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Folter, Suizidversuche und Micky Maus—eine Jugend in Guantanamo Bay

Wie vermeintlich schuldige Kinder gefoltert wurden. Einige von ihnen versuchen in Freiheit zu leben, andere warten immer noch darauf.

Mohammed el Gharani ist ein Staatsbürger von Tschad und wuchs in Saudi-Arabien auf. Er hatte gerade seinen 15. Geburtstag gefeiert, als er im Februar 2002 eingepfercht in einem Militär-Frachtflugzeug in Guantanamo Bay ankam. Dabei musste er Fußfesseln und eine blickdichte Brille tragen. Er wog 57 Kilogramm, war noch zu jung zum Rasieren und wusste monatelang nicht, wo er sich befand. „Einige Brüder redeten von Europa", erinnerte er sich später in einem Interview mit dem London Review of Books. Andere dachten, dass die unerbittliche Wintersonne ein Hinweis auf Brasilien war. Als ihm ein Vernehmungsbeamter schließlich verriet, dass sich Mohammed in Kuba befinde, konnte dieser mit dem Namen nichts anfangen. „Eine Insel mitten im Ozean", sagte der Beamte. „Eine Flucht ist unmöglich und du wirst für immer hierbleiben."

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Der in Toronto geborene Omar Khadr wurde ebenfalls als Jugendlicher in das Gefangenenlager vor der Küste gebracht. Dem dortigen Kriegsgeistlichen fiel der 16-Jährige schon früh auf. Als er an Omars Zelle vorbeiging, bemerkte er, wie der Junge beim Schlafen ein Disney-Heft mit Comics von Donald Duck, Goofy und Micky Maus fest umklammert hielt. „Er passte hier definitiv nicht rein", erzählte der Geistliche der Journalistin Michelle Shephard, die in ihrem Buch Guantánamo's Child über Omar schrieb.

Fahd Ghazy wuchs in einem jemenitischen Bauerndorf auf und wurde mit 17 festgenommen. Kurz davor hatte er die Schule als Klassenbester abgeschlossen. Als einer von Guantanamo Bays ersten Häftlingen war er zuerst im notdürftig zusammengebauten, nach oben offenen Camp X-Ray untergebracht. Als Fahd in einen dauerhaften Zellenblock verlegt wurde, erfuhr er auch, dass er ein Stipendium für ein Studium in Jemens Hauptstadt Sanaa erhalten hatte. Fast 13 Jahre später befindet sich Fahd immer noch auf dem Navy-Stützpunkt und wartet nach wie vor auf eine Anklage.

Mohammed, Omar und Fahd wurden als Jugendliche aufgegriffen und gehörten deshalb zu den 15 bis 20 Häftlingen, deren Jugend und frühes Erwachsenendasein sich innerhalb der trostlosen Mauern des Gefangenenlagers abspielte. Dabei wurden sie geprägt von Isolation, Misshandlungen und dem chronischen Stress der unbefristeten Haft. Jahrelang lieferte das Pentagon falsche Angaben darüber, wie viele Kinder inhaftiert wurden. „Sie haben ja keine Geburtsurkunden dabei", sagte 2005 ein Militärsprecher der New York Times.

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„Sie entwickeln sich noch und neigen deshalb eher dazu, traumatisiert zu werden", erklärt Dr. Stephen Xenakis, ein Brigadegeneral und Kinderpsychiater im Ruhestand. In mehreren Fällen fungierte er in Guantanamo Bay als medizinischer Berater. „Sie werden aus ihren Familien gerissen, sie erhalten keine Schulbildung und sie befinden sich dort in diesem konfliktreichen Umfeld nur unter Erwachsenen."

Internationale rechtliche Vorgaben zu Jugendlichen sehen Kindersoldaten immer zuerst als Opfer an, die Unterstützung und Rehabilitation benötigen.

Omar war der erste Gefangene, mit dem sich Xenakis befasste. Er wurde als besonders wichtig und gefährlich eingestuft, weil sein Vater mit Osama bin Laden in Kontakt stand. Omar wurde vorgeworfen, während eines Feuergefechts in Afghanistan eine Handgranate geworfen zu haben, die einen amerikanischen Sanitäter tötete. Schwer verletzt wurde der Junge unter einem Haufen Schutt gefunden: Er wurde von zwei Kugeln in den Rücken getroffen und seine Augen waren durch Granatsplitter verletzt worden. Internationale rechtliche Vorgaben zu Jugendlichen sehen Kindersoldaten immer zuerst als Opfer an, die Unterstützung und Rehabilitation benötigen. Omar wurde jedoch quasi sofort auf dem Luftweg nach Bagram gebracht, um verhört zu werden. Mittel gegen die Schmerzen seiner Verletzungen wurden ihm dabei nicht verabreicht.

