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Eine skurille Reise nach Tschernobyl

Wenn Fanaten Katastrophenurlaub machen.

Der Autor in Schutzkleidung

Als ich zum wiederholten Male mit dem Kopf gegen die Decke unseres heruntergekommenen Marschroutkas (Ein in Osteuropa gängiges Transportmittel) schlage würdigen mich die Personen auf den Sitzen vor mir keines Blickes. Sie sind zu sehr mit ihren Soft Guns, Militäranzügen und Gasmasken beschäftigt. Ein Tourist mit leichtem Schuhwerk, Shorts und einem Hemd nuckelt genüsslich an seinem Flachmann, während sich der Bus in schleichendem Tempo unserem Reiseziel nähert. Mit meiner Schiunterwäsche, dem großen Schlapphut und der gelben Brille bin ich nur einer von vielen skurrilen Typen die sich einen Tag lang dem Katastrophentourismus verschrieben haben.

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Nach vielen Stunden der Vorbereitung, in dem nicht gerade nutzerfreundlichen ukrainischen Horror Shooter S.T.A.L.K.E.R, sind meine Erwartungen an diesen Ausflug ziemlich groß. In dieser virtuellen Welt wird die Zone, in die wir nun einfahren, als von Monstern und Mutanten bewohnter Ort, in welchem sich der Spieler als Abenteurer und Krieger behaupten muss, dargestellt. Tschernobyl ist ein durch Konsumkultur und Erzählungen mystifiziertes Stück Erdoberfläche, das die Menschen in seinen Bann zu ziehen vermag.

Es waren viele Telefonate, Mails und Drohschreiben mit der freundlichen, aber nicht gerade fleißigen oder bemühten Sekretärin des Veranstaltungsbüros in Kiew nötig, um endlich hier anzukommen.

Alle diese Mühen sind aber nun vergessen, denn der halb auseinanderfallende Bus bewegt sich unaufhaltsam bei Sonnenschein und 40° Außentemperatur durch die Landschaft aus Sonnenblumenfeldern und dichten Wäldern in Richtung der sogenannten Zone.

Wir halten an einem heruntergekommenen Grenzposten des Ukrainischen Militärs. Auf einer großen Tafel wird auf die nukleare Verseuchung hingewiesen. Ein Grenzbeamter steigt zu uns in den Bus und ein Vertrag wird durch den Bus gereicht. Es herrscht Rauchverbot, Alkoholverbot, Waffenverbot und der Körper muss so weit als möglich verdeckt sein. Den Anweisungen des Tourleiters ist unbedingt Folge zu leisten und die gesäuberten Wege dürfen nicht verlassen werden. Kommentarlos wird das Dokument durch den Bus gereicht, dann unterschreiben wir auf einer Sammelliste. Die Unterschriften sind seltsam, mal kyrillische Druckschrift mal Schreibschrift, auch mir nicht näher verständliche asiatische Schriftzeichen sind zu finden. Einer der Jugendlichen im Bus schreibt demonstrativ Stalker in das Unterschriftenfeld. Die Liste macht ihre Runde, der Grenzbeamte nimmt sie an sich und verlässt den Bus. Inzwischen ist unser neuer Führer eingetroffen, er sieht aus wie Gigi D'agostino und beginnt mit den vorderen Reihen Smalltalk zu führen.

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Minuten später werden wir aufgefordert den Bus zu verlassen. Wir passieren die Kontrolle zu Fuß, den Pass immer griffbereit. Die pseudobewaffneten Jugendlichen haben ihre Ausrüstung in den Fächern des Busses versteckt, doch ihre Stiefel und Militäranzüge werden noch immer demonstrativ getragen. Mit meinem gebrochenen Russisch erkundige ich mich nach ihrer Herkunft. Ukraine, Kasachstan, Russland, sie alle kommen aus russischsprachigen ehemaligen Mitgliedsstaaten der Sowjetunion.

