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DIE LITERATURAUSGABE 2013

Karmelas Chance

Barbi Marković schreibt sowohl auf Serbisch als auch auf Deutsch und hat zuletzt "Ausgehen", einen Thomas Berhard-Remix, veröffentlicht. Für unsere Literaturausgabe erzählt sie von fünf Frauen und deren mehr oder weniger Freundschaft.

Die Veteranengattinnen Marija, Vera und Stana lebten in ihren alten Tagen im zwölften Stockwerk eines Militärhochhauses und kochten Kaffee, jede in ihrer Küche. Täglich kamen aus dem Nachbarhaus die umtriebige alte Karmela und die Derische. Diese fünf Frauen—drei unmittelbare Nachbarinnen vom zwölften Stockwerk, Marija, Vera und Stana, und noch zwei Externe, die umtriebige Karmela und die Derische—pflegten ihre Freundschaft ausschließlich in Kaffeepärchen. Vera und Marija waren nicht das, was Vera und Stana waren, wie auch Karmela und Marija nicht das, was Marija und Stana, und die ganze Welt stellte sich auf den Kopf, je nachdem, welche zwei alten Frauen gerade ihren Kaffee schlürften.

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Die Erste, die sich zu Hause verkroch, und die Erste, die starb, war Stana. Mit dem Tod der Freundin erholte sich Karmela von ihrer Geisteskrankheit.

Die schwarze Marija und die graue Vera pflegten über die umtriebige Karmela zu sagen, sie sei verrückt. Die schwarze Marija betonte gerne: „Karmela ist verrückt und dumm, weil sie sich von ihrem Mann schlagen lässt. Sie sollte ihn im Schlaf vergiften.“ Marija war geschieden. Die graue Vera und die umtriebige Karmela sagten über die schwarze Marija und die bucklige Stana, sie seien alte Jungfern. Vera war mit Stanas Aussage einverstanden, dass nicht nur Karmela verrückt sei, sondern auch Marija. Wenn Marija mit Vera zusammensaß, sagte sie üblicherweise: „Du bist eine vernünftige Frau, meine liebe Nachbarin.“ In Veras Abwesenheit sagte Marija: „Ein Bauerntrampel.“ Dem gleichen Prinzip folgend lobte Vera Stanas Stickerei, um Stana dann in Marijas Gesellschaft eine sture Bosnierin zu nennen. Nur die Derische war immer derisch.

Hätte ihnen jemand angeboten, ihre Leben untereinander zu tauschen, sie hätten abgelehnt. Stanas kleiner und starker Rausschmisskaffee, zwei unverheiratete, gebildete Töchter mit suspektem Liebesleben, Rückenprobleme. Marijas Hüfte, Marijas Gedächtnis ein Sieb, Marijas fast durchsichtiger Kaffee in der großen Tasse mit einer Tonne Zucker. Marijas Alimente, die sie im Scheidungsprozess erkämpft hatte. Die graue Vera in der schön eingerichteten Wohnung mit vernünftigem Kaffee und Kartoffelkuchen, aber immer allein, weil ihr Mann sich um das Anwesen in Grocka kümmerte. Die Derische mit ihrem Leben, das nie jemanden interessiert hatte, weil man mit ihr nicht sprechen konnte. Ohne Marija und Karmela wäre Vera kein Bauerntrampel gewesen, ohne Vera und Marija wäre Stana keine Bosnierin. Ohne Stana, Vera und Karmela wäre Marija nicht schlampig. Ohne Stana, Vera und Marija wäre Karmela nicht verrückt.

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Als Karmela einen Präzedenzfall schaffen und zur Derischen Kaffee trinken gehen wollte, wurde sie von der schwarzen Marija gewarnt: „Geh nicht zu ihr, sie ist derisch.“ Anschließend wurde Marija von Vera belehrt: „Lass Karmela gehen, du weißt doch, dass sie verrückt ist.“ Das wiederum bewies Marija nur Veras Provinzlertum.

