Manche Biografien können Leute nicht selbst erzählen, weil sie sie nicht überleben. Albrecht Beckers Geschichte ist eigentlich so eine. 1935 sperrten ihn die Nazis, weil er schwul war, ins Gefängnis. In Hitlers Deutschland war das oft ein Todesurteil. Und doch sitzt er 1996 – mehr als 60 Jahre später – vor einer Kamera und erzählt lächelnd, wie das damals war. Er trägt ein hellblaues Hemd mit einer locker gebundenen Schleife im Kragen, ein gepflegter 90-jähriger Mann. Unter seinem Kragen allerdings klettert eine schwarze Tätowierung seinen Hals hinauf. Sie gehört zu der zweiten Geschichte dieses Mannes. Sie erzählt von dem radikalen Künstler, zu dem er wurde, nachdem er in einem Bunker an der Ostfront gelandet war, sich selbst tätowierte und dabei die Lust am Schmerz entdeckte.
Heute wirken Beckers Selbstporträts teilweise wie diese gephotoshopten Fotos aus dem Internet von alten Menschen, komplett bedeckt mit Tattoos, die uns zeigen sollen, wie seltsam, cool, faltig und spannend all die Tätowierten später mal aussehen werden. Albrecht Becker ist die reale Version dieser Bilder. Und er ist noch mehr. Er verkörperte, was es heißt, zu sich zu stehen, selbst wenn andere dich dafür verachten oder sogar umbringen wollen. Wenn wir heute offen über Body Positivity reden können, liegt es auch an Menschen wie Albrecht Becker. Denn geschämt hat Becker sich nie. Für nichts. Nicht für seine Sexualität. Nicht für seinen Körper. Nicht für seine Experimente – obwohl sie manchmal missglückten, eines davon entstellte seinen Penis für immer. Auch deshalb entdeckt ihn die Kunstwelt gerade wieder. Die Kölner Galerie Delmes und Zander hat Beckers Fotografien in ihr Programm aufgenommen. Und vom 7. bis 10. März hängen seine Fotos auf der “Independent”-Kunstmesse in New York.
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Wenn Albrecht Becker jetzt zu einem Tom of Finland der schwulen Fotografie werden sollte, dann wird er es leider nicht mehr erleben. 2002 starb er, aber es gibt ein paar wenige Interviews, seine Autobiografie und Zeitzeugenberichte, die erzählen, wer er war: ein Typ, der sagt, er habe gern gelitten, und dabei so lächelt, dass man ihn am liebsten umarmen würde.
An Weihnachten 1934 musste Albrecht Becker vor die Gestapo
Schwul zu sein, das war zu Beginn der Naziherrschaft kein Problem, erzählte Becker mit 90 Jahren in dem Kurzfilm Liebe und Leid. Schließlich habe jeder gewusst, dass der SA-Führer Ernst Röhm schwul war und viele andere Nazis auch. Klar, Sex unter Männern hatte der Paragraf 175 verboten, aber so richtig habe sich darum niemand gekümmert, in Würzburg, wo Becker in den 30er Jahren lebte. Er, seine Liebhaber und sein mehr als 20 Jahre älterer Freund, ein Professor, hätten miteinander geschlafen und sich geliebt, ohne das groß zu verstecken. Es war wohl ein Mikrokosmos, in dem Becker sich bewegte, aber es erinnert an die wilden Nächte aus der Serie Babylon Berlin, wenn er davon erzählt.
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Die Nazis, sagte Becker, hätten sich nicht für ihn interessiert, und er sich politisch auch nicht für sie. Doch nach dem angeblichen “Röhm-Putsch” im Juli 1934 und dem Mord an dem SA-Führer änderte sich das. Hitler festigte seine Macht und es war, als ob mit Röhm auch die letzte Zurückhaltung der Nazis verschwunden war. Sie verfolgten alle, die nicht ins nationalsozialistische Weltbild passten – eben auch Homosexuelle. Und sie erinnerten sich an Becker. Kurz nach Weihnachten schickte die Gestapo ihm und seinem Freund eine Vorladung.
“Wir sind da einfach hingegangen – ahnungslos – und nach drei Jahren erst wieder gekommen”, erzählte Becker. “Ich bin schwul und das weiß doch jeder”, habe er im Gestapo-Verhör geantwortet. Schon damals mit Ende 20 offenbar völlig im Einklang mit sich selbst. Becker sagt, er sei in diesem Moment einfach naiv gewesen: “Dummerweise habe ich die Namen von Freunden gesagt, mit denen ich geschlafen habe.” Er habe sich nichts dabei gedacht. So erzählte er es auch gegenüber der USC Shoa Foundation, die ihn als Zeitzeugen der Homosexuellenverfolgung durch die Nazis interviewt hat.