Ob sie S.T.A.L.K.E.R kennen? Betretenes Schweigen. Kann schon sein dass es da so ein Spiel gibt. Der Kasache zeigt ein verschmitztes Lächeln als der Ukraine mir erklärt dass er nicht S.T.A.L.K.E.R spiele, er SEI ein S.T.A.L.K.E.R. Inzwischen hat nun auch der Bus den Schranken passiert und Gigi D’agostino treibt alle seine Gäste in das Gefährt zurück.

Die erste Station ist die Stadt Tschernobyl. Eine freundliche wenn auch etwas einsame Stadt. Auf den leeren Straßen bewegen sich immer wieder Arbeitergruppen in Militärkleidung. Alte Frauen fegen die Eingänge zu ihren renovierten Plattenbauten und übergewichtige Männer kaufen Bier im lokalen Geschäft ein. Doch der Schein trügt, denn in dieser Stadt gibt es keine Kinder oder schwangere Frauen. Die alten Menschen kehren zurück um ihren Lebensabend hier zu verbringen, die Arbeiter machen eine 15-tägige Schicht und werden dann wieder aus der Stadt gekarrt.

Gigi macht seine Arbeit offensichtlich Spaß. Er macht Witze und Kommentare, dann zeigt er lässig auf eine Anlage mit tausenden von Grabeskreuzen. Als ich ihn frage, ob er mit uns auch auf Englisch oder Deutsch sprechen kann, verspricht er mir alles zu übersetzen. Seine zwanzigminütigen Rede zu den russischsprachigen Gästen fasst er uns dann tatsächlich höflich in wenigen Sätzen zusammen. Die Gräber symbolisieren die Menschen welche die Stadt verlassen mussten, seinem Wissen nach ist mit Ausnahme der Feuerwehrmänner niemand gestorben.

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Inzwischen hat er sich eine Zigarette angezündet und spricht wieder lässig gestikulierend zum Publikum. Drei Kasernen befinden sich innerhalb der Zone. Unablässig passieren Militärstreifen unseren Kleinbus. Sie bewachen nicht die Zone, sondern sie wachen über ihre Gäste. „Sobald die Patrouille regelwidriges Verhalten entdeckt wird eingegriffen“, erklärt uns Gigi.

Die nächste Station ist eine riesige Betonstatue die Feuerwehrmänner und Arbeiter darstellt, die sogenannten Liquidatoren. Gigi erzählt lang und breit über die Statue und ignoriert uns. Glücklicherweise habe ich bereits davon gehört. Dieses Monstermonument aus Beton wurde zu ehren der Helden von Tschernobyl errichtet. Diese Helden waren die Feuerwehrmänner welche nichtsahnend ihre Löscharbeiten am Reaktor verrichteten, sowie hunderte Bergmänner. Diese hatten die irrwitzige Aufgabe innerhalb kürzester Zeit den Reaktor zu untertunneln und ein Betonfundament zu errichten. Der Reaktor selbst fraß sich nämlich langsam aber sicher vor Hitze glühend in Richtung eines Süßwasserdepots. Ohne die Arbeit dieser Menschen wäre der geschmolzene Reaktor durch das verdampfende Wasser erneut explodiert, mit ungeahnten Folgen. Das Süßwasserdepot speist übrigens noch immer Teile der  Wasserversorgung Kievs. Was die Helden betrifft: Je nachdem wer die Statistik geschrieben hat sind alle gestorben, leben noch glücklich oder sind nur teilweise erkrankt.

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Zurück im Bus; wir haben seit Stunden nichts mehr getrunken. Gigi erklärt uns das ab jetzt absolutes Rauchverbot herrsche. Der leicht bekleidete Tourist mit seinem Flachmann erkundigt sich ob man aber schon noch Alkohol trinken dürfe? Gigi nickt schweigend. Gespannt verlassen wir die Stadt. Vor uns beginnen sich meine neuen Freunde mit ihren Masken und Utensilien auszurüsten. Erneut halten wir. Der Kindergarten, ein wichtiger Ort, denn kein Bericht und keine Fotostrecke über Tschernobyl lässt diesen Ort aus. Wir bewegen uns auf einem kleinen Pfad durch einen verfallenen Spielplatz in Richtung eines langsam vor sich hinmordenden Gebäudes. Einer der verkleideten Jugendlichen, sein Name ist Vlad, versteckt sich mit seinem Tarnanzug hinter einem Baum. Gigi ermahnt ihn. Die Pfade wurden von der Strahlung weitgehend gesäubert, aber alle anderen Flächen sind kontaminiert. Vlad lächelt, später wird er mir erzählen, dass er nichts von der Strahlung hält. Ich bemerke, dass Gigi sich wieder eine Zigarette angesteckt hat und gerade zwei Gästen Feuer gibt. In seiner Hand hält er mehrere Geigerzähler, welche allesamt blinken und Piepstöne von sich geben und unterschiedliche Werte anzeigen. Auf die Zigarette angesprochen meint er nur kurz, dass ihn die Strahlung nicht interessiere.

