Elisa braucht etwa zwölf Minuten von der psychiatrischen Abteilung bis zum Schnapsregal im Kaufland Köln-Merheim. Sie läuft zielgerichtet durch die automatische Tür, vorbei an abgepacktem Eiweißbrot und eingemachten Brechbohnen. Essen bekommt sie in der Klinik, das braucht sie nicht, also biegt sie am Portwein nach links ab und greift sich drei Flaschen Gin. 37,5 Prozent Alkohol, 2,49 Euro die Flasche.
Die erste trinkt sie noch auf dem Klo neben dem Leergutautomaten. Die zweite auf dem Rückweg, auf der Höhe des Apotheken-Notdienstes gleich hinter dem Supermarkt. In der Klinik läuft Elisa am Stationszimmer vorbei, ruft, dass sie von ihrem Spaziergang zurück sei und geht auf ihr Zimmer. Dort legt sie die dritte Flasche in ihren Nachttischschrank und bricht zusammen. Als Elisa die Augen wieder öffnet, steht ihr Krankenbett zur Überwachung auf dem Flur der Entzugsstation.
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Heute sagt Elisa, 30, sie habe erst bei diesem Klinikaufenthalt realisiert, dass sie suchtkrank ist. “Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass ich mich jahrelang weggeknallt habe.”
2,1 Prozent aller Frauen in Deutschland sind alkoholabhängig. Elisa war lange Zeit eine von ihnen. Sie merkt es nicht, acht Jahre lang, und auch in ihrem Familien- und Freundeskreis soll Elisas Abhängigkeit niemandem aufgefallen sein. Dabei hat sie in ihren schlimmsten Zeiten nicht nur zwei Flaschen Wein und eine Flasche Gin am Tag getrunken, sondern auch Speed, Kokain und andere Drogen genommen. Wie es so weit kommen konnte, realisierte Elisa aber erst, als sie eine andere Diagnose bekam.
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Eigentlich will Elisa ihre Angststörungen behandeln lassen, als sie sich am 14. März 2018 um 9 Uhr zum Therapiestart in der Klinik anmeldet. Bei der Routineuntersuchung fragt die Krankenschwester, was und wann Elisa zuletzt konsumiert habe. Elisa lacht.
In der Nacht zuvor sei sie beim Tocotronic-Konzert so betrunken gewesen, dass sie nicht wisse, wie sie nach Hause gekommen ist, erzählt sie. Trotzdem habe sie dort noch eine ganze Flasche Gin alleine getrunken, weil sie nicht einschlafen konnte. Als die Krankenschwester den Alkoholwert in Elisas Blut misst, hat sie drei Promille.
“Für mich war das normal, besoffen irgendwo aufzukreuzen und mir das nicht anmerken zu lassen”, sagt Elisa heute. Am Tag der Anmeldung schickt die Krankenschwester sie auf die Entzugsstation. Elisa bleibt eine Woche, dann darf sie zurück auf die allgemeine Station. Noch am selben Tag packt Elisa ihren Personalausweis und einen 10-Euro-Schein ein, meldet sich zum Spaziergang ab und läuft zum Kaufland. 20 Stunden nach dem Rückfall bricht Elisa die Therapie ab.
Elisa beginnt nach dem ersten Rückfall noch zwei weitere klinische Entzüge und unternimmt unzählige Versuche alleine zuhause, in denen sie die Bettlaken vollschwitzt und kotzend im Badezimmer ihrer WG liegt. Die dritte Therapie in der Klinik, ein 10-Wochen-Programm, beendet Elisa im Oktober 2018 erfolgreich. Sie ist clean, sechs Wochen lang.
Doch im November, eine Woche vor ihrem 30. Geburtstag, sagt sie: “Kann sein, dass wir eine Flasche Sekt öffnen.” Fünf Monate später, im April, holt sie mich an einem Bahnhof in Köln-Kalk ab und entschuldigt sich, weil sie vom Vorabend etwas verkatert ist. Dann laufen wir zu ihrer Wohnung.
