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The Moral Compass Issue

Besuch bei spanischen Hausbesetzern

Die Hausbesetzer dort nehmen dich wahrscheinlich liebend gerne auf.

Dieses Banner wurde bei einer der vielen Massendemos der Indignados-Bewegung in Spanien geschwenkt. Darauf steht: „Die Straße gehört uns. Wir zahlen nicht für deren Krise.“ Das vierstöckige Gebäude, das zum Symbol des spanischen Kampfes gegen die Zwangsvollstreckung geworden ist, ist ein freundlicher Ort. Wie freundlich? Während ich auf die Haustür zugehe, kann ich Fetzen von „You’re the One That I Want“ aus Grease aus den Fenstern schallen hören. Jede Revolution braucht wohl ihre Hymne … Ich werde von zwei Mädchen von der örtlichen assamblea empfangen, die das ehemalige Ladengeschäft in einen improvisierten Infoladen verwandelt haben, in dem es Flugblätter über 15-M (wie die spanische Version der Occupy-Bewegung heißt) ebenso wie genauere Infos zu den Bewohnern des Hauses gibt. Meine erste Frage ist, warum sie die Polizei noch nicht aus dem Haus, das ihnen schließlich nicht gehört, rausgeschmissen hat, oder ihnen wenigstens mit einer Zwangsräumung droht. Bevor er zum Besetzerparadies wurde, stand dieser unscheinbare Vorstadtwohnblock etliche Jahre leer, obwohl er sehr wohl bewohnbar war—ein zufälliges, fröhliches Nebenprodukt der 2008 geplatzten Immobilien- und Baublase. Die Familien besetzten das Haus direkt nach den „15-O“-Protesten—dem globalen Aktionstag, den die Occupy-Bewegung am 15. Oktober organisierte. Nach der Demo stürmte eine Gruppe von ca. 2.000 Personen das Nou-Barris-Gebäude und verwandelte es in einen Zufluchtsort für spanische, dominikanische, kolumbianische und Zigeunerfamilien, die ihr Zuhause verloren haben und immense Schulden mit sich herumschleppen. Laut Hibai Arbide Aza, einem Anwalt, der die Familien der Hausbesetzer vertritt, bauen die Bewohner auf eine seltsame Rechtslücke. „Die Strafanzeige, die die Bank gestellt hat, lautete auf Einbruch“, sagt er. „Aber da niemand der Leute, die das Gebäude am ersten Tag aufgebrochen haben, als die Leute identifiziert werden konnten, die jetzt hier wohnen, hat der Richter den Fall ad acta gelegt. Wir warten aber noch auf den Ausgang der Zivilklage.“ Das könnte zwischen ein und drei Jahren dauern. Die legale Situation der Besetzer ist ungewöhnlich, aber ihr Schicksal ist weit verbreitet. An die 500.000 spanische Familien wurden obdachlos, nachdem sie ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten, und die Arbeitslosenrate ist auf 21 Prozent gestiegen—die höchste in ganz Europa. Die Leute sind verständlicherweise sauer und ihre Frustration hat zur Gründung von Gruppen wie Plataforma de Afectados por la Hipoteca (Plattform für Leidtragende von Hypotheken) geführt, die seit zweieinhalb Jahren um die rückwirkende Einführung der dación de pago kämpfen. Das ist ein rechtlicher Vorgang, der bankrotten Schuldnern ihre Schulden erlässt und zwangsversteigerte Immobilien wieder in ihren Besitz überträgt. Bisher haben die Herren der spanischen Finanzwelt sich wenig bereit gezeigt, Schulden zu erlassen, und die Regierung steht fest auf der Seite der Banken. Während die öffentliche Debatte sich hinzieht, hat die Polizei begonnen, die Bewohner des Nou-Barris-Gebäudes zu bedrohen, sagt Ana Laura, eine 27-jährige Kolumbianerin, die in dem Haus wohnt. „Leider gelang es ihnen, eine der älteren Damen zu überzeugen, dass sie einen Durchsuchungsbefehl haben“, sagt sie. „Sie ließ sie herein und so stehen nun sieben Familienmitglieder aufgrund von Einzelanzeigen wegen Einbruchs vor Gericht. Und dieses Wochenende weckten die Bullen alle Kinder auf, indem sie um 7 Uhr morgens an die Haustür hämmerten. Warum tun die so etwas?“ Die Familien haben wenig Verständnis für die Polizei oder für Politiker jeglicher Parteien. Die Parlamentswahlen fanden am 20. November statt, und als ich die Hausbesetzer fragte, ob irgendeiner von ihnen zur Wahl gehen würde, war das Gelächter so laut, dass die Vögel auf der Plaza vor dem Haus aufgeschreckt davonflogen. „Was tun die Politiker denn schon für uns? Einen Scheißdreck!“, sagte ein Besetzer, der seinen Namen nicht nennen wollte. Ich fragte ihn, wo er hinziehen wolle, nachdem das Haus geräumt sei und er antwortete: „Na ja, es ist nicht so, dass es in Spanien keine leeren Häuser gäbe.“

Foto von Pablo Sternbach