Die Reise geht weiter. Auf einer großen weiten Ebene, die von einer Steppe durchzogen ist, tauchen mehrere Betonklötze und Strommasten auf. Tatsächlich handelt es sich um weitere Reaktoranlagen die laut Gigi auch noch in Betrieb sind. Eine weitere Anlage, direkt neben dem havarierten Reaktor befindet sich noch im Bau.

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Gigi kommentiert die Szenerie. Die Zone ist bereits verseucht, da macht es ja nichts mehr, wenn wir noch mehr Reaktoren hinbauen, es kann ja nicht mehr schlimmer werden. Vlads Augen funkeln unter der Gasmaske, der ersehnte Reaktor kommt immer näher. Auch bei den restlichen Gästen macht sich ein Gefühl der Ehrfurcht breit. Unser Marschroutka befindet sich nun auf einer breiten und renovierten Straße. Nach einer Ehrenrunde erreichen wir den Unglücksreaktor. Dort angekommen betreten wir einen riesigen Parkplatz auf dem sich dutzende Menschen tummeln. Arbeiterbrigaden marschieren zur Werksschicht am neuen Sarkophag, der in ein paar Jahren dann über den alten vor sich hin bröckelnden Sarkophag geschoben werden soll.

Da stehe ich also, 30 Meter vor dem zerstörten Reaktor, in dem sich jede Menge Plutonium befindet, ein radioaktiver Stoff in dessen Gegenwart man nach wenigen Minuten verstirbt und dessen Halbwertszeit mehr als 300.000 Jahre beträgt.

So habe ich mir das alles nicht vorgestellt. Im Schatten der Mauer unmittelbar vor dem Reaktor suchen Sicherheitsleute Schutz vor der gleißenden Sonne und blicken stumm zu uns herüber. Die Szenerie ist weder gespenstisch still, noch sonderlich laut. Ein Mahnruf reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Filmteam bittet unsere Reisegruppe den Platz freizumachen. Wer sich eine Reportage über Tschernobyl ansieht, der möchte menschenleere unheimliche Orte sehen. Wen interessiert schon das langweilige monotone Leben der Arbeiter, Sicherheitskräfte und die verschwitzen Körper der Touristen? Nebenbei bemerkt, die große Präsenz von Sicherheitskräften zeigt ihre Wirkung. Keine Zigaretten, kein Flachmann und keine Softguns sind zu sehen.

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Wir verlassen diesen gar nicht so unheimlichen, dafür aber äußerst seltsamen Ort. Unser nächstes Ziel: Pripjat, die verlorene Stadt.

Gigi lässt unseren Fahrer am Stadteingang halten. Endlich gibt es wieder eine Rauchpause, und genüsslich ziehen er und seine Gäste an ihren Zigaretten, während ich mich mit der Ortstafel ablichten lasse. Dabei erblicke ich ein unauffälliges Fahrzeug das sich unserem Bus nähert und schließlich stehen bleibt. Ein übergewichtiger Uniformierter steigt aus und beginnt mit harten Worten Gigi zu ermahnen. Er weise darauf hin, dass wir uns wenige hundert Meter vom Reaktor entfernt befinden und dass das Rauchen hier streng verboten sei. Er habe daher die Pflicht Gigi mitzunehmen. Der zunächst verdutzte Gigi zeigt daraufhin auf uns und erklärt dass er doch nicht seine Gäste alleine lassen kann. Man einigt sich auf eine „letzte“ Ermahnung. Als der Uniformierte weiter fährt zündet sich Gigi eine neue Zigarette an. Es war eine von vielen „letzten“ Ermahnungen.

