Als eine Kindergartengruppe im Entenmarsch durch den Berliner Tiergarten stiefelt, reißt sich Daniel sein T-Shirt vom Leib und zeigt auf seine zehn Zentimeter lange Bauchnarbe. "Ich habe einiges gesehen, was du mit deinen 25 Jahren noch nicht gesehen hast", lallt er auf Polnisch in meine Richtung und pausiert auffällig lang, bevor er hinterherschiebt: "Und wahrscheinlich auch nie sehen wirst." Die Sonne knallt auf seine angeschwollene Stirnader. Der nimmt noch einen großen Schluck aus der vor ihm stehenden Gorbatschow-Pulle.
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Der 43-Jährige ist nach Schätzungen der polnischen Regierung einer von etwa 2.000 obdachlosen Polen in Berlin. Keine andere Nation ist so zahlreich auf den Straßen Berlins vertreten – und wächst so schnell. "Berlin als dynamische Großstadt zieht viele Menschen aus den osteuropäischen Ländern an, die dort in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben", sagt Karin Rietz von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Was bewegt die Polen und Polinnen, nach Berlin zu kommen, und wie erleben sie Deutschland – immerhin das Land, das Polen vor 79 Jahren überfallen und zugrunde gerichtet hat?
"Co on kurwa chce?"
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Das sie hier tun können, wonach ihnen der Sinn steht – das ist für sie ein Luxus, der ihnen zuhause in Polen verwehrt bleibt. Wir verlassen den Supermarkt mit einer Flasche "Gorbatschow", vier Bieren und billigem Zitroneneistee zum Nachspülen. "Wir können an öffentlichen Plätzen Alkohol konsumieren, in Parks schlafen, in der U-Bahn betteln – dafür wären wir in Polen längst verhaftet worden", sagt der 43-jährige Robert. Nach einem fünfminütigen Spaziergang stehen wir im Tiergarten und Daniel zieht sich aus.
"Deutschland bedeutet Freiheit für mich"
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Robert ist so etwas wie der Nomade der Gruppe. Bevor er nach Berlin kam, lebte er als Obdachloser in London, Warschau, Paris und Prag als Obdachloser. "Pennertourismus" nennt er das lächelnd, und klingt dabei nicht verbittert, nicht wie jemand, der das Leben auf der Straße als Problem oder gar Qual empfindet. Ob er nicht Angst habe, bei der Sommerhitze und dem vielen Alkohol zu dehydrieren? "Nein, der Winter ist schlimmer, da müssen wir wirklich aufpassen und Unterschlupf finden."Erst kürzlich beschloss die polnische Regierung, Sozialarbeiter aus Polen nach Berlin zu entsenden. Sie sollen Menschen wie Daniel und Robert davon überzeugen, nach Polen zurückzukehren. Ich frage, ob sie sich vorstellen könnten, nach Polen zurückzukehren. Daniel lacht kurz auf und schaut anschließend mit ernster Miene weg. Robert fragt: "Was sollen wir da?".