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Interviews

Wir haben mit Renato Kaiser über sein Sozialhilfe-Video gesprochen

"Je mehr man sich selbst als sozial definiert, desto weniger überprüft man, wie sozial man wirklich ist."
Foto von Facebook/Renato Kaiser

Foto von Facebook/Renato Kaiser "Die Welt retten mit Pokémon Go" oder "Cristiano Ronaldo–dein Lächeln macht mir Angst"—alle zwei Wochen veröffentlicht der Spoken Word-Künstler und Autor Renato Kaiser auf Facebook zweiminütige Videos zu aktuellen oder weniger aktuellen Themen. Aufgenommen bei sich zu Hause und mit iMovie geschnitten. Vor ein paar Wochen tauchte plötzlich ein Foto von ihm auf, wie er grinsend in einem Tesla sitzt. Die Überschrift: "Poetry Slam—Chamer devo läbe?"

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Die Auflösung folgte letzten Freitag auf seinem Facebook-Profil: "Ein paar von Euch haben sich letzthin vielleicht gefragt, warum ich in so einem superschnieken Tesla-Auto sitze. Die Antwort ist: Wegen der Sozialhilfe!" Dazu ein zwanzigminütiges Video mit dem Titel: "Redemer drüber—Sozialehilfebezüger können nicht River-Raften".

Der Film dreht sich um die Stigmatisierung von Sozialhilfebezügern. Im Video, das inzwischen schon über 110.000 Mal aufgerufen wurde, trifft Renato Kaiser Sozialhilfeempfänger, geht aufs Sozialamt und erklärt, wie die Sozialhilfe in der Schweiz funktioniert. Wir haben mit ihm über das falsche Selbstverständnis von Sozis, sein Arbeitszimmer und Betten gesprochen.

VICE: Als ich dein neustes Video auf Facebook gesehen habe, war ich verwirrt. Warum macht Renato jetzt 20-minütige, professionelle Videos und nicht mehr Zweiminüter in seinem Schlafzimmer.
Renato: Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht verwirren! Aber bevor Du dich wund recherchierst, zwei Dinge. Erstens: Das ist nicht mein Schlafzimmer, sondern mein Arbeitszimmer. Ein Bett steht da nur, weil ich bei der Arbeit so gerne schlafe. Zweitens: Die Zweiminüter sind auch mega professionell! Ich benutze sogar iMovie! Und manchmal rufe ich "Cut!", bevor ich schneide!

Ich habe trotzdem ein bisschen recherchiert und festgestellt, es war ein Auftrag für die Bodenseetagung, eine Fachtagung der Hochschule für Soziale Arbeit in St.Gallen. Hast du bewusst nicht deklariert, was es mit dem Video auf sich hat?
Ja, das Video soll für sich selbst sprechen. Mir war nur wichtig, dass die Leute wissen, dass es um Sozialhilfe geht und dass ich es nicht alleine gemacht habe, sondern mit einem professionellen Filmteam um Luca Ribler und Fabian Kaiser von der Firma Drehtag. Und ja, dass es länger dauert als die üblichen Videos. Damit niemand nach den gewohnten zwei, drei Minuten in einem Konzentrationskrampf kollabiert.

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Warum bist du der richtige Protagonist für einen Film über Sozialhilfeempfänger?
Keine Ahnung. Ich wusste vorher ja auch nicht, ob ich die richtige Person dafür bin. Und anhand der Reaktionen kann ich jetzt auch nur sagen: Anscheinend war ich nicht die falsche. Und das ist schon mal gut. Was aber bestimmt hilft, ist Leidenschaft für die Arbeit und ehrliches Interesse am Thema.

Was ist deine Verbindung zu Sozialhilfe?
Tatsächlich habe ich keinen persönlichen Hintergrund und das ist eigentlich genau der springende Punkt. Man sollte sich mit dem Thema auseinandersetzen, auch wenn man keinen direkten Bezug dazu hat. Der Film ist ein Aufruf genau dazu, darum sagen wir: "Redemer drüber." Und bevor man darüber redet, sollte man sich gut informieren. Und das gilt für den, der jeder reisserischen Boulevard-Headline oder jedem polemischen Wahlplakat nachplappert, genauso wie für den selbsternannten Sozi. Je mehr man sich selbst als sozial definiert, desto weniger überprüft man, wie sozial man wirklich ist. Ich zum Beispiel dachte vor den Filmarbeiten auch, ich sei ganz OK informiert. Und jetzt nach dem Film denke ich: Ich hatte ja keine Ahnung.

Du hast auch Sozialhilfeempfänger persönlich getroffen. Wie hast du sie dazu gebracht, dass sie sich vor der Kamera zeigen?
Das habe nicht ich geschafft, sondern wiederum meine Freunde von Drehtag mit ihrer aufmerksamen, aufrichtigen und professionellen Art. Schwärme ich zu sehr von den beiden? Ist mir egal. Ich liebe sie! Aber die Frage ist berechtigt: Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern fällt es nicht leicht, über ihre Situation zu sprechen, auch im Privaten. Dass sie sich trotzdem dazu bereit erklärt haben, habe ich Luca und Fabian zu verdanken. Sie wiederum sagen, die Interviewpartner hätten meine Internetvideos gekannt und gemocht und das habe geholfen. Aber ich glaube, sie wollen mir damit nur schmeicheln.

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Was für ein Bild hattest du von Sozialhilfeempfänger vor und nach dem Dreh?
Ehrlich gesagt: gar keins. Vor dem Dreh nicht, weil Sozialhilfeempfänger in der Welt von uns Nicht-Sozialhilfeempfängern kaum vorkommen, was eben genau Teil des Problems ist. Und jetzt, wo ich mehr weiss und auch Sozialhilfeempfänger mit ihren individuellen Geschichten kennengelernt habe, weiss ich: Ein Bild reicht bei Weitem nicht.

Was macht mehr Spass, in deinem Schlafzimmer dein eigenes Filmchen zu drehen oder dir von Kameramann, Beleuchter und Regisseur sagen zu lassen, wie du mit dem Schirm genau im Regen stehen musst?
Beides! Einerseits sind meine eigenen Videos natürlich um einiges unkomplizierter, andererseits habe ich die Leute von Drehtag wirklich sehr liebgewonnen. Das heisst also: Am liebsten würde ich Kameramann, Beleuchter und Regisseur in mein Schlafzimmer stecken. Arbeitszimmer! Arbeitszimmer meinte ich. Verdammtes Autocorrect.

Hat es weh getan, den Tesla zurückgeben zu müssen?
Ich habe keine Gefühle für Autos. Aber er war sehr edel und sauber und es lief Schlager im Radio, also alles in allem sehr ungewohnt.

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Bild von Renato Kaiser | Facebook