Ich muss etwas gestehen. Mein Besuch bei einer von Sexarbeiterinnen veranstalteten Aktzeichnung hat mich nur aus einem Grund nervös gemacht: Ich hatte seit meinem Studium keinen Bleistift mehr in die Hand genommen. Ich habe im Laufe der Jahre eine Menge Kolumnen und Reportagen über Sexpartys geschrieben. Dementsprechend ging ich auch nicht davon aus, dass mich die nackte Haut und das Sexspielzeug stören würden.
Ich dachte mir, dass ich vielleicht ein paar heimliche Erektionen entdecken würde. Als ich dann das Zimmer im ersten Stock eines etwas heruntergekommenen Pubs im Südosten von London betrat, war die Stimmung dort jedoch unglaublich entspannt—ja fast schon verhalten. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen aus allen möglichen Altersklassen und warteten auf Sitzkissen geduldig auf den Beginn der Aktzeichnung. Und inmitten des Kreises befand sich—umringt von Vibratoren—Ana, die quirlige Leiterin des Kurses.
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Ana erklärte uns kurz, dass sie zuerst posiert. Danach sollte dann Pussy Willow folgen. Pussy hat sich darauf spezialisiert, Fetische von Männern zu bedienen, die auf starke Frauen stehen. Und so quetschte ich mich zwischen eine junge Kunststudentin und einen behaarten Typen, nahm meinen Stift in die Hand und wartete darauf, dass es mit dem Sex losgehen würde.
Es sollte jedoch anders kommen. Ana posierte stattdessen nämlich alleine und beschäftigte sich dabei nur mit ihrem Sexspielzeug. Irgendwann hatte sie sich ihrer Klamotten komplett entledigt und stellte mit ihrem Laptop eine Szene nach, in der sie mithilfe der Webcam für einen Kunden performt. Währenddessen scherzte sie immer wieder herum und berichtete uns von ihren Erfahrungen als Sexarbeiterin. Klar, der Kontext der Veranstaltung war eindeutig von sexueller Natur. Aber die eigentliche Erfahrung? Die war entwaffnend normal.
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“Ich dachte erst, dass die Leute zu meiner Aktzeichnung kommen würde, um sich aufzugeilen”, erzählte mir Ana später. “Ich befürchtete, dass sich das Ganze zu einer Art kostenlosen Sexshow entwickeln könnte. Zum Glück ist dieser Fall nicht eingetreten. Ich versuche ja nur, einen leicht zugänglichen und politischen Raum für die Menschen zu schaffen, die sich künstlerisch betätigen wollen.” Handelt es sich nun wirklich um eine politische Handlung oder ist der Einsatz von Sexarbeiterinnen als Aktmodelle nur ein Publicity-Stunt? Meiner Meinung nach besteht hier tatsächlich der Wille, eine Diskussion zum Thema Sexarbeit anzustoßen. Diese Diskussion erscheint mir jedoch eher sinnlos, wenn man damit nur Leute erreicht, die sowieso schon der gleichen Meinung sind.
Die zweite Hälfte der Veranstaltung war dann von der Domina Pussy Willow und ihrem “Opfer” Jonathan geprägt, die zusammen verschiedene fetischisierte Wrestling-Posen nachstellten. Sie mit ihren angespannten Muskeln und Gesichtern sowie in quasi vertauschten Rollen zu zeichnen, fühlte sich ungewöhnlich an—aber nicht sexuell oder sexy. Sie wechselten ihre Posen immer schnell und energetisch. So fühlte sich ihr Auftritt im Gegensatz zum intimen Setting von Anas Szene auch eher wie eine Performance an.
“In Bezug auf die Kunst habe ich mich schon immer auf das performative Element der Sexarbeit und der Geschlechterrollen konzentriert”, meinte Ana. “So beschäftigte ich mich auch mit Thomas Ekings, einem Künstler aus dem 17. Jahrhundert. Er hat diese Art der Zeichenkurse neu strukturiert. Anstatt Prostituierte und Kurtisanen als Models zu engagieren, haben sich seine Schüler einfach gegenseitig gezeichnet. So hat sich in der Kunstwelt eine ganz neue Klassenunterteilung herausgebildet. Wir befinden uns jedoch im Jahr 2016. Prostituierte entsprechen nicht mehr dem krankheitsverseuchten Bild von damals, als man sie noch für so etwas ausnutzte. Nein, heutzutage gibt es zum Thema Sexarbeit viel Aktivismus und Strip- und Webcam-Shows haben viele performative Elemente. Und genau diesen Gedanken muss man immer wieder ansprechen.”
“Nicht jeder Sexarbeiter oder jede Sexarbeiterin ist gierig—und man unterdrückt oder nutzt sie auch nicht alle aus. Meiner Meinung nach lässt einem jedoch keine Art der Arbeit mehr Macht zukommen”, erklärte sie mir. “Dieser Kurs ist Teil einer Bewegung für die Entkriminalisierung. Das bezieht sich jedoch nur auf bestimmte Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen. Ich will die Sexarbeit allgemein entstigmatisieren und mich nicht nur auf eine positive Einstellung zum Thema Sex konzentrieren. Manche Leute hassen nämlich den Sex mit ihren Kunden und deshalb geht es für sie dabei nur ums Überleben. Wenn man sich sowohl für die Entstigmatisierung als auch für die Entkriminalisierung einsetzt, schafft man damit eine gewisse Sicherheit für die Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen. Ich will, dass sich die Öffentlichkeit mit dem Thema Sexarbeit auseinandersetzt und erkennt, dass es hier nicht immer so schwarz und weiß zugeht, wie es die Medien normalerweise darstellen. Nein, das Ganze kann auch erotisches Wrestling oder eine einfache Einkaufstour sein.”
Als Veranstalterin des Kurses hatte Ana natürlich viel Zeit, sich eine Meinung zu diesem Thema zu bilden. Deshalb unterhielt ich mich auch mit einigen anderen Anwesenden, um herauszufinden, wie sie über diese Sache denken. Warum wollten sie—abgesehen vom eventuellen Nervenkitzel—überhaupt an dieser Veranstaltung teilnehmen? “Ich weiß gar nicht, was ich mir hiervon versprochen habe”, sagte Tegan, eine 20-jährige Kunststudentin. “Ich hatte mich vorher auch schon mal an der Aktzeichnung versucht, aber noch nie so—also mit zwei Menschen in solchen Positionen. Außerdem habe ich in meinem ganzen Leben noch nie mit einer Sexarbeiterin zu tun gehabt.”
Genauso wie der Rest der Anwesenden schien auch Tegan das sexuelle Element der Veranstaltung nichts auszumachen: “Bei einer Aktzeichnung hat man sich immer schnell an die Tatsache gewöhnt, dass die Models nackt sind. Hier hat mir besonders gefallen, wie entspannt alles zuging.”
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“Außerdem ist mir hier nicht nur wichtig, dass es sich um einen künstlerischen Raum handelt”, fügte die 22 Jahre alte Kunststudentin Rachel hinzu. “Hier geht es ruhig und entspannt zu. Es fühlt sich nicht wie eine Vorlesung an.”
Egal ob nun beabsichtigt oder nicht, Ana hat die Sexarbeit in einen so normalen Kontext gesetzt, dass man sie sogar als “ruhig” und “entspannt” bezeichnet. Sie trägt dazu bei, diesen Beruf von seinen Stereotypen loszulösen. Und genau das ist unglaublich wichtig. Ach ja, Ständer habe ich während der ganzen Veranstaltung wirklich keine gesehen.
Einige Namen wurden geändert, um die Identitäten der Leute zu schützen.