Jahre später sagte Omar in einem Vernehmungszimmer, das auch das Büro für die Ärzte-Patienten-Gespräche war, Folgendes zu Xenakis: „Ich werde dir erzählen, was hier in diesem Zimmer passiert ist." Dann beschrieb er, wie er als „menschlicher Mopp" eingesetzt wurde: Nachdem Omar nach schmerzhaften und stressigen Verhörmethoden auf den Boden pinkeln musste, übergoss die Militärpolizei seinen Körper mit Kiefernöl und schleifte ihn durch den Urin. „Das waren Kinder", sagt Xenakis. „Sie werden bedroht und mit härtesten Methoden verhört. Das bereitet ihnen Todesangst. Für mich ist das nie mit den Werten unseres Landes vereinbar gewesen."

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Dennis Edney, Omars langjähriger Anwalt, erinnert sich daran, wie er ihn bei ihrem ersten Treffen 2004 vorgefunden hat. „Ich betrat eine dieser kalten, fensterlosen Zellen", erzählt Edney, „und sah einen am Boden festgeketteten Jungen, der versuchte, sich warm zu halten. Er war auf einem Auge blind und konnte seinen rechter Arm nicht mehr bewegen. Er erinnerte mich an einen kleinen, verletzten Vogel. Ich weiß noch genau, wie geschockt im beim Anblick dieses einsamen und unterwürfigen Kindes war."

Bedingt durch das verfahrensrechtliche Wirrwarr und sich ständig verändernde Vorgaben, zog sich Omars Militärkommissionsfall über Jahre hin. Hätte man ihn wie geplant 2010 vor Gericht gebracht, dann wäre er der erste Kindersoldat seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen, der für ein Kriegsverbrechen angeklagt wird—laut Human Rights Watch ein „schrecklicher Präzedenzfall." Stattdessen erklärte ein Militärrichter die unter Folter gemachten Aussagen als zulässig und Omar bekannte sich daraufhin in allen Anklagepunkten schuldig. Er wollte sich nicht noch weiter in ein System verstricken, das er vor Gericht folgendermaßen beschrieb: „Es ist nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit zu finden, sondern darauf, Gefangene zu verurteilen."

Omar ist inzwischen 28, sitzt seine Haftstrafe von acht Jahren in Kanada ab und steht immer noch in engem Kontakt zu Xenakis, der ihn weiterhin unterstützt. „Wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er es wirklich nicht leicht haben", sagt Xenakis. „Er muss sich die Fähigkeiten wieder aneignen, außerhalb des Umfelds einer Haftanstalt zu kommunizieren und unter Leute zu kommen. Aber wie? Wie wird er sich in einer Umgebung verhalten, in der er eigene Entscheidungen treffen kann? Er ist sehr pflichtbewusst und fleißig, aber er muss auch vieles wieder aufholen."

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Laut Polly Rossdale, der Leiterin des „Life After Guantánamo"-Projekts der Menschenrechtsgruppe Reprieve, stellen die gewöhnlichsten Aufgaben und Wünsche die ehemaligen Häftlinge vor eine schier unüberwindbare Herausforderung. „Wenn sie entlassen werden", sagt sie, „dann rufen sie mich an und fragen mich meistens, wie sie am besten eine Frau für sich finden. Andere wollen mit einem Computer arbeiten können und deswegen einen Kurs machen. Manche von ihnen bekommen beim Kauf von Shampoo eine Panikattacke. Wieder andere haben vergessen, wie man sich im Auto anschnallt."

Nach sieben Jahren im Gefangenenlager wurde Mohammed mit 23 nach Tschad verlegt. Auch wenn er durch seine Eltern dort Staatsbürger war, hatte er noch nie zuvor einen Fuß in das Land gesetzt. Seine entfernten Verwandten lebten in Saudi-Arabien und er sprach kein Wort Französisch oder beherrschte den örtlichen arabischen Dialekt. „Man kann sich sicher vorstellen, wie schwer es ist, in einem der weltweit ärmsten Länder anzukommen", sagt Rossdale. Sie hat immer noch regelmäßig Kontakt zu Mohammed. Da ihm von den tschadischen Behörden kein Pass ausgestellt wurde, musste er ganz alleine von Neuem beginnen.