Becker hatte noch Glück und wurde zu drei Jahren Gefängnis in Nürnberg verurteilt. Wohl auch, weil er seine “Schuld” nicht leugnete und andere in seiner Arglosigkeit denunzierte. “Wenn Schwule nach Dachau ins KZ gebracht worden sind, war das das sichere Ende”, sagte Becker. Sein Richter, ein Gestapo-Mann namens Gerun, habe ihm mit dem Urteil das Leben gerettet: “Ich glaube, dass dieser Mann schwul war.” Nach dem Gefängnis schlüpfte er in sein altes Leben. Er brachte als Dekorateur ein wenig Farbe in die Schaufenster Nazideutschlands, kaufte sich eine Leica und fotografierte seine Freunde. Bis er 1940 gemustert wurde. Marschbefehl nach Russland, in die Nähe von Stalingrad. Er habe gehofft, schreibt Becker in seiner Autobiografie, an der Front würde er wenigstens wieder von jungen Männern umgeben sein. In der Heimat wurden sie rar. Bis in den Sommer 1944 blieb er in Russland, allerdings, sagt Becker, habe er nie an der Front gekämpft. Liebhaber fand er bei der Wehrmacht auch nicht. Trotzdem erkundete er in Russland seine masochistische Ader.
Im Krieg, sagte Becker, habe er schnell gemerkt, dass er seine Homosexualität nicht offen zeigen durfte. Mehr als von den Kameraden zu träumen, war unmöglich, ohne im KZ zu landen oder erschossen zu werden. Also hatte er keinen Sex. Vier Jahre lang. Das machte ihn zum Entdecker. In einem Bunker tätowierte er sich zum ersten Mal: Flammen über seinem Schwanz. Mit drei Nähnadeln, einem Wollfaden, einem Bleistift und schwarzer Tusche. Becker hatte den Vorhang seiner Schlafnische zugezogen und merkte, wie ihn das Tätowieren erregte. “Ich habe dahinter gelegen, mich tätowiert und hinterher gewixt. Die Kameraden haben Karten gespielt. Das war sehr komisch”, sagte Becker und es ist wie vieles, was er sagte, nicht gerade das, was man aus dem Mund eines 90-Jährigen erwartet. Seitdem habe er immer eine Erektion beim Tätowieren gehabt.
Beckers altes Leben, in dem er seine Homosexualität verstecken musste, endete, als sich ein Granatsplitter in seinen Arm bohrte. Die Nazis hatten verloren und Becker gewonnen. Noch im Lazarett lernte er den Filmkulissen-Architekten Herbert Kirchhoff kennen. Zehn Jahre blieben die beiden ein Liebespaar, lebten und arbeiteten zusammen. An Kirchhoffs Seite entwarf Becker Dutzende Filmkulissen, bekam zweimal den Bundesfilmpreis. Das ist die bekannte, gut dokumentierte Seite seines Lebens. Die andere Seite spielt sich in Tattoostuben, der Schwulen- und Künstlerszene Hamburgs ab.
Becker zog in den 50ern nach Hamburg und tauchte in die Welt des Sadomasochismus ein. Er traf die Urgroßväter der deutschen Tattoo-Szene: Herbert Hoffmann, Karlmann Richter und Christian Warlich. Beckers Körperleinwand wurde immer voller, mit Motiven überliefert von Urvölkern und Seefahrern. Aber Becker spazierte nicht nur mit seinen Tätowierungen durch St. Pauli, als wären sie nicht mehr als ein dicker Goldring an seiner Hand – er erklärte sie zu Kunst. Er fotografierte sich damit – teils im Kostüm, öfter nackt und manchmal beim Sex.
Wenn heute also Tätowiererinnen und Tätowierer ihren krakeligen Anti-Style als nächste Evolutionsstufe von der Dienstleistungs-Tätowierung zur Kunst sehen, zitieren sie damit eigentlich nur Becker. Und eine Gruppe namens Modern Primitives. Zu dieser frühen Underground-Kultur, sagt der Künstler Lucas Foletto Celinski, gehört Becker unbedingt. Foletto Celinksi hat sich durch Beckers Foto-Archiv gewühlt. So wie Becker, sagt Foletto Celinski, begannen die Modern Primitives schon Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Vorbild alter Stammesrituale mit Brandings, Implantaten, Suspensions und Tätowierungen. Zu einer Zeit also, als es noch nicht normal war, dass sich Rapper gigantische Eiswaffeln in die Visage stechen lassen.
