Eine junge Tibet-Aktivistin erzählt, wie sie den Protest in Bern erlebt hat

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Politik

Eine junge Tibet-Aktivistin erzählt, wie sie den Protest in Bern erlebt hat

Die Berner Polizei verhaftete bei den Protesten gegen den Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping über 30 Pro-Tibet-Aktivisten.

Titelfoto von Philipp Mäder/Schweizer Illustrierte Als Schweiz-Tibeterin war mir klar, dass ich bei mir zuhause gegen den chinesischen Präsidenten Xi Jinping protestieren muss, als vor drei Wochen angekündigt wurde, dass er für einen Staatsbesuch in die Schweiz kommen wird. Seit ich 17 Jahre alt bin, versuche ich auf die Situation in Tibet aufmerksam zu machen. Damals habe ich über soziale Medien mitbekommen, wie Einsatzkräfte tibetische Proteste gegen die Olympischen Spiele in China im Jahr 2008 brutal niedergeschlagen hatten. Am Sonntag war ich Mediensprecherin des Vereins Tibeter Jugend in Europa (VTJE) und der Aktionsgruppe.

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Für mich ist klar: Chinas Staatspräsident Xi Jinping will die Menschenrechtsverletzungen in Tibet vertuschen. Wenn er die Schweiz besucht, benutzt er wirtschaftliche Diplomatie als Druckmittel, um auch das Stillschweigen der Schweiz über Tibet zu erpressen. Dies ist ein Trend, den ich und andere Tibetaktivisten seit einigen Jahren in der ganzen Welt beobachten. Politiker, ob liberal oder konservativ, machen mit.

Das Ziel unserer Protestaktion in Bern war es, gegen Xi Jinpings Politik in Tibet und die freundschaftlichen Beziehungen des Bundesrates zu China zu kritisieren. Die Menschenrechtssituation in Tibet hat sich vor allem seit der Machtübernahme von Xi Jinping drastisch verschlechtert, wie zum Beispiel auch Amnesty International berichtet. Seit 2009 haben sich nach Informationen diverser NGOs 144 Tibeter in Protest gegen die chinesische Regierung selbst verbrannt.

Am Sonntagmorgen teilte sich unser Aktionsteam um 10:00 Uhr in Gruppen auf und wir machten uns auf den Weg Richtung Berner Innenstadt. Das Aktionsteam bestand aus 16 jungen Tibet-Schweizer und zwei Schweizerinnen vom Verein Tibeter Jugend in Europa (VTJE), alle im Alter von 18 bis 32 Jahren und aus Zürich, Basel, Bern, Glarus, St. Gallen und Schwyz. Im Zug sprachen wir auf Tibetisch, statt wie gewohnt auf Schweizerdeutsch. Wir wollten das Aktionsvorgehen besprechen, ohne dass unser Gespräch von Mitfahrenden gehört wird—und wir waren auch einfach sehr angespannt. Unsere Kollegen wurden schon am Bahnhof auf ihre Personalien kontrolliert und informierten uns darüber per Telefon. Deswegen waren wir uns alle bis zum letzten Augenblick unsicher, ob die Aktion überhaupt gelingen würde.

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Ich war erst an der Kreuzung zum Waisenhausplatz, als ich schon die ersten "Free Tibet"-Schreie hörte und Richtung Bärenplatz losrannte. Als ich dort ankam, waren schon alle Mitstreiter in Aktion und unser grosses Banner mit der Aufschrift "Free Tibet" war gut leserlich gespannt und positioniert, mit dem Bundeshaus im Hintergrund. Die Slogans meiner Kollegen ertönten laut und klar im Protestunisono: "Shame on Xi Jinping", "Shame on China", "We want Freedom". Ich sah, dass viele Passanten angehalten hatten und im Halbkreis um meine Kollegen herum standen. Die schwerbewaffneten Polizisten bildeten eine Blockade, damit sich meine Kollegen nicht Richtung Bundesplatz, der gut 150 Meter entfernt liegt, bewegen konnten. Die Polizei schreitete zunächst nicht aktiv ein und stellte sich militärisch geordnet wie eine Wand unmittelbar hinter der Aktionsgruppe auf. Mit jeder Minute kamen mehr Polizisten auf den Platz, dazu ein Wasserwerfer, der sich direkt hinter meinen Kollegen positionierte.

Foto zVg von VTJE

Nach zwanzig Minuten waren geschätzt sieben mal mehr Polizisten vor Ort, sie kamen von überall her. Auch Zivilpolizisten mischten sich unter das Geschehen und sprachen Passanten und Passantinnen an. Insgesamt waren mittlerweile zirka 60 bis 70 Polizisten auf dem Platz. Ich kehrte um, verliess so unauffällig wie möglich den Platz, um unsere Medienmitteilung zu schreiben. Am wichtigsten war mir dabei folgendes Zitat von Namtso Reichlin, der Vize-Präsidentin des VTJE:

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Xi Jinping hat die kolonialistische Unterdrückungspolitik in Tibet massiv intensiviert und die Menschenrechtssituation hat sich deutlich verschlechtert. Heute gibt es über 2.200 politische Häftlinge in Tibet und unseren Landsleuten wird die freie Meinungsäusserung verweigert. Diese Repression darf der Bundesrat nicht durch freundschaftliche Beziehungen zu China gutheissen.