2009 erfolgte seine Entlassung. Ein Richter kam zum Schluss, dass die Anschuldigungen der Regierung (angeblich war er an der Schlacht von Tora Bora beteiligt und gehörte als 11-Jähriger zu einer von London aus operierenden al-Qaida-Zelle) auf unglaubwürdigen Aussagen von anderen Gefangenen basierten. Mohammed ist eigentlich nur nach Karatschi gegangen, um Englisch- und Computerkurse zu belegen. Durch den in Saudi-Arabien vorherrschenden Rassismus war ihm das dort nicht möglich. Die pakistanische Polizei durchsuchte eine Moschee, die Mohammed 2001 besuchte, und verkaufte ihn dann für eine Prämie an das US-Militär. Am Anfang machte sich der Junge noch keine Sorgen. „Ich war irgendwie glücklich", gestand er in einem von Jérôme Tubiana durchgeführten LRB-Interview von 2011. „Ich habe mir immer gerne alte Western angeschaut und dachte, dass die Amerikaner gute Menschen sind … Vielleicht würden sie mich in den USA studieren lassen."

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Das Zerstören der Persönlichkeit eines Menschen hatte schreckliche Folgen und brachte ein Gefühl der Machtlosigkeit und Verwirrung mit sich. Das Selbstgefühl ging verloren. Und natürlich, wenn das einem Kind zustößt, dann ist der Effekt um ein Hundertfaches schlimmer.

In Guantanamo Bay wurde Mohammed allerdings von den Wachen rassistisch beleidigt. Man hängte ihn an seinen Handgelenken auf, verwehrte ihm den Schlaf und setzte ihn lauter Musik und hellen, bunten Stroboskop-Licht aus. So wurde seine Sehfähigkeit dauerhaft eingeschränkt. „Meiner Meinung nach war die psychologische Folter besonders hinterlistig und schädigend", sagt Rossdale und bezieht sich damit auf den Einsatz von medizinischem Fachpersonal, um die Schwächen der Häftlinge herauszufinden und auszunutzen. „Das Zerstören der Persönlichkeit eines Menschen hatte schreckliche Folgen und brachte ein Gefühl der Machtlosigkeit und Verwirrung mit sich. Das Selbstgefühl ging verloren. Und natürlich, wenn das einem Kind zustößt, dann ist der Effekt um ein Hundertfaches schlimmer." Mohammed hat nicht nur einmal versucht, sich umzubringen—er schnitt sich die Pulsadern an einem metallenen Türrahmen auf und knotete seine Kleidung zu einer Schlinge für seinen Hals zusammen.

Seit seiner Freilassung hat sich Mohammed aber auch an die kleinen Aspekte seines Überlebenskampfes erinnert: er lernte Englisch, indem er mit Seife Wörter an die Wände schrieb, er holte sich einen Funken Kontrolle zurück, indem er die Wachen mit ihren richtigen Namen ärgerte (eigentlich sollten die den Häftlingen nicht bekannt sein), und es bereitete ihm Vergnügen, wenn er kurze Blicke auf die draußen vorbeifahrenden Autos oder den Himmel erhaschen konnte. „Es ist auch wichtig, dass man versteht, wie sich die Gefangenen gegenseitig unterstützen", sagt Rossdale. Mohammed ist inzwischen verheiratet und sein zweites Kind wurde Anfang des Jahres geboren. Es trägt den Namen Shaker, inspiriert von Shaker Aamer—ein immer noch in Guantanamo Bay sitzender Mentor und Freund Mohammeds. „Shaker war einer der Männer, die sich aufgrund des jungen Alters von Mohammed sehr gut um ihn gekümmert haben", erklärt Rossdale. „Das ist seine Art, sich zu bedanken."

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Von den 779 Gefangenen von Guantanamo Bay wurden ungefähr 600 letztendlich ohne Anklage wieder freigelassen. Trotzdem verfolgt sie ihre Vergangenheit weiter, wenn die ehemaligen Häftlinge nach Arbeit suchen oder von ihrer Gemeinde akzeptiert werden wollen. „Es gibt Leute, die sie als ‚Terroristen im Ruhestand' bezeichnen, als ob sie irgendwie eine Rente von al-Qaida beziehen würden", erzählt Rossdale. „So etwas kommt von der Regierung, von den Mitmenschen und von der muslimischen Gemeinde. Sie haben Angst, dass man sie sonst zum gleichen Schlag zählen würde." Ohne eine Anklage und dementsprechend auch ohne Gerichtsverhandlung werden die meisten ehemaligen Häftlinge zwar behördlich freigesprochen, jedoch nicht für unschuldig befunden.

Fahd gehört zu Guantanamo Bays unglücklichsten Fällen: Obwohl seine Freilassung schon 2007 von der Bush-Regierung und 2009 von der Obama-Regierung genehmigt wurde, ist seine rechtliche Situation aus unbekannten Gründen immer noch nicht geklärt. Er ist einer der letzten ehemaligen Jugendlichen, die immer noch im Gefangenenlager sitzen, und wurde im Mai 30. „Mir wurde gesagt, dass sie mich so hungrig und krank wie noch nie zuvor machen könnten", erzählte Fahd seinem Anwalt Omar Farah und bezog sich damit auf eine Befragung aus dem Jahr 2003. Er weiß gar nicht mehr, wie oft er seitdem schon im Vernehmungszimmer gesessen hat.

Als Teenager war Fahd im Jemen verheiratet und nur zwei Monate vor seiner Verhaftung wurde seine Tochter Hafsa geboren. Im August 2001 hatte er die letzten Schulprüfungen abgelegt und war nach Afghanistan gereist, bevor er in Pakistan aufgegriffen wurde—er floh vor den US-Bombenangriffen, die nach dem 11. September folgten. Die Vorwürfe, er sei ein Mitglied von bin Ladens Sicherheitsmännern gewesen, wurden letztendlich als unbegründet deklariert. Das geht aus Regierungsdokumenten hervor, die von Wikileaks veröffentlicht wurden.

Farah beschreibt Fahd als „intelligenten Familienmenschen", der immer noch von Schuldgefühlen zerfressen wird, weil er sein Stipendium verloren hat. „Seine Familie musste große Opfer bringen, um ihm eine solche Bildung zu ermöglichen", erzählt Farah, der Fahds Dorf letztes Jahr einen Besuch abgestattet hat. „Ihr Ziel war es, Fahd ganz weit nach vorne zu bringen, damit er einen Job findet, der den anderen dann ebenfalls ein besseres Leben ermöglichen würde."

Als Fahd 2007 zum ersten Mal über seine genehmigte und nur noch von „passenden diplomatischen Abkommen" abhängige Überführung informiert wurde, war er so fest von seiner bevorstehenden Entlassung überzeugt, dass er damit anfing, sich wegen seiner fehlenden erzieherischen Fähigkeiten Sorgen zu machen. „Man kann sich bestimmt vorstellen, wie glücklich ihn die Vorstellung gemacht hat, bald wieder mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter vereint zu sein", sagt Farah. „Er unterhielt sich mit älteren Gefangenen, um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie man an das Großziehen eines Kindes herangehen sollte. Dann wurden seine Hoffnungen wieder zerstört. Man kann sich gar nicht ausmalen, was für eine emotionale Achterbahnfahrt so etwas sein muss." Nachdem 2009 eine weitere Genehmigung wieder keine Veränderung brachte, „wurde jeder Tag zur Qual und man erkennt langsam, dass alles eigentlich nur ein grausamer Scherz ist", erklärt Farah.

86 der verbleibenden 149 Gefangenen von Guantanamo Bay kommen aus dem Jemen. 58 davon wurde die Überführung genehmigt. Die Uhr tickt—nicht, weil sie immer noch eine Bedrohung darstellen, sondern weil die „passenden diplomatischen Abkommen" mit dem Land nach wie vor nur schwer zu erreichen sind. Letztes Jahr nahm Fahd am kollektiven Hungerstreik teil, der wegen dem respektlosen Umgang der Wachen mit den Koran-Büchern der Häftlinge durchgeführt wurde. „Wir wollen von der Regierung, dass sie die freigegebenen Männer einfach in Ruhe lassen", erzählte er seinem Anwalt. „Macht uns das Leben nicht zur Hölle. Wir wollen hier einfach in Frieden leben, bis wir endlich aus diesem Loch freikommen."

2010 ermöglichte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes regelmäßige Videoanrufe nach Jemen. Dadurch bekam Fahd die Chance, zum ersten Mal seit acht Jahren von Angesicht zu Angesicht mit seinen Verwandten zu sprechen. „Es bleibt dir nur sehr wenig Zeit", erklärt Farah. „So ist das Ganze eine doch eher bittersüße Erfahrung. Man bekommt ganz kurz bekannte Gesichter zu sehen und dann ist schon der Nächste an der Reihe." Fahd denkt oft darüber nach, wie das richtige Wiedersehen mit seiner Familie aussehen würde. „Ich stelle mir vor, wie mich meine Mutter umarmt", erzählt er Farah. „Sie weint. Ich weine. Wird unsere Begrüßung jemals enden? Zu wem sollte ich zuerst gehen? Eigentlich ja schon zu meiner Mutter, aber meine Tochter Hafsa hat bestimmt auch gewisse Ansprüche. Wird sie sich also dazwischen drängen, wenn ich meine Mutter in die Arme schließe? Wann ist es endlich soweit? Meine Familie wird mich vor Freude erdrücken."