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Blumenkohl-Ohren sind das absurdeste Schönheitsideal unter Sportlern

Eines Tages bekam ich ein Foto von einem guten Freund zugeschickt, auf dem sein rechtes Ohr mit einer faustdicken Verbandsschicht zu sehen war, die quer über seinen Kopf gebunden wurde. Der Ohrwickel war so übergroß, dass mein erster Gedanke war: „Mein Gott, der Arme hatte einen schrecklichen Unfall und dabei sein Ohr verloren.” Als ich dann nachfragte, meinte er, dass er gerade aus dem Krankenhaus käme, wo er sich sein beginnendes Blumenkohl-Ohr wegmachen ließ, worauf mein zweiter Gedanke war: „Was zur Hölle haben Gehörgänge mit Gemüse zu tun?”

Da war also dieses Wort, mit dem ich nichts anfangen konnte, das aber auch irgendwie sehr, sehr ekelhaft klang. Blumenkohl an sich brauche ich schon nicht unbedingt auf dem Teller. Ein großer Ohren-Fan bin ich darüber hinaus auch nicht. Es gibt für mich ästhetischere Körperteile als ein mit dünner Haut überzogener, verformter Riesenknorpel. Ich zumindest habe noch nie gehört, dass jemand ein Kompliment für seine besonders schönen Ohren bekommen hätte. „Wow, du hast richtig geile Ohrmuscheln!” ist ein Satz, für den es zwar sicher irgendeine Fetisch-Nische, aber nicht wirklich viel Platz im Mainstream gibt. Fakt ist auf jeden Fall, dass die Kombination dieser beiden Worte bei mir anfangs neben Stirnrunzeln auch Ekel ausgelöst hatte. Sorry, Blumenkohl-Ohr-Träger.

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Mit diesem Vorwissen, das kein Wissen war, machte ich mich auf die Bildersuche und sah im Internet endlich mein erstes richtiges Blumenkohl-Ohr. Die aufgedunsene, vernarbte Ohrmuschel, die mehr an ein Nahrungsmittel als an ein menschliches Sinnesorgan erinnert, hatte im ersten Augenblick etwas leicht Verstörendes. Das Gemüseohr strahlte für mich irgendwie Aggressivität und Angriffslust aus. In meinem naiven Kopf waren das die Überbleibsel von betrunkenen Raufereien auf der Straße; Wunden, die sich hitzige Schlägertypen im Gefecht mit diversen Türstehern zuziehen.

Dabei ist das Ganze halb so schlimm. Mein Freund, der in seiner Freizeit gerne mal ein Kostüm überzieht und sich mit einem zweiten Kostümierten solange auf dem Boden wälzt, bis einer der beiden keine Lust mehr hat—in seinem Fall nennt man es Brasilian Jiu Jitsu—, hatte sich sein Ohr „gebrochen”. Er erklärte mir, dass es eine sehr schmerzhafte Kampfsportverletzung sei, die nach gewisser Zeit auch nicht mehr wegzukriegen ist, wenn man nichts dagegen unternimmt. Dass es also die Nachwehen von professionellem Bodenkampfsport sind und nicht unbedingt die Zeichen vergangener Straßen-Schlägereien mit etlichen Promille intus, war erst mal gut zu wissen.

Mein anfänglicher Vorbehalt lag im Endeffekt an meinem Unwissen. Wer kann schon ahnen, dass sich ein menschliches Ohr in Gemüse verwandelt, sobald man zu kräftig daran zieht? Ich habe mich daher mit einem erfahrenen Kampfsportler und Trainer getroffen—selbst seit 25 Jahren ein erfolgreicher Blumenkohl-Ohr-Träger—und mir einige Insider-Informationen geben lassen. „Im Normalfall passiert das den Hobbysportlern nicht, sondern eher den Profi- oder Leistungssportlern, die täglich stundenlang trainieren”, meinte er. „Das ist in dieser Welt ganz normal und fällt auch kaum einem auf. Beim Brasilian Jiu Jitsu möchte man zum Beispiel so eng wie möglich kämpfen. Deshalb kommt es dazu, dass das Ohr ständig auf den Trainingsmatten oder am Trainingspartner selbst reibt, sei es beim Würgen oder beim Auf-den-Boden Drücken. Durch starkes Reiben oder starken Druck ,bricht’ das Ohr dann und der Raum zwischen Knorpel und Haut füllt sich mit Blut, quillt auf und wird irgendwann hart. Dasselbe gilt für andere Bodenkampfsportarten”, erklärt mir der Trainer weiter. „Judo, MMA, Ringen, aber auch Rugby-Spieler sind bekannt für ihre schönen Ohren.”

