"Etappen einer Flucht" – Vom Fotografen zum Helfer
Foto: Simon Van Hal

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"Etappen einer Flucht" – Vom Fotografen zum Helfer

Der Fotograf Simon Van Hal begleitet einen Tag lang Helfer und Geflüchtete an der ungarische Grenze und beobachtet neben aufgewühlten Menschenmassen auch fragwürdige Polizeieinsätze.

Soll man das Leid von geflüchteten Menschen lieber sichtbar machen oder besser einschreiten und helfen? Diese Frage stellte sich der Fotograf Simon Van Hal, der sich am ungarischen Bahnhof mitten unter einer verzweifelten Menschenmasse befand, die über die Bahnsteige drängte. Wenn Flüchtlinge von der Polizei aus den Zügen gescheucht werden und um Hilfe bitten, ist es eine Gratwanderung die Kamera zu zücken und der Öffentlichkeit zu zeigen, was hier gerade vor sich geht oder einfach zu helfen und frierenden Menschen einen Becher Tee zu überreichen.

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Simon Van Hal hat sich genau diese Frage gestellt. Er begleitete die österreichischen Journalistin Nermin Ismail, als sie als Dolmetscherin in ganz Europa unterwegs war, um geflüchteten Menschen zu helfen. Nun übersetzt sie die Geschichten und Erfahrungen der Asylsuchenden, die in Europa auf ein neues Leben hoffen und veröffentlichte gemeinsam mit dem Fotografen das Buch Etappen einer Flucht.

Die Autorin—selbst Tochter ägyptischer Eltern—erzählt vom Schicksal Einzelner, die viel zu oft in anonymen Menschenmassen untergehen. Die Ausstellung zum Buch Etappen einer Flucht, bei der die Grenzaufenthalte von Flüchtlingen eine bedeutende Rolle spielen, ist von 10. bis 25. November in der Wiener Brunnenpassage zu sehen.

Simon Van Hal hat seine Eindrücke von der ungarischen Grenze nicht nur in Bildern festgehalten, sondern auch einen Text geschrieben, der nicht im Buch—aber dafür hier zu lesen ist; gemeinsam mit Fotos, die ihr ebenfalls in der Ausstellung nicht zu sehen bekommt.

Es regnet und es fällt mir schwer den gemütlichen Platz am Fenster gegen einen kalten Autositz einzutauschen. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Nermin hatte mir Tags zuvor von der schwierigen Lage an der ungarischen Grenze erzählt. Solch ein Szenario habe ich noch nie fotografiert. Ich überlege wie meine Herangehensweise sein könnte. Vielleicht fotografiere ich heute noch gar nicht, denke ich mir. Das piepen des Navigationsgerätes reißt mich aus meinen Gedanken. Ich habe Nickelsdorf als Zielort eingegeben, doch zur Grenze sind es noch gut 5 Kilometer.

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Kurz vor der Grenze stehen Unmengen von Taxis. Ich habe noch nie so viele Taxis auf einmal gesehen. Ich steige aus. Meine Füße versinken knöcheltief im Schlamm, als ich mich einem Taxi nähere. Der Fahrer lehnt an seinem Auto und raucht. Er erzählt, dass die letzten Tage sehr gut für ihn waren und dass er viele Fahrten gehabt hat. Auch nach Deutschland.

Doch heute lassen die Grenzbeamten niemanden mehr durch beklagt er sich. Ich frage nach, ob all diese Taxis ausschließlich wegen der Flüchtlinge da wären. Er nickt und meint, dass die Busse nur sporadisch fahren würden und viele Flüchtlinge, speziell jene mit Familien und Kindern, oft so schnell wie möglich weiter wollten.

Foto: Simon Van Hal

Ich versuche auf die ungarische Seite der Grenze zu kommen und parke mein Auto bei einer alten ungarischen Grenzstation. Ich überquere die Straße und gehe auf eine kleine Ansammlung von Zelten zu. Sofort wird mir sehr herzlich ein Tee angeboten. Mit dem dampfenden Getränk in den Händen frage ich nach, wo denn die ganzen Flüchtlinge seien.