Elisa sieht aus wie Tausende andere 30-jährige Frauen, nicht wie eine Klischee-Alkoholikerin
Der Hauseingang zu Elisas WG liegt zwischen einem türkischen Café und der Gemüseauslage eines arabischen Lebensmittelladens. Die Wohnung ist mit terrakottafarbenen Fliesen ausgelegt, es riecht nach altem Rauch und frischer Wäsche.
Elisas Zimmer ist so ordentlich dekoriert wie ein Ausstellungsraum bei IKEA: Am Fußende des Bettes steht parallel zur Matratzenkante ein Serviertisch, die Becher darauf passen genau auf die Korkuntersetzer. Auf drei Holzbrettern entlang der Wand hat Elisa Windlichter und Karpfen aus Keramik aufgereiht, darüber hängt ein Bilderrahmen, darin steht: “Geh weiter. Gib nie auf.”
Elisa ist ungeschminkt, trägt Socken mit Avocado-Print, die gebleichten Haare hat sie rechts und links jeweils zu einem Dutt zusammengebunden. Später wird sie sich für den Fototermin die Augenbrauen nachziehen und Highlighter um die Augen pinseln, obwohl wir für diesen Artikel Fotos auswählen, auf denen man ihr Gesicht nicht sieht. “Ich trinke zwar manchmal, aber nicht annähernd so viel wie vor meinem Entzug”, sagt Elisa. Und ich glaube es ihr. Alkohol konsumiere sie nur noch nach den Regeln ihres Therapeuten: nie alleine, keinen harten Alkohol, nicht aus Langeweile, Angst, Wut oder Traurigkeit. Nur als Genussmittel. Auf andere Drogen will Elisa komplett verzichten, und meistens funktioniert das auch.
Das Heroin habe sie gereizt, weil es verboten war, sagt Elisa. Sie wirkt dickköpfig. Mehrmals betont sie, sich immer wieder von Regeln loszureißen. Aber es ist auch diese Sturheit, die einen daran glauben lässt: Wenn Elisa will, kann sie das mit den Drogen auch weiterhin sein lassen.
Der Auszug von Zuhause ist für sie ein Ausbruch
Es ist schwer zu sagen, wann Elisa aus ihrem exzessiven Party-Lifestyle in die Sucht gerutscht ist und wo man diese Grenze überhaupt ziehen sollte. Laut Bundesgesundheitsministerium waren 2018 rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig und 600.000 drogensüchtig. Besonders zum Alkohol gebe es eine “weit verbreitete, unkritische positive Einstellung”, schreibt das Ministerium. Auch das mag ein Grund dafür sein, dass Elisas Konsum in ihrem Freundeskreis wenig Fragen aufgeworfen hat.
“Einer der am meisten verwendeten Sätze aus meiner Kindheit war: ‘Das macht man nicht.’”
Elisa zieht mit 22 nach Köln, studiert Englisch und Philosophie, lernt wie jede Studierende neue Freunde kennen, arbeitet nebenbei als visuelle Gestalterin für Modeketten und bricht irgendwann das Studium ab, um Vollzeit in dem Beruf zu arbeiten. Elisa sagt, sie hätte damals zum ersten Mal alleine über ihr Leben entscheiden können.
Sie ist Einzelkind, der Auszug, sagt sie, sei für sie ein Ausbruch gewesen: Ihre Eltern hätten sie oft vereinnahmt, ihr viel verboten, sie gemaßregelt, erzählt Elisa: “Einer der am meisten verwendeten Sätze aus meiner Kindheit war: ‘Das macht man nicht.’”
In der Branche, in der Elisa arbeitet, ist es normal, immer ein bisschen zu viel zu feiern. Erst sei sie alle zwei Wochen weggegangen, erzählt Elisa, dann wöchentlich und schließlich beinahe täglich: mittwochs in Clubs, donnerstags in Bars, samstags und sonntags wieder in den Club. Freitags habe sie sich meistens bei jemandem zu Hause abgeschossen. “Wenn der Montag dann richtig furchtbar war, haben wir uns dienstags schon Pep besorgt”, sagt Elisa. “Das Extreme kam schleichend.”
