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Wie Soziale Medien unser Denken verändern und die Demokratie bedrohen

Die sogenannte "Revolution der digitalen Medien" hält nicht das, was der Name verspricht. Plattformen wie Twitter und Facebook schüren Empörung und Angst – und gefährden die Demokratie, analysiert unser Gastautor.
Bild: Shutterstock | Remix: Jason Koebler

David Golumbia ist Informatiker, Kulturkritiker und Professor an der Virginia Commonwealth University, an der er Digital Studies unterrichtet.

Am 11. Februar 2011, auf dem Höhepunkt des Arabischen Frühlings, am Tag, als der ägyptische Autokrat Hosni Mubarak nach über 40 Jahren an der Spitze des Landes zurücktreten musste, sagte der Internet-Aktivist Wael Ghonim: "Ein großer Teil dieser Revolution begann auf Facebook. Wenn du eine freie Gesellschaft willst, gib den Leuten einfach Internet."

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Doch fünf Jahre später, im Februar 2016, drückte Ghonim selbst Zweifel an seiner ursprünglichen Einschätzung aus. Zwar glaubt er immer noch, dass "die Sozialen Medien die politische Macht neu verteilen". Aber inzwischen denkt er auch, dass es drastische Auswirkungen auf eine Gesellschaft hat, wenn Netzwerke Menschen “die Macht geben, Informationen im großen Stil auszutauschen.” Und diese drastischen Konsequenzen müssen nicht unbedingt positiv ausfallen.

Folgt Motherboard auf Facebook, Instagram, Snapchat und Twitter

Deutlich sichtbar wurde das vor allem 2011, als junge Menschen im Nahen Osten auf Sozialen Medien zu Massenprotesten gegen autokratische Regierungen aufriefen. Diese Proteste wurden auch als “Facebook”- oder “Twitter-Revolution” bezeichnet. Woraus diese Revolution genau bestand, wurde in den unzähligen Berichten über die Proteste oft nicht näher definiert. Doch so viel steht fest: Soziale Medien spielten dabei eine große Rolle und Massendemonstrationen fanden in vielen Ländern statt – nur nicht im Westen: im Iran, in Moldawien, Tunesien, Ägypten und in etlichen Staaten des Nahen Osten, eine Bewegung, die auch als "Arabischer Frühling" bezeichnet wird.

Der damalige Konsens in der Berichterstattung lautete: Die Kommunikation auf Twitter und Facebook manifestierte sich in einer politischen Revolution; die Empörung der Bevölkerung wird durch soziale Netzwerke in eine "Rebellion" übersetzt, die schließlich zu einer demokratischen Regierung führt. Wenn man sich die Lage heute anschaut, dann bleibt ernüchternd festzuhalten: Die sozialen Netzwerke konnten nicht dabei helfen, diese Revolutionen in nachhaltige Demokratien zu verwandeln.

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"Das Internet kann sein Versprechen von mehr Demokratie nicht erfüllen."

Die Gründe dafür sind sicherlich komplex, doch ein Baustein der Antwort liegt im Design Sozialer Medien selbst: Social Media appelliert direkt an einen sehr impulsiven Teil unseres Hirns. So schenken wir Dingen Aufmerksamkeit, die der reflektiertere Teil unseres Verstandes wohl ignoriert hätte. Daher überrascht es nicht, dass diese Medienform besonders gut geeignet ist, um Hass, rassistische Ansichten und öffentliche Bloßstellung zu fördern.

Soziale Medien appellieren an unsere Emotionen

Denn für soziale Netzwerke ist es ein Kinderspiel, den rationalen Teile unseres Gehirns zu umschiffen. Stattdessen sprechen sie die emotionale, reaktionäre Seite in uns an, die alles gleich und sofort möchte. Diese Seite in uns verlangt nach schnellen Lösungen und lässt sich von Bildern und Clicks befriedigen, die unser Ego streicheln und mit denen wir uns wie Helden fühlen können. Doch wenn wir diesen egoistischen Gefühlen den Vorrang geben, geschieht das auf Kosten von gründlicher Überlegung, Planung und Interaktion, aus denen demokratische Politik entsteht. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine fundierte Debatte nicht auch online stattfinden kann. Aber es zeigt, dass es einen starken Trend weg von der sachlichen Debatte hin zu starken Emotionen gibt.

In diesem Zusammenhang sollte man überlegen, ob die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und das Referendum in Großbritannien zum "Brexit" auch als eine Art Social-Media-Revolution gewertet werden sollten. Denn schließlich sind sie ein Paradebeispiel für das, was einige schon immer als gesellschaftliche Auswirkung der digitalen Medien gesehen haben: Die Verdrängung von anderen politischen Medienformen, wie Fernsehen, Zeitungen und Radio.

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Trumps Wahlsieg und der Brexit repräsentieren beide den Siegeszug von emotionaler, egoistischer Politik über die rationalen und gründlichen Abwägungen, die einer demokratischen Regierung zugrunde liegen. Auch heute noch erscheinen fast täglich Berichte, die darlegen, wie soziale Netzwerke genutzt wurden, um Propaganda zu verbreiten und die US-Wahl und Brexit-Abstimmung zu manipulieren.

Vor allem die enormen Datensätze, die von Seiten wie Facebook gesammelt werden, machen soziale Netzwerke zu einem mächtigen Propagandatool. Datenanalysten können individuelles Nutzerverhalten in eine bestimmte Richtung stupsen – dazu reichen schon vermeintlich unschuldige Ausgangspunkte wie das "Gefällt mir" unter einer bestimmten Kosmetikmarke. Sogar Donald Trump glaubt, dass er "ohne Social Media" wahrscheinlich nicht zum Präsidenten gewählt worden wäre – und viele Experten geben ihm recht.

Das Silicon Valley holt sich Tipps vom Nobelpreisträger

Wie leicht Social Media unsere grundlegendsten Gefühle ausnutzen kann, wird anhand von zwei Treffen deutlich, die 2007 und 2008 zwischen dem Nobelpreisträger Daniel Kahneman, Pulitzer-Preisträger Richard Thaler und einigen Tech-Größen stattfanden. Diese Zusammentreffen werden in Jamie Bartletts kürzlich erschienender BBC Dokumentation Secrets of Silicon Valley beschrieben.

2007 und 2008 gab Kahneman ein Seminar mit dem Titel "Thinking, About Thinking". Im Publikum saß niemand Geringeres als die Führungsriege von Unternehmen wie Google, Twitter, Facebook, Wikipedia, Microsoft und Amazon. Kahneman ist international für seine Unterscheidung von zwei Arten des Denkens, dem "System 1" und "System 2", bekannt. System 2 steht für die langsame, logische und überlegte Entscheidungsfindung. System 1 hingegen ist schnelles, emotionales, automatisches, stereotypisches und unterbewusstes Denken.

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Facebook, Twitter und die meisten anderen sozialen Netzwerken basieren auf System 1. Deshalb interessierten sich auch so viele Entscheidungsträger aus der Tech-Branche für Kahnemans Seminar. Sie wollten lernen, wie man Medien gestaltet, um das System 1 anzusprechen und System 2 auszuhebeln.

Die Sozialen Medien versuchen, unsere Denkweise zu beeinflussen. Sie halten uns dazu an, schnelles Denken auf Probleme anzuwenden, die wir normalerweise mit Bedacht angehen würden. Das ist keine neue Entwicklung. Schon Zuckerbergs Vorgängerversion von Facebook, Facemash, funktionierte nach System 1, dem impulsiven System. Sean Parker, Gründungspräsident von Facebook, ließ in einem Interview mit Mike Allen von Axios keinen Zweifel: "Der Gedanke hinter diesen Anwendungen, von denen Facebook die Erste war, drehte sich allein um die Frage: 'Wie können wir so viel deiner Zeit und Aufmerksamkeit wie möglich in Anspruch nehmen?'

Auch der ehemalige Vizepräsident für Wachstum bei Facebook, Chamath Palihapitiya, sagte in einer Rede vor Studenten, dass Social-Media-Unternehmen Tools geschaffen hätten, die die soziale Struktur, auf der unserer Gesellschaft beruht, auseinander reißen würden.

Wie Soziale Medien den Verstand ihrer Nutzer "kapern"

Parker und Palihapitiya stehen mit diesen Beobachtungen nicht alleine da. Roger McNamee, ein Risikokapitalgeber, der in der frühen Phase sowohl in Google als auch in Facebook investierte, beschrieb das Vorgehen dieser Unternehmen wie folgt: "Sie kombinieren Überzeugungsmethoden aus dem Glücksspiel und der Propaganda mit moderner Technik. Das geschieht auf eine Weise, die die öffentliche Gesundheit und die Demokratie gefährden." In einer CNN-Kolumne beschrieben zwei Strafrechtsexperten, wie die Sozialen Medien Extremismus förderten. "Durch die Sozialen Medien werden Geschichten, die früher als Verschwörungstheorien abgetan worden wären, für einige Menschen zu einer normalen Meinung."

2016 gewann James Williams den Nine Dots Prize, der von der Cambridge University mit ins Leben gerufen wurde. Auf die Frage "Machen digitale Technologien Politik unmöglich?" hatte der frühere Werbeleiter bei Google geschrieben, dass Social Media und Digital-Technologien dafür designt seien, "unsere psychologischen Schwächen auszunutzen, um uns zu Zielen zu führen, die eventuell gar nicht mit unseren eigenen übereinstimmen." In einem Interview, das er vor Kurzem dem Guardian gab, ging er noch einen Schritt weiter und sagte, dass die "Aufmerksamkeitsökonomie genau die Annahmen unterwandern würde, auf denen die Demokratie aufbaut". Als ehemaliger Entwickler im Silicon Valley war Williams selbst daran beteiligt, Technologien zu entwickeln, deren Zweck es seiner Meinung nach ist, den menschlichen Verstand zu "kapern".

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"Wer die Facebook-Revolution und die Twitter-Revolution hochgejubelt hat, feierte in Wirklichkeit, dass ruhige Reflexion durch Reaktionismus und starke Emotionen abgelöst wurde."

Auch wenn man sich akademische Forschungsarbeiten der letzten Jahre anschaut, sieht man viele Parallelen. 2013 schrieb die Wissenschaftlerin Sonya Song: "Menschen wechseln ständig zwischen dem schnellen und langsamen Denken. Doch in den Sozialen Medien werden die Menschen vorrangig vom schnellen Modus geleitet." Kürzlich erschienene Bücher von Natasha Dow-Schüll und Adam Alter beschreiben, mit welchen gezielten Methoden Social-Media-Plattformen das Verhalten der Nutzer beeinflussen möchten. Dieses Vorgehen beschreibt auch der Kinderarzt Robert Lustig in seinem Buch Hacking of the American Mind: The Science Behind the Corporate Takeover of Our Bodies and Brains, das 2017 erschienen ist.

Zu viele Menschen haben automatisch angenommen, dass die neue Technologie nur dem Guten dienen würde. Doch es gibt eigentlich keinen Grund, das zu glauben. Viele Forscher argumentieren, dass die Welt weniger demokratisch ist, seit es das Internet gibt. Und man sollte zumindest in Erwägung ziehen, dass es hier eine Verbindung gibt: Das Internet kann sein Versprechen von mehr Demokratie nicht erfüllen.

Die Gadgets, die wir täglich nutzen, und die Sozialen Netzwerke, mit denen wir interagieren, sind so gestaltet, dass sie unsere Aufmerksamkeit fesseln und den vernünftigeren Teil unseres Gehirns umgehen. Wieso sollten wir also glauben, dass dieser Kurzschluss zu mehr Demokratie führt? Schließlich beweist uns die Geschichte, dass Denken nach System 1, wenn es nicht von seinem Gegenpart gemäßigt wird, zu Autoritarismus und Gewalt führt.

Wer die Facebook-Revolution und die Twitter-Revolution hochgejubelt hat, feierte in Wirklichkeit, dass ruhige Reflexion durch Reaktionismus und starke Emotionen abgelöst wurde. Der Sieg von System 1 über System 2 ist die tatsächliche Revolution der digitalen Medien. Zurück bleibt die Frage, ob Demokratien den Willen und die Mittel haben, bedachte Überlegungen wieder zurück an den Verhandlungstisch zu bringen, oder ob die digitalen Technologien Politik gänzlich unmöglich gemacht haben.