In der Zeit von Adenauer, Mauerbau und Weltkriegsverdrängung schuf sich Becker seine eigene Welt. In Büchern hatte er gesehen, dass sich Kopfjäger auf Borneo in einem Ritual die Eichel durchstießen und in den Löchern Schmuck trugen. Becker war fasziniert. Zwei Jahre lang habe er seinen Willen trainieren müssen, um die Schmerzen zu ertragen, sagte er. Dann nahm er eine glühende Nadel und rammte sie sich durch die Eichel. Eine Stunde dauerte es. Er zog einen medizinischen Faden durch das Loch und weitete es bis auf einen Zentimeter Durchmesser. Becker erzählte als alter Mann so vergnügt von solchen Episoden, als hätte er darin nur eine Torte beim Tanztee angeschnitten.
Sein Künstlerleben begann mit einem missglückten Experiment
Mitte der 60er Jahre redete sich Becker ein, seine Eier seien zu klein. “Also habe ich Paraffin eingespritzt”, erzählt er in Liebe und Leid. Er hatte gehört, dass Ärzte Paraffinöl bei Schönheits-OPs einsetzen. Was er nicht gehört hatte: Paraffin wandert. Vier Liter spritzte sich Becker über mehrere Jahre, bis es sich um seinen Penis gelegt hatte, “wie ein zweiter Bauch”. Danach konnte Becker keinen normalen Sex mehr haben oder eine richtige Erektion kriegen. Es war, als ob sein Penis in einer Paraffin-Wulst verschwand.
“Mein Schwanz war 18 Zentimetern lang, zum Schluss waren es nur noch 6 Zentimeter”, sagte Becker. Einmal habe er einen Arzt gebeten, das Zeug wieder zu entfernen. Aber da hatte sich das Öl schon untrennbar mit dem Gewebe vermischt. Egal. Statt seinen Penis-Bauch zu verstecken, machte er einfach noch mehr Fotos von sich und dem Ergebnis seines Experiments. Eigentlich, sagt der Dokumentarfilmemacher Hervé Joseph Lebrun, der vier Jahre mit Becker zusammengearbeitet hatte, wurde er in diesem Moment erst so richtig zum Künstler.
Ein Typ, so gutaussehend, dass selbst Hetero-Männer eine Erektion bekamen
Becker schien schon zu einer Zeit nichts von Body-Shaming zu halten, als es den Begriff noch gar nicht gab. Und sein Ego war groß. In seiner Autobiografie erzählt er, wie er einmal in die Sauna ging und selbst Hetero-Männer beim Anblick seiner Tattoos eine Erektion bekamen.
Sein Selbstbewusstsein hatte Becker auch noch mit 92 Jahren, als der Dokumentarfilmemacher Hervé Joseph Lebrun ihn kennenlernte. 1998 rief Becker bei Lebrun in Paris an. Er hatte einige Arbeiten des Fotografen gesehen und lud ihn zu sich nach Hamburg ein. “Nach dem ersten Telefonat schickte er mir viele Fotos, die ihn in sadomasochistischen Situationen zeigten”, sagt Lebrun zu VICE. “Das war mein erster Eindruck von Albrecht. Es war großartig!” Becker hatte seinen Körper mit seinem Penis-Wulst damals schon mehrmals übertätowiert. Lebrun reiste nach Hamburg.
“Albrecht lebte in einem wunderschönen Haus mit Garten”, sagt Lebrun über das erste Treffen. Das Haus sei voller Bücher über Tätowierungen gewesen. Und dann, sagt der 55-Jährige, öffnete Becker einen großen Schrank, in dem er eine beeindruckende Dildo-Sammlung aufbewahrte. Sie sprachen über Fotografie, Sex und den Krieg. “Ich hörte den Geschichten dieses warmherzigen Menschen zu und schaute zu ihm auf”, sagt Lebrun. Becker und er machten jeden Tag Fotos. “Jeden Morgen wenn er aufwachte, wollte er etwas Neues erschaffen.” Die nächsten vier Jahre fotografierten die beiden zusammen, bis zu Beckers Tod im Jahr 2002 hatten sie mehrere gemeinsame Ausstellungen. Als Lebrun am 22. April in Lyon gerade eine Ansprache zur letzten gemeinsamen Vernissage hielt, starb Becker in Hamburg.
Albrecht Becker hatte keine näheren Verwandten und vermachte Lebrun einen Teil seiner Fotografien. Den anderen Teil überließ er dem Schwulen Museum Berlin. “Ich vermisse ihn”, sagt Lebrun. “Er war ein helles Licht. Für mich und für alle Menschen, die ihn umgaben.”
Lange bevor das Anderssein zu einem sich selbst langweilenden Lifestyle verkam, setzte sich Becker über das hinweg, was als normal galt. Vielleicht ist es ja das, was man von Becker lernen kann: brutale Ehrlichkeit zu sich selbst.
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