FYI.

This story is over 5 years old.

DIE ÜBERLEBENS-KÜNSTLER-AUSGABE

Klang als heilende Kraft

New-Age-Musik: Ein Genre, das von unzähligen Musikfans verachtet und missverstanden wird. Dies ist eine Retrospektive der Musikrichtung, der wohl am meisten Hohn und Spott entgegengebracht wird.

Fotos von Elizabeth Renstrom

New-Age-Musik: Ein Genre, das von unzähligen Musikfans verachtet und missverstanden wird. Endlich ist seine Zeit gekommen. Douglas McGowans 2013 bei „Light in the Attic Records” erschienene Kompilation I Am The Center: Private Issue New Age Music In America,1950–1990 verortet das Genre auf brillante Art und Weise neu und schafft es somit, die Aufmerksamkeit vieler früherer Spötter auf sich zu ziehen. Vereinfach gesagt waren es der Lebensstil und die Inhalte, die man mit New Age verband, die wie eine Blockade wirkten, und weltlich orientierte und ernsthafte Zuhörer davon abhielt, sich mit ihr zu beschäftigen. Wenn es allerdings je eine Zeit für New Age gab, dann jetzt.

Anzeige

Erst nachdem ich jedes andere interessante Gerne ausgiebig abgegrast hatte, beschäftigte ich mich das erste Mal mit New Age. Mitte der Neunziger Jahre handelte ich mit seltenen Platten, das war, lange bevor das Internet jedes noch so obskure aber substanzielle Stück jedes noch so coolen Genres zu einem verfügbaren, digitalisierten Sammlerstück gemacht hat. Mein Partner Tony und ich lernten noch, Wert und Qualität durch Erfahrung und eigenes Urteilsvermögen aufzuspüren, anstatt durch soziale Netzwerke und Blogs im Internet. Irgendwann schlidderten wir in eine Geschäftsbeziehung mit einem einflussreichen japanischen Plattenhändler, der uns über die Jahre mit Tausenden von kaum bekannten aber beispielhaften Titeln in Berührung brachte. Vor dem Internet gab es nämlich noch keine Abkürzung, um an das Wissen zu kommen, das man brauchte, um eine 4-Dollar- von einer 40-Dollar-Platte zu unterscheiden.

Für Schallplattensammler und -händler war das eine sehr interessante und aufregende Zeit. Der Einzelhandel war bereits fest in der Hand der CD, und Vinyl, der Bodensatz des Marktes, wurde mit erstaunlicher Geschwindigkeit abgestoßen. Viele Schallplatten wurden für einen Dollar oder weniger verkauft, egal ob sie selten waren oder nicht. Noch erstaunlicher war, wie der Markt mit phonografischen Aufnahmen aller Art überschwemmt wurde. Einmal im Monat stellte das Pasadena City College das gesamte östliche Parkplatzgelände des Campus für eine Schallplattenbörse zur Verfügung. Japanische Einkäufer, dem Klischee entsprechend, suchten unermüdlich in den frühen Morgenstunden mit Taschenlampen den Parkplatz ab. Ihrem Weitblick verdankten sie Tausende seltener—und heute teurer—Schnäppchen.

Anzeige

In den späten Neunzigern war die Nachfrage nach dem Motown Label Album ABC von The Jackson Five in Japan so groß, dass ich Hunderte von Platten an meinen Einkäufer weiterverkaufen konnte. Egal, wie schlecht der Zustand der Platten war, das Album verkaufte sich konstant für 15 Dollar. Also fragte ich ihn eines Tages, was denn an dieser Platte so besonders sei. Immerhin gab es sie in fast jedem Musikladen in den USA. Er erklärte mir, dass dieses spezielle Album im Stadtteil Shibuya in Tokio ein begehrtes Modeaccessoire sei. Die jungen Leute würden dort mit der LP unterm Arm flanieren gehen—daher spielte der Zustand der Schallplatte für den Verkaufspreis keine Rolle. Das veränderte meine Sicht auf den Markt und das Produkt, das wir verkauften, völlig. Wie sollte man unter diesen Umständen einer Schallplatte noch einen festen Wert zuordnen können? Die Bewertung fand global statt, und die Information darüber, was wertvoll war, wurde zum Privileg. Was von außen cool aussah, klang oft fürchterlich; was fürchterlich aussah, klang oft cool; was cool klang, hatte oft keinen Wert; und was fürchterlich klang, konnte aus unerfindlichen Gründen ein Vermögen wert sein. Nachfrage und Trends fluktuierten ständig. Daher mussten erfolgreiche Händler für alles offen sein. Selbst lange ausrangierte Genres wie christliche oder New-Age-Musik kamen in Frage, wenn man neue Entdeckungen machen wollte.

Es war also klar, dass ich durchs Land reisen musste, um nach vermarktbaren Schallplatten zu suchen. Dabei stieß ich immer häufiger auf seltene New-Age-Alben, darunter viele Privatpressungen von Einzelpersonen. Die meisten waren eher ungewöhnlich, einige überaus selten, aber nicht unbedingt teuer. New Age hatte seine Blüte in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern, einer Zeit, in der man im eigenen Heim Schallplatten in vernünftiger Qualität aufnehmen konnte. Viele der besten New-Age-Platten dieser Zeit sind so entstanden. Man verband einfach ein Keyboard mit einem 4-Spur-Rekorder oder nahm akustische Musikinstrumente mit dem Mikrofon auf. Vor dem Internet wurde diese Art Alben über ein engagiertes Netzwerk von kleinen, unabhängigen Buchhandlungen und Musikläden vertrieben.

Anzeige

Ähnlich wie Brian Eno es in Bezug auf seine eigenen Ambient-Alben Ende der Siebziger Jahre beschreibt, wurden die meisten dieser in Eigenregie veröffentlichten New-Age-Sammlungen nicht nur zum reinen Hörvergnügen aufgenommen, sondern für spezielle Zwecke wie Meditation, Entspannung, Affirmation, Massage oder Selbsthilfe. Dadurch entstand ein Musikgenre, das nicht nur anders konsumiert, sondern auch ganz anders vermarktet wurde als die konventionellen Genres Jazz, Rock oder Soul. Die besten unter ihnen öffnen eine Tür zu einer anderen Welt. Zu den begabtesten und kreativsten Künstlern dieser Zeit gehören unter anderem Joel Andrews, Joanna Brouk, Wilburn Burchette, David Casper, J. D. Emmanuel, Iasos, Larkin, Laraaji, Ojas, and Michael Stearns.

Was unter dem Sammelbegriff „New Age“ bekannt und vermarktet wurde, ist in vielerlei Hinsicht ein Nebenprodukt der sogenannten Baby-Boomer. Hier konzentrierten sich die Überbleibsel der Hippie-Ideale, die den Dunstschleier der Sechziger überlebt hatten. Ein Sammelsurium meist übernommener kultureller Maßstäbe, die zusammengenommen irgendwie ein neues Ganzes formten. Nachdem die Katerstimmung, die dem Vietnamkrieg, den sozialen Unruhen und dem Drogenrausch folgte, abgeklungen war, wollten viele dieser Männer und Frauen ihr Leben wieder in den Griff bekommen und suchten nach Antworten: bei den Human Potential Movements, in der Religion, in Kulten, Entzugsprogrammen, Selbsthilfegruppen und alternativen Lebensstilen.

Musik galt wie die meisten kreativen Unterfangen vor allem als Mittel zur Selbsterkenntnis, Meditation und Genesung. New-Age-Musiker waren auf der Suche nach Beziehungen, die über das Materielle hinausgingen. Neue Ideen von kosmisch angetriebener Kreativität nahmen langsam Gestalt an, schöpften ihre Inspiration aber nicht aus bekannten Genres wie Spiritual Free Jazz, Psychedelic Rock oder sozial und politisch engagiertem Folk. Hier waren andere Klänge gefragt—von Synth-Pattern-Oscillation und elektronischem Krautrock über Ambient-Musik und elektronischen Drums bis hin zu östlichen Kompositionen, Summtönen, Außenaufnahmen und einer großen Vielfalt indigener Musik, außerdem Klangkulissen für Meditationen oder musikalische Begleitung für Spoken Word Performances etc.

Einige der besten Beispiele dieses schwer fassbaren Genres stammen aus der Arica School, einer Bildungseinrichtung des Human Potential Movements, das in den siebziger Jahren seine Blütezeit hatte. Sie produzierten drei Schallplatten, von denen Audition das bemerkenswerteste Album ist. Geleitet wurde diese Gruppe von dem chilenischen Guru Oscar Ichazo, dessen Lehren auf den Werken des im frühen 20. Jahrhundert tätigen Spiritualisten und Denkers George Gurdjieff beruhten. Die Arica School vollbrachte unglaubliche Dinge im Bereich der Kunst, der Musik, des Tanzes, der Psychologie und der Calisthenics, immer mit dem Ziel, das volle Potential des Menschen zu entfalten. Ich erinnere mich an ein Foto aus dieser Zeit, auf dem Teilnehmer der Arica School vor Bildschirmen sitzen und Enneagramme betrachteten—große geometrische Symbole—während sie über Kopfhörer Musik hören. Viele der Teilnehmer waren ausgebildete Musiker, und spielten Jazz, Soul oder Rock. Diese Sessions an der Arica School brachten sehr ausgedehnte Musikstücke hervor, die mit gesprochenen Texten kombiniert wurden und dazu dienten, durch dazugehörige Übungen und Meditationen zu führen.

New-Age-Musik war im Wesentlichen auf die Spitze getriebene Lifestyle-Musik. Zu diesem Schluss kam Mitte der Siebziger Jahre auch Steven Halpern, der im Grunde der Vater der New-Age-Musik ist. Halpern war Arzt und Wegbereiter der Idee, dass man Musik mit heilender Wirkung machen kann. Seine eigene minimalistische Musik diente vor allem der Entspannung und Chakra-Ausrichtung. Er war von seiner Sache so überzeugt, dass er sogar für eine Ablehnung der spannungsgeladenen Musik von Komponisten wie Strawinsky eintrat, weil deren Musik die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts widerspiegele. Seine Bücher Tuning the Human Instrument: Klang als heilende Kraft und Gesundheit durch Musik beschreiben die Grundlagen seiner Musikphilosophie. Seine Arbeit hat meine Auffassung davon, was Musik sein kann, vollkommen verändert. Er widmete sein Leben einer Form von Musik, die buchstäblich heilsam war, indem er musikalisches Balsam für Patienten in Krankenhäusern und Kliniken komponierte. Musik mit praktischer statt stilistischer Anwendung. Ein Modell, nach dem auch indigene oder zeremonielle Musik funktioniert—ursprüngliche, zweckorientierte Formen von Musik, die wohl die Grundlage dafür legten, warum wir organisierten Lärm heute genießen.