In Pripjat angekommen erwartet uns eine verwilderte Szenerie. Hier kann man viele kaputte Gebäude sehen, kommentiert der erneut rauchende Tourführer. Zwischen den Mauern der zerfallenden Stadt sind hunderte von Birken emporgewachsen, über den Wegen und Straßen hat sich eine Grasdecke gebildet, die Gebäude selbst sind nur mehr Ruinen, die nicht mehr betreten werden dürfen. Die größte Gefahr ist aber der radioaktive Staub, der sich in den Gebäuden angesammelt hat und über die Atmung in den Körper gelangen kann.

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Vlad und seine Freunde haben sich mitsamt ihrem Arsenal von der Gruppe getrennt. Wir werden sie immer wieder beim Posieren und Fotografieren in und rund um die zerfallenden Gebäude sehen. Gigi hat sie bis jetzt ignoriert, doch plötzlich beginnt er über sie zu sprechen.

Gigis Erzählung

Als im Jahr 2007 ein Computerspiel über die Zone erschien, in der Mutanten und andere Monster das verseuchte Areal bevölkern, bildeten sich in allen russischsprachigen Ländern Communities, welche die fiktive apokalyptische Szenerie nicht nur am Computer sondern auch in Wäldern und verlassenen Dörfern nachspielen. Der Höhepunkt und Traum eines jeden dieser, bis an die Zähne mit Spielzeugwaffen ausgestatteten, Fanaten ist ein Besuch von Tschernobyl. Besonders beliebt sind Fotos in nachgemachter Ausrüstung aus dem Spiel. Dieses wurde dem realen Vorbild nachgebildet, und um ein paar aufregende Elemente erweitert. Außerdem gibt es im Spiel ein geheimes Labor in dem mit Föten und telekinetischen Fähigkeiten experimentiert wird, oder ein Labor dass Superwaffen wie ein Gaußgewehr oder ein Exoskellet herstellt. Für Gigi sind diese Fanaten Spinner welche sich auf die Suche nach Artefakten machen die es schlicht und einfach nicht gibt, weil sie nur einer Fantasie entstammen. Die Ausführungen über die Dummheit, dieser von ihm als Kinder und Spinner bezeichneten Personen, kennen keine Grenzen mehr. Inzwischen ist der späte Abend hereingebrochen. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und meine zwei Liter Wasser Reiseproviant aufgrund der Hitze bereits auf dem Hinweg getrunken. Ausgezehrt und bereit zu sterben schleppe ich mich in den Kleinbus und nehme ungeplant gleich noch Einzelteile der Türe mit, weil das gesamte Fahrzeug wie gesagt sowieso auseinanderbricht.

Auf unserem Rückweg aus der Zone hält der Bus noch an einem besonderen Platz, einem Museum, das leider geschlossen ist. Glücklicherweise hat der Souvenirshop, in dem man T-Shirts, billige Taschenmesser, Kantwürste und Präservative erwerben kann, noch offen. Abschließend werden wir noch alle durch eine Messstation gejagt, in der unsere Körper nach radioaktiver Strahlung untersucht werden. Die riesigen mechanischen Apparate machen laute Klickgeräusche, dann leuchtet eine von zwei Lampen. Sofern es die grüne Lampe ist geht alles in Ordnung, die rote Lampe wäre wohl radioaktive Kontamination. Was für ein Glück, wird sind alle nicht verseucht und dürfen die Zone wieder verlassen. Gigi schüttelt uns die Hände und bemerkt abschließend noch, dass er nicht verstehe wie man als Ausländer auf die Idee kommen würde eine Tour für einheimische Touristen zu machen.

Der Bus setzt sich wieder in Bewegung. Als wir ein Schlagloch passieren vereint sich meine Schädeldecke wieder mit dem vertrauten Dach des Marschroutkas. Auf Nimmerwiedersehen Tschernobyl …

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