Mein Gegenüber macht eine ausholende Bewegung und meint, die würden schon noch kommen. Währenddessen beginnen zwei Frauen Gemüse für eine Suppe zu schneiden. Jemand sammelt den Müll von der Straße. Irgendwie hat das Lager Ähnlichkeiten mit diesen Ständen die man von Marathonläufen kennt. Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm. "Wir wissen nie genau wann sie kommen", erklärt mir ein Schweizer, der schon seit 3 Wochen hier ist.

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Die Polizei gibt keine Informationen aus. Wenn ein Zug ankommt, müssen die Menschen zu Fuß zur österreichischen Grenze gehen und kommen hier durch. Vom Bahnhof bis zur Grenze sind es etwa 40 Minuten Gehzeit. Bis zu 2000 Menschen strömen dann auf einmal durch das Lager, bekommen Essen, Trinken und Kleidung. Staatliche Unterstützung gibt es hier keine. Alle Stände sind privat organisiert.

Foto: Simon Van Hal

Auf einmal beginnt es hektisch zu werden. Menschen schichten Essen auf die Tresen. Andere füllen Pappbecher mit Tee. Dann kommen die ersten an. Neben mir erklärt mir ein Volontär, dass wir nur kleine Portionen ausgeben sollen, denn die Schwachen würden immer erst ganz zum Schluss kommen. Langsam füllt sich das Lager. Männer mit Kindern auf den Schultern, Frauen die schwere Taschen schleppen und Jugendliche in Flip Flops. Kriegsversehrte. Geschrei, wo denn die Grenze sei. Dazwischen das Weinen von Kindern.

Ich bin mit der Situation ein wenig überfordert und denke nicht ans fotografieren. Stattdessen gebe ich Tee aus. Ein Mann kommt auf mich zu und fragt, "Is this Austria?". Ich verneine und deute Richtung Westen wo die Grenze ist. Nun ist das Lager so voll, dass die neu Ankommenden nicht mehr durchkommen.

Die Menschen verschwimmen vor meinen Augen und ich sehe nur noch greifende Hände. "Tea please". Beamte schreien in die Menge, sie sollen weitergehen. Nicht verweilen. Einige würgen noch schnell eine Suppe hinunter, werden aber dann eindringlich ermahnt weiterzugehen. So schnell wie der Aufruhr begann, so schnell ist er wieder vorüber. Übrig bleiben dutzende am Boden liegende Plastikteller und Becher.

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Foto: Simon Van Hal

"Nach dem Ansturm ist vor dem Ansturm", sagt ein junger Mann neben mir und greift sich zwei Kanister. Er erklärt mir, dass er zu einem Restaurant nahe der Autobahn fahren will um dort Wasser abzufüllen. Es gibt in diesem improvisierten Lager leider kein fließend Wasser und die kleine Bar gegenüber verweigert den Helfern das abfüllen. Er hatte die Bilder der Flüchtlinge in der Zeitung gesehen, daraufhin sein Auto mit Lebensmittel und Decken vollgepackt und sei hierher gefahren, erzählt er. Er schlafe im Auto, denn ein Hotel kann er sich nicht leisten. Schweigend füllen wir die Wasserkanister mit Wasser.

Ich bin berührt von so viel Hilfsbereitschaft. So viele Menschen die hier bedingungslos bis an die physischen und psychischen Grenzen arbeiten. Und der Lohn ist oft nur ein Lächeln oder ein Händedruck der Geflüchteten.

Ich beschließe zum Bahnhof zu fahren. Dort angekommen fällt mir sofort die große Polizeipräsenz auf. "Mit Schlagstöcken holen sie die Flüchtlinge aus den Wagons", wurde mir im Lager erzählt. Ich verberge meine Kamera und gehe Richtung Bahnsteig. Langsam nähert sich ein Zug. Kein Signal, keine Beleuchtung der Wagone—geisterhaft gleitet er in den Bahnhof. Durch die beschlagenen Scheiben erkennt man die Silhouetten von Menschen.