Mit freundlicher Genehmigung des Trägers

Es ist also eine Nebenwirkung vom Bodenkampfsport und ein fester Bestandteil in Profikreisen. Alles gut soweit. In der Profi-Szene kommt einfach jedem ein wenig Gemüse aus den Ohren. „Für jüngere Kämpfer ist das Blumenkohl-Ohr eine Art Taufe. Die freuen sich dann total, sind stolz und zeigen es wir einen Preis her. Sie geben teilweise sogar damit an”, meint der Trainer, der übrigens anonym bleiben möchte. Die jugendlichen Sportler seien von dieser Sache so begeistert, weil sie glauben, dass die verschnörkelten Ohren Erfahrung und Stärke ausstrahlen würden. Die kaputten Ohren werden laut ihm damit zu einer Art Statussymbol. Das sei wie mit verschiedenen Frisuren oder neuer Kleidung. Man vergleicht, zeigt sich die neuste Wölbung, und verarscht den mit den wenigsten Brüchen mit „Oh schaut, da ist der Schöne!”—wobei man in dem Fall natürlich nicht schön sein will.

Mit meiner anfänglichen Reaktion bin ich offensichtlich auch nicht alleine. Der Trainer erzählt mir, er müsse trotz Filmen wie Foxcatcher—dem neuesten Hollywood-Film, bei dem Blumenkohl-Ohren zwar vorkommen, aber nicht thematisiert werden—andere immer noch über seine Ohren aufklären. Vor allem ältere Herrschaften, wie Leute, die neben ihm im Flugzeug sitzen—und natürlich Leute wie mich, die keine Ahnung von Kampfsport haben. Er müsse dann Fragen beantworten wie „Hatten Sie einen Unfall? Haben Sie eine Krankheit? Wurden Sie von einem Hund gebissen?” Einmal wollte sogar jemand ein Foto von seinen Ohren machen—ich auch.

Screenshot aus dem offiziellen Foxcatcher-Trailer via YouTube

Für mich hat das Gemüse-Ohr aber mit dieser Erklärung schnell seinen Schrecken verloren. Warum, kann ich auch nicht genau sagen, denn schöner wird es dadurch auch nicht. Zumindest ist es gut zu wissen, dass dieses brutal aussehende Ding einen mehr oder weniger professionellen Ursprung hat. Doch da geht es nicht jedem so wir mir. Als ich mir letztens Foxcatcher im Kino angeschaut habe, hat meine Sitznachbarin in regelmäßigen Abständen gezuckt—nämlich immer dann, wenn der Ohrenkarfiol zu sehen war. Dieses schaudernde Zucken ging auch dann nicht weg, als ich ihr erklärt hatte, worum es sich dabei handelt. Während dem Film bekam ich daher weiterhin „Gott, das ist so widerlich!” vom Nebensitz zugeflüstert.

Wo ich dann aber aufhöre, mitzukommen, ist, wenn sich die jungen, naiven Anfänger so ein neu designtes Ohr als Statussymbol nicht nur wünschen, sondern auch mit Absicht zufügen—so wie sich Burschenschafter gegenseitig Mensuren verpassen. Dazu meint der Profi: „Ja, ich habe schon Jugendliche beobachtet, die sich nach dem Training an den Ohren reißen oder sich damit an ihren Trainingsanzügen reiben, um sich so die Ohren zu verletzten. Das machen aber nur sehr, sehr wenige. Nämlich die, die diese besondere Persönlichkeit haben.” Besondere Persönlichkeit also. Mein Freund gehört offenbar nicht zu denjenigen, die eine besondere Persönlichkeit haben. Er hat sich rechtzeitig gegen das Blumenkohl-Ohr entschieden.

Diskutiert mit Philipp auf Twitter über Schönheitsideale.