Die Frau, die für ihr Leben in Freiheit vor dem US-Präsidenten fliehen musste
Illustration: Adriana Bellet aka JeezVanilla 

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Die Frau, die für ihr Leben in Freiheit vor dem US-Präsidenten fliehen musste

George Washington galt als frommer Sklavenfreund. Das Schicksal von Oney Judge erzählt eine andere Geschichte.

Kinder in den USA lernen viel über George Washington, den ersten Präsidenten und Namensgeber der Landeshauptstadt. Angeblich erzählte er nie eine Lüge und war ein zutiefst moralischer und religiöser Mann. Der "Vater der Nation" ordnete in seinem Testament an, dass seine 123 Sklavinnen und Sklaven nach seinem Tod freigelassen werden sollten. Nicht im Lehrplan steht, wie er sich verbissen darum bemühte, eine Sklavin namens Ona Judge wieder einzufangen.

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"Oney" wurde 1773 auf George Washingtons Plantage Mount Vernon im US-Bundesstaat Virginia geboren. Ihre Mutter war eine versklavte Näherin, ihr Vater ein weißer Vertragsknecht, der ebenfalls den Washingtons diente. Mit etwa zehn Jahren zog Judge in das Herrenhaus der Plantage, wo sie zu einer ausgezeichneten Näherin und schließlich zur Leibdienerin der First Lady Martha Washington wurde. Als Judge 15 war, trennten die Washingtons sie von ihrer Familie und nahmen sie mit nach New York, wo George Washington 1789 seine Präsidentschaft antrat. 1790 wurde Philadelphia zur Hauptstadt und der Präsident zog mit einigen Sklaven dorthin.

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Als Leibdienerin begleitete Judge First Lady Martha Washington bei Besuchen außer Haus, wie die Historikerin Evelyn Gerson schreibt. Diese Besuche gaben Judge Einblick in George Washingtons Präsidentschaft und wahre Persönlichkeit. Jahrzehnte später hieß es in einer Zeitung, dass es den Einschätzungen der ehemalige Sklavin zufolge keinen Grund gab, Washington als sonderlich frommen Mann darzustellen. In dem Artikel berichtete Judge von Washingtons Vorliebe fürs "Karten spielen und Wein trinken".

Außerdem soll Washington historischen Quellen zufolge besonders streng mit seinen Sklavinnen und Sklaven umgegangen sein. Wer ihn wütend machte, musste mehr arbeiten oder sogar Gewalt fürchten. Der Engländer Richard Parkinson lebte in der Nähe der Plantage Mount Vernon und schrieb: "All seine Nachbarn hatten den Eindruck, dass Washington seine Sklaven mit mehr Strenge behandelte als jeder andere Mann."

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"Ich flüchtete, als die Washingtons gerade zu Abend aßen."

Erst als Martha Washington Judge an ihre Enkelin verschenken wollte, entschied sich die junge Frau zur Flucht. "Die Aussicht auf ihre fortgesetzte Versklavung nach dem Tod der Washingtons festigte Judges Entschluss, ihre relativ angenehme Position in der Familie zu riskieren", heißt es dazu in der offiziellen Mount-Vernon-Biografie von Judge.

"Ich wusste, dass ich niemals frei sein würde, wenn ich nach Virginia zurückkehrte", sagte sie selbst in einem Interview, dass 1845 in Granite Freeman erschien. Die Zeitung war Teil der Abolitionismus-Bewegung und setzte sich dafür ein, die Sklaverei abzuschaffen. "Ich hatte schwarze Freunde in Philadelphia, zu denen ich vorher meine Sachen bringen ließ. Dann flüchtete ich, als die Washingtons gerade zu Abend aßen." Danach bestieg sie ein Schiff nach Portsmouth, New Hampshire.

Martha Washington zeigte sich defensiv und betonte, man habe Judge in ihrem Haushalt gut behandelt. Die First Lady mutmaßte außerdem, Judge sei "von einem Franzosen verführt" worden, der die Sklavin anschließend zur Flucht überredete.


