe hat mir außerdem mal unterstellt, dass ich ihn dazu getrieben hätte, Drogen zu nehmen.)
Wir gehen immer davon aus, eine ganz genaue Vorstellung davon zu haben, wie Psychopathen auszusehen haben – seien es nach außen hin makellose Narzissten wie Patrick Bateman oder irre Serienmörder à la Charles Manson. Forscher haben vor Kurzem den Kreis der potenziellen Psychopathen um die Gruppe einflussreiche Geschäftsführer und skrupellose Bankiers erweitert. Doch was ist mit den ganz normalen, gesetzestreuen Bürgern unter uns, die nichts mit Börsencrashs zu tun haben und auch noch nie im Gefängnis waren, weil sie ihre Großmutter erwürgen wollten? Wo verläuft die Grenze zwischen einem verkorksten Normalo und einem echten Psychopathen?
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Dr. James Fallon von der University of California ist Neurowissenschaftler und Autor des Buchs Der Psychopath in mir: Die Entdeckungsreise eines Naturwissenschaftlers zur dunklen Seite seiner Persönlichkeit. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, ein Psychopath zu sein: Vor einigen Jahren stellte er durch eine zufällige Verwechslung von Hirnscans bei der Arbeit fest, dass sein eigenes Gehirn eher dem eines psychopathischen Mörders ähnelte als dem eines “normalen” Menschen.
Forscher gehen zwar davon aus, dass echte Psychopathen nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, doch Fallon glaubt, dass sich fünf bis sieben Prozent der Menschen “an der Grenze dazu” befinden. Fallon bezeichnet sich selbst als “prosozialen” Psychopathen, der niemanden töten, verstümmeln oder in irgendeiner anderen Form körperlich verletzen würde.
“Die meisten von ihnen landen im Gefängnis, sobald sie volljährig sind.”
Fallon erklärt mir, dass bestimmte Verhaltensweisen, die in Beziehungen unbedacht “psycho” genannt werden, nicht viel mit Psychopathie zu tun haben. “Ein ‘Psycho’ ist ein verwirrter oder verrückter Mensch”, sagt er. “Psychopathen sind das genaue Gegenteil. Sie sind sehr kontrolliert und intelligent.” Zwar gäbe es natürlich auch psychopathische Menschen, die durch den Missbrauch von Alkohol und Drogen, einen niedrigen IQ oder eine Schädigung des Gehirns ‘psycho’ wirken können und außer Kontrolle geraten. “Die meisten von ihnen landen allerdings im Gefängnis, sobald sie volljährig sind.”
Psychiater wie Fallon lehnen ihre Forschung an die Erkenntnisse des führenden Kriminalpsychologen David Hare an, der Straftäter untersuchte und dadurch 20 Merkmale identifizierte, an denen man einen Psychopathen erkennen kann. Dazu gehören unter anderem Gewandtheit und trivialer Charme, emotionale Oberflächlichkeit, Promiskuität, Impulsivität und Verantwortungslosigkeit. Hinzu kommt der Widerwille, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen, schnell gelangweilt zu sein und der Drang, andere zu manipulieren.
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Das kommt mir ziemlich zu bekannt vor. Ich weiß aus erster Hand, dass man ziemlich gelangweilt, promiskuitiv, impulsiv und verantwortungslos sein muss, um seinen Partner zu betrügen. Gleichzeitig muss man vergleichsweise charmant und schlau sein, um a) mit anderen zu schlafen und b) damit davon zu kommen.
Um eine entsprechende Diagnose zu bekommen, sollte man sich im ersten Schritt “an einen Psychiater wenden, der sich damit auskennt und eine Diagnose stellen kann”, sagt Fallon. Also Finger weg von einschlägigen Online-Tests, die dir tiefergehende Einblicke in deine Psyche versprechen.
Neben verschiedenen formalen Untersuchungen und psychiatrischen Analysen hat Fallon eine ziemlich unkomplizierte Diagnosemethode gewählt: Er hat Menschen gefragt, was sie wirklich über ihn denken (“alte Freundinnen, meine Schwestern, meinen Bruder – einfach alle”). Nachdem er ihnen versprochen hatte, dass er nicht wütend werden würde, “gestanden sie mir, was sie wirklich über mich dachten”. Wie sich herausstellte, hielten ihn ziemlich viele Menschen für einen Psychopathen.
“Sie brachten alle Opfer, von denen niemand etwas wusste. Das würde ich nie tun.”
Außerdem beobachtete er das Verhalten seiner Altersgenossen, um zu sehen, wie sie sich in Situationen verhielten, in denen sie sich unbeobachtet fühlten. “Wie ich festgestellt habe, sind die meisten Männer und Frauen in meinem Alter sehr aufopfernd […] Sie kümmern sich um Freunde, wenn sie einen Fehler gemacht haben oder gehen auf Beerdigungen. Sie brachten alle Opfer, von denen niemand etwas wusste. Das würde ich nie tun.” Stattdessen, sagt Fallon, würde er sich jederzeit bereitwillig irgendeine windige Entschuldigung einfallen lassen, um die Beerdigung ausfallen zu lassen und stattdessen auf eine Party zu gehen.
Ähnlich ernüchternd klingt die Erkenntnis, die er daraus gewonnen hat, sich sein Verhalten gegenüber seiner Frau genauer anzugucken. “Wenn ich vor eine Entscheidung gestellt wurde und keinen Ärger zu erwarten hatte, dann habe ich immer die denkbar selbstsüchtigste Entscheidung getroffen – und zwar jedes einzelne Mal.”
Diese Untersuchung kann jeder an sich selbst vornehmen, sagt Fallon. Die meisten Menschen beteiligen sich an simplen, selbstlosen Verhalten, um auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen: Sie heben in der gemeinsamen Wohnung ihre Sachen vom Boden auf oder versuchen, sich wie ein guter Mitbewohner zu verhalten. Psychopathen tun das nicht.
“Psychopathen drehen keine zusätzliche Schleife durch das limbische System. Sie denken nicht darüber nach, ob sie andere mit ihrem Verhalten verletzen könnten”, erklärt er. “Sie handeln sehr schnell, wodurch der Eindruck entsteht, dass sie sehr intelligent wären. Dabei nehmen sie sich nur nicht die Zeit, um darüber nachzudenken, ob sie die anderen verletzen. Du bist nicht intelligent, nur weil du so wahrgenommen wirst – dir ist nur alles scheißegal.”
Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob ich nicht vielleicht doch eine Psychopathin bin und erzähle Fallon von einer besonders schändlichen Episode meines Lebens: als mich einer meiner Ex-Freunde verlassen hat, weil er mitbekommen hat, dass ich direkt von einem One-Night-Stand zu unserem Valentinstagsdate gefahren bin. Fallon lacht und sagt: “Es könnte sein, aber du musst keine komplette Psychopathin sein. Du kannst auch einfach psychopathische Züge haben.”
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Laut ihm gibt es keine klassisch psychopathischen Verhaltensweisen. “[Psychopathie] dreht sich allein um den Kontext einer Situation und deine Reaktion auf diesen Kontext. Dein Freund wird sauer, Menschen reagieren verletzt – wenn dir das egal ist, dann hat das psychopathische Züge. Es geht dabei nicht um die Handlung selbst.”
Fallon bestätigt mir: Wenn du denkst, dass du ein Psychopath bist, dann bist du vermutlich keiner. Die meisten Psychopathen glauben nämlich, dass mit ihnen alles in Ordnung ist. Einer der Gründe, warum Fallon von seiner eigenen Diagnose so schockiert war: “Ich sehe mich selbst als einen ganz normalen Menschen, doch das bin ich nicht.”
“Ich muss meine natürlichen Instinkte bewusst unterdrücken, um sie so zu überwinden.”
Angenommen, ich wäre tatsächlich eine Psychopathin, will aber nicht den Rest meines Lebens sozial isoliert verbringen oder im Gefängnis landen. Wie bekomme ich meine Tendenzen in den Griff?
“Ich habe angefangen, mich in jeder Unterhaltung zu fragen: ‘Was würde ein guter Mensch tun?’”, erzählt Fallon. “Ich stelle mir diese Frage jeden Tag. Ich muss meine natürlichen Instinkte bewusst unterdrücken, um sie so zu überwinden.” Eigentlich fühlt er sich in solchen Momenten noch klüger und unschlagbar. Als wäre er der einzige Mensch, der sich derart unter Kontrolle hat. Gleichzeitig weiß er, wo diese Gedanken herkommen und versucht sich seinen Narzissmus zunutze zu machen.
Interessanterweise können Menschen mit psychopathischen Zügen oder prosoziale Psychopathen wie Fallon in unserer Gesellschaft sehr positiv angenommen werden. Gerade Menschen, deren psychopathischen Eigenschaften als “furchtlose Dominanz” bezeichnet werden, können beispielsweise sehr attraktiv auf andere wirken. Die Zeitschrift Psychology Today beschrieb diese Eigenschaften als “Tendenz zur Dreistigkeit, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass [die Betroffenen] soziale Situationen dominieren wollen, ein charmantes Auftreten haben, körperliche Risiken in Kauf nehmen und immun gegen Angst sind”.
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Menschen mit diesen Eigenschaften gelten in unserer Gesellschaft als überaus charismatisch und führungsstark, sagt Fallon. Deswegen würden wir auch dazu neigen, sie zu wählen oder einzustellen.
Was mich angeht: Ich habe mich in Beziehungen vielleicht hin und wieder verantwortungslos und selbstsüchtig verhalten, doch die Tatsache, dass ich Gewissensbisse habe, zeigt, dass ich keine Psychopathin bin. Ich bin also doch einfach nur ein schlechter Mensch. Puh!
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