Die schwarze Marija und die umtriebige Karmela lasen im Kaffeesud, blätterten in Zeitschriften und Romanen und stritten sich in Fortsetzungen über Marijas Terrasse. Karmela fragte immer: „Warum pflanzt du keine Blumen auf deiner Terrasse? Warum sitzt du nicht auf der Terrasse, wenn’s draußen schön ist? Warum machst du nicht sauber, damit es hier gemütlich wird?“ Marija schrie daraufhin: „Lass mich und meine Terrasse in Ruhe und kümmere dich um deine Probleme.“ Karmela musste sich dann rechtfertigen: „Ich sage ja nur, du hast eine Terrasse und benützt sie nicht.“ Marija befahl ihr zu schweigen, wenn keiner sie etwas gefragt hatte. Im Kaffeesud erblickten sie eine Last, die einmal abfiel, einmal anschwoll. In den Zeitschriften und Romanen lasen sie über naive Mädchen, Opfer von Verführungen und Vergewaltigungen. Karmelas Geschichten darüber, wie der Pfarrer hinter ihr her war und wie Clinton die Bomben gegen sie persönlich gerichtet hatte—als Strafe für Flüche und ausgesprochene Dummheiten— machten Marija wahnsinnig. Wenn die Derische läutete, herrschte zwischen den Freundinnen wieder Harmonie: Dann verfielen sie verschwörerisch in Schweigen und kicherten, fest entschlossen, die Derische auf keinen Fall hereinzulassen. Nur selten machte jemand der Derischen die Tür auf, aus Angst vor schlechter Kommunikation.

Es war unmöglich festzustellen, wer wen nötiger hatte, Karmela Marija oder Marija Karmela, wer wen mehr mochte, wer wem die dunklen Seiten des eigenen Geistes weniger vorenthielt. Dennoch, nicht einmal die allergrößte freundschaftliche Nähe und der gemeinsame Irrsinn konnten Marija daran hindern, im Gespräch mit Vera Karmela verrückt zu nennen, ebenso wenig, wie sie Karmela daran hindern konnten, gemeinsam mit Stana festzustellen, was für eine schlampige und bösartige Frau Marija war.

Später starb auch Marija. In ihren letzten Wochen, als sie schon schwach und ganz vertrocknet war und als ihr Haar zerzaust war und sie nicht mehr gehen oder sprechen konnte, kam ihre beste Freundin Karmela, die früher immer gekommen war, gar nicht mehr. Statt Karmela war es Vera, der Bauerntrampel, die jeden Tag in Marijas Wohnung vorbeischaute und den verwirrten Angehörigen mit der zukünftigen Toten half. Sie badeten und kämmten sie, zogen sie an, machten das Bett sauber und kehrten unter dem Bett, damit, wenn die Stunde kommen sollte, alles in Ordnung wäre. Stana war vor Marija gestorben, und seit das passiert war, nannte sie niemand mehr eine sture Bosnierin. Anschließend starb Marija, und seitdem sagte niemand mehr, sie sei eine bösartige Frau. Auch von Vera, die weiterlebte, sagte man nicht mehr, sie sei ein Bauerntrampel. Nachdem Karmela nicht mehr gekommen war, starben Stana und Marija und ließen Vera und die Derische zurück, und mit der Derischen konnte kein Dialog zustande kommen. So kam für die meisten das gesellschaftliche Leben zum Stillstand. Stana und Marija wurden nach Vorschrift beerdigt. Die Derische kam einmal am Tag an Veras Tür und läutete, aber Vera machte nicht auf. Vera kochte keinen Kaffee mehr und widmete sich der aktuellen spanischen Fernsehserie. Nur die umtriebige Karmela, die dank des Todes der Freundinnen nicht mehr verrückt war, trieb sich noch lange in der Gegend herum, auf der Suche nach neuer Gesellschaft.

Übersetzung von Mascha Dabić
Illustration Katharina Hüttler (Agent Azur)