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Im Norden der USA wuchs Ende des 18. Jahrhunderts die Opposition zur Sklaverei. In Pennsylvania wurde 1780 der Gradual Abolition Act verabschiedet. Das Gesetz zur schrittweisen Abschaffung der Sklaverei besagte, dass alle Sklaven, die länger als sechs Monate am Stück in dem Bundesstaat lebten, automatisch freigelassen würden. Doch die Washingtons bemühten sich während in ihrer Zeit in Philadelphia gezielt darum, den Status Quo aufrechtzuerhalten – und fanden ein Schlupfloch: Sie wechselten einmal im Halbjahr die Sklaven aus, die in der Präsidentenresidenz in Philadelphia dienten.

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Insbesondere Judge schienen sie nicht aufgeben zu wollen. Nach ihrer Flucht schalteten sie eine Anzeige in einer Lokalzeitung und boten zehn Dollar für denjenigen, der Judge zurückbrachte. "Entflohen aus dem Haushalt des Präsidenten der Vereinigten Staaten ist ONEY JUDGE, ein hellhäutiges Mulattenmädchen mit vielen Sommersprossen, sehr schwarzen Augen und buschigem Haar", hieß es darin. "Da es keinen Grund für ihre Flucht gab, lässt sich schwer mutmaßen, wohin sie gegangen ist oder was sie vorhat."

Letztendlich erkannte Elizabeth Langdon, Tochter des Senators John Langdon, die Geflüchtete auf den Straßen von Portsmouth, New Hampshire. Langdon informierte umgehend die Washingtons.

"Ich bin frei und ich weiß, dass ich dadurch zu einem Kind Gottes geworden bin."

Der Präsident reagierte schnell. Er beauftragte den Finanziminister Oliver Wolcott Jr., einen Zollbeamten in Portsmouth zu schicken, um Judge einzufangen und nach Virginia zu bringen. Dies war ein direkter Verstoß gegen den Fugitive Slave Act von 1793, demzufolge entflohene Sklaven vor einem Richter erscheinen mussten, nachdem man sie wieder eingefangen hatte. Washington hatte das Gesetz persönlich unterschrieben. Doch er betonte gegenüber Wolcott, er müsse aufgrund von Judges "Undankbarkeit" das Gesetz umgehen. Washington schrieb später an Wolcott, man habe Judge "mehr wie ein Kind denn wie eine Sklavin erzogen und behandelt", und daher "sollte sie nicht ungestraft entfliehen".

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Washingtons Plan ging nicht auf. Joseph Whipple, der Zollbeamte in Portsmouth, machte Judge zwar ausfindig, doch sie überzeugte ihn, sie dort bleiben zu lassen. In einem Brief schrieb der Beamte an Washington, er sei ergriffen von Judges "Durst nach vollständiger Freiheit", und warnte den Präsidenten vor den politischen Konsequenzen, wenn er sie holen ließe.

"Die Öffentlichkeit hier unterstützt die allgemeine Freiheit", schrieb er und riet Washington, den legalen Weg zu gehen, wenn er Judge zurückbringen wolle. Laut dem Buch Never Caught: The Washingtons' Relentless Pursuirt of Their Runaway Slave, Ona Judge empfahl Whipple außerdem, der Präsident solle die Sklaverei komplett abschaffen, angefangen mit Judge.

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Stattdessen suchten die Washingtons weiter nach ihr. Es sollte ihm allerdings nie gelingen, Ona Judge in die Sklaverei zurückzuholen. Stattdessen verbrachte sie den Rest ihres Lebens als Flüchtige. In New Hampshire heiratete sie einen freien schwarzen Matrosen namens Jack Staines, mit dem sie drei Kinder hatte. Sie lernte außerdem lesen und wurde zur frommen Christin.

Judges letzten Jahre waren nicht einfach. Sie wurde jung zur Witwe und überlebte auch all ihre Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen früh verstarben. Sie überlebte mit Hilfe von Feuerholz- und Lebensmittelspenden, bevor sie 1848 schließlich starb.

Die Washingtons bestanden darauf, Judge habe als Sklavin ein gutes Leben gehabt. Doch sie bereute nie, dass sie die Haussklavenrolle in einem wohlhabenden Haushalt gegen ein schwieriges Leben in Freiheit getauscht hatte. Als ein Interviewer in New Hampshire sie fragte, ob sie Reue verspüre, sagte sie: "Nein. Ich bin frei und ich weiß, dass ich dadurch zu einem Kind Gottes geworden bin."

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