Foto: Simon Van Hal

Die Polizisten ziehen ihre Schlagstöcke, hämmern gegen die Wagone und schreien etwas wie "wake up". Die Menschen gehen zu den Ausgängen und rütteln an den verschlossenen Türen. Als sie aufgesperrt werden, strömen sie auf den Bahnsteig wie Wasser, das durch einen gebrochenen Damm schießt. Dazwischen die Polizisten, die die Ankommenden schreiend Richtung Straße treiben.

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Ich versuche unauffällig einige Fotos zu machen, denn die Polizei sieht es wohl nicht gerne, dass solche Szenen dokumentiert werden. Aufgebrachte Menschen kommen zu mir und fragen wo sie seien. Ich versuche ihnen zu erklären, dass sie noch in Ungarn sind, aber dass die österreichische Grenze nicht weit ist. Doch viele meiner Erklärungen gehen in dem Tumult unter.

Ich sehe einen älteren Mann mit zwei Kindern auf dem Arm und bitte ihn mir zu folgen. Als wir in mein Auto einsteigen und ich ihm zu erklären versuche, dass ich sie in Richtung Grenze bringen möchte, kommen immer mehr Menschen. Jeder will mitfahren, denn sie wissen nicht wie lange der Weg zu Fuß ist. Ich sage ihnen, dass es zirka eine halbe Stunde zu Fuß ist und sie nur den Polizisten folgen müssen. Trotzdem quetschen sich immer mehr Leute in mein Auto.

Als ich es endlich schaffe los zu fahren, sind wir zu neunt. Drei Kinder vorne, drei Erwachsene und drei Kinder auf der Rückbank. Ich bringe sie zum Lager und fahre dann zurück in Richtung Bahnhof, lade wieder Menschen ein und bringe sie in Richtung Grenze. Das Ganze wiederholt sich zehn Mal.

Foto: Simon Van Hal

Zurück im Lager mische ich mich unter die Menschen. Es fällt mir schwer den Auslöser zu drücken. Es fühlt sich irgendwie nicht richtig an, Menschen die so viel durchgemacht haben zu fotografieren. Ein Mann bemerkt meine Kamera, winkt und ruft "Photo, Photo". Er deutet auf ein kleines Bündel, das er gerade auf einen Mülleimer gelegt hat. Ich erkenne, dass es ein kleines Mädchen ist. Ich schaue zu ihm und er macht eine Geste, als würde er ein Foto machen.

Da wird mir klar, dass es wichtig ist die Szene zu dokumentieren, so traurig sie auch ist. Damit auch Andere das sehen, was ich gerade sehe. Dieses Ereignis machte es für mich persönlich ein bisschen legitimer, dieses Leid zu fotografieren. Und im Laufe dieses Buches habe ich oft an diese Situation zurückgedacht.

Das Klingeln meines Handys reißt mich aus den Gedanken. Es ist bereits zwei Uhr früh—das Lager hat sich schon wieder fast geleert. Nur ein paar Wenige versuchen noch in einem Zelt ihre Handys aufzuladen. Kurz darauf kommt ein Polizist und verscheucht auch sie Richtung Grenze. Die Aufräumarbeiten beginnen aufs Neue. Wir sammeln Becher auf und stopfen liegengelassene Kleidung in Müllsäcke.

Vom Schweizer Zelt schallt Bob Marley herüber. Einige der Helfer beginnen zu tanzen. Es ist eine eigentümlich, befreite Stimmung. Der Zusammenhalt unter den Helfern ist spürbar. Man hat viel in letzter Zeit zusammen gesehen und erlebt, hat sich gegenseitig getröstet und wieder aufgebaut. "Ohne uns würde es dieses Camp nicht geben", erzählt mir Anja, eine Studentin aus Budapest. Die ungarische Regierung übernimmt nur den Transport, nicht die Verpflegung der Flüchtlinge. Ein älterer Herr kommt vorbei und erzählt, dass um 4 Uhr der nächste Zug eintrifft.