Meine Kollegen wurden in der Zwischenzeit von der Polizei eingekreist, unter den Käfigturm gedrängt und eingekesselt. Sie demonstrierten weiter und setzten sich, die Arme gegenseitig eingehakt, auf den Boden, immer noch umkreist von Polizisten.

Das Polizeiaufgebot war meiner Meinung nach sehr gross und vergleichbar mit einem Ausnahmezustand, wenn man beachtet, dass 18 junge Schweizer gewaltfrei protestierten. Im Durchschnitt waren gut fünf Polizisten pro Aktivist vor Ort, die innerhalb von Sekunden meine Kollegen körperlich einzeln überwältigten und so schnell wie möglich vom Aktionsort wegschleppen konnten. Die Polizisten waren ausgerüstet wie bei einem Schwereinsatz: Sie trugen Helm, Schild, Panzerweste und Knieschoner.

Migmar beim Protest in Bern | Foto zVg von VTJE

Namtso und ich hatten uns in ein Café zurückgezogen, wo Namtso über Telefon und Whatsapp laufend von unserem Kollegen Jigmi informiert wurde, der immer noch vor Ort war. Er beobachtete einige Meter abseits vom Geschehen, wie unsere 14 eingekesselten Kollegen verhaftet wurden. Ich notierte alles für die Medienmitteilung. Jigmi schilderte uns Folgendes:

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Es fuhr ein weisser Bus vor und all meine eingekesselten Kollegen wurden nacheinander von jeweils vier Polizisten visiert und verhaftet. Die Polizei bildete einen engen Kreis um meine Kollegen, über den sie nicht hinwegsehen konnten. Um jeden einzelnen Aktivisten zu verhaften, tippten sie einem Polizisten auf die Schulter und dieser öffnete dann den Kreis. Durch diese Lücke, die nur ein paar Sekunden offen war, rannten fünf Polizisten auf einen Aktivisten zu und trugen ihn weg. Dabei kam es zu sehr rabiaten Szenen: Der erste Kollege, den die Polizei verhaftete, wurde brutal zu Boden gedrückt und einem anderen wurde der Schlagstock mehrmals in den Rücken gestossen. Jigmi berichtete zudem von drei Scharfschützen, die unmittelbar in der Nähe der Protestaktion auf dem Dach der Berner Kantonalbank stationiert waren.

Die Polizei entriss den Kollegen alle Plakate, Flaggen und Banner und gab sie ihnen bis heute nicht zurück. Nachdem alle Aktivisten in diesen Bus gezerrt wurden, die Arme durch Polizisten hinter ihrem Rücken verschränkt, wurden sie zur Polizeistation gebracht. Insgesamt wurden 14 meiner Kollegen verhaftet. Die Polizei konfiszierte alle persönlichen Gegenstände. Meine Kollegen wurden drei Stunden auf der Station festgehalten. Bei der Entlassung mussten sie ihre Personalien angeben. Während dieser Zeit war es nicht möglich, sie zu kontaktieren.

Nach der Freilassung am Abend sahen sie alle sehr müde aber zufrieden aus, weil sie schon von der grossen Medienberichterstattung erfahren hatten. Einige Kollegen hatten körperliche Beschwerden als Folge der Handgreiflichkeiten der Polizei: starke Schmerzen an den Schultern, am Oberam, am Handgelenk und eine hatte blaue Flecken auf dem Arm und dem Knie, das aufgeschürft war.

In den 60er-Jahren nahm die Schweiz als erstes westliches Land tibetische Flüchtlinge auf. Unsere Grosseltern und Eltern flüchteten nach der chinesischen Invasion in die Schweiz und wurden hier als Fabrikarbeiter von der Schweizer Wirtschaft benötigt. Sie zogen ihre Kinder hier auf und wurden Teil dieser Gesellschaft. Wir, ihre Kinder und Enkelkinder, sind als Schweizer geboren. Heute spüren wir allerdings keine Solidarität mehr von der Schweizer Regierung und wir haben das Gefühl, dass sie uns und allen Tibetern mit ihrer aktuellen Chinapolitik den Rücken zukehrt. Als Bürger dieses Landes fühlen wir uns betrogen durch das Freihandelsabkommen, das die Schweiz als erster europäischer Staat mit China unterzeichnet hat. In diesem Abkommen werden die Menschenrechte, die Umwelt und Tibet nicht erwähnt.

Das Demonstrationsverbot vom Sonntag empfanden wir als eine Beleidigung für uns junge Tibet-Schweizer, die wir nicht hinnehmen wollten. Für uns war es unverständlich, wie die Schweizer Behörden unsere demokratischen Rechte dermassen unterbinden konnten, nur um vor Xi Jinping den Kotau zu machen. Für mich hat sich dadurch einmal mehr gezeigt, dass die Annäherungen an China negative Auswirkungen auf unsere Schweizer Demokratie und unsere Werte hat. Ich und meine Kollegen haben unsere Stimmen erhoben und gegen Xi Jinping demonstriert, aber dabei fühlten wir uns von unserer eigenen Regierung zensiert.

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