Irgendwann habe sie es nicht mehr nüchtern zur Arbeit geschafft. Mindestens eine Flasche Wein habe sie am Tag getrunken, dazu Kokain und Speed, die erste Line direkt nach dem Aufstehen, die letzte um 18 Uhr. Elisa erzählt, sie habe wenig gegessen und ihr Geld in Drogen und Alkohol investiert. “Ich nahm Ritalin, Kodein, ein ganzes Jahr lang jedes Wochenende LSD, unter der Woche war ich auf Speed oder Kokain”, sagt sie. “Und abends habe ich gesoffen, damit ich wieder runterkommen und schlafen kann.”
Wenn Elisa mit fast monotoner Stimme ihr Rauschmittel-Repertoire aufzählt, klingt sie so abgeklärt, als lese sie die Zutatenliste für einen Marmorkuchen vor. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass ihr Konsum den meisten Leuten nicht aufgefallen sein soll. Elisa sagt, Drogen und Alkohol seien in ihrem Umfeld allgegenwärtig gewesen: Ihre ehemalige Chefin habe bei der Arbeit im Klamottenladen gekokst, einige von Elisas Freunden und Freundinnen hätten sie dafür bewundert, dass sie nach fünf Tagen des Feierns als Einzige noch stehen oder sich artikulieren konnte.
Durch den Entzug haben sich viele von ihr abgewendet, sagt Elisa. Andere hätten dadurch erst gemerkt, dass sie selber ein Problem haben.
Die Partner, die Elisa in dieser Zeit hatte, hätten alle ein ähnliches Konsumverhalten gehabt wie sie. Auch ihre Eltern sagen nichts, wenn ihre Tochter an Weihnachten oder im Urlaub ständig trinkt. “Es war niemand da, der Stopp gesagt hat”, sagt Elisa. Gleichzeitig reißt sie sich immer wieder los, wenn sie das Gefühl hat, kontrolliert zu werden. Warum konnte Elisa nicht selbst erkennen, dass sie sich schadet?
Alles ändert sich, als Elisa von ihrer Borderline-Störung erfährt
Würde man die Gründe für eine Sucht medizinisch auseinandernehmen, könnte man sie in soziale, psychische und körperliche Faktoren unterteilen, schreiben Psychiater und Neurologinnen. Elisa sagt, der Konsum habe ihr Spaß gemacht und für viele Menschen dürfte das eine Erklärung sein, die vor allem ihre eigenen Vorurteile über Suchterkrankungen bestätigt. Doch die Gründe dafür, dass Elisa Teile des vergangenen Jahres heute nur noch anhand der Fotos in ihrem Smartphone rekonstruieren kann, sind komplizierter.
Elisa bekommt Panikattacken. Und der Psychiater, den sie Ende 2017 deshalb aufsucht, attestiert ihr eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Borderline. Menschen mit einer Borderline-Störung haben ein verzerrtes Selbstbild und eine mangelnde Impulskontrolle, dazu sehr wechselhafte Emotionen. 2,7 Prozent der Erwachsenen sind von dieser Störung betroffen, Frauen öfter als Männer. Betroffene tendieren dazu, ihren Impulsen nachzugehen, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen.
“Ich habe mich mit dem Konsum belohnt und bestraft.”
Auch Elisas Gefühle sind lange eine Rechtfertigung dafür, immer mehr zu trinken: “Ich habe mich mit dem Konsum belohnt und bestraft,” sagt sie. Das Problem: Die Borderline-Störung macht Elisa hochemotional. Dinge, die andere Menschen leicht wegstecken, ziehen ihre Laune extrem runter. Und so kann es passieren, dass sich eine Meinungsverschiedenheit für Elisa wie ein ernster Streit anfühlt und eine Jobabsage ihr tagelang den Schlaf nimmt.
Borderline, das sei, als ob das Gehirn einen sehr starken Motor besäße, aber keine Bremsen, erklärt der Psychiater Stefan Röpke im Deutschlandfunk. Viele Borderliner und Borderlinerinnen bremsen, indem sie sich selbst verletzen, zu Drogen oder zur Flasche greifen.
Elisa sagt, sie habe den Motor in ihrem Kopf jahrelang mit Alkohol und Drogen ertränkt: Wenn die innere Stimme der Unsicherheit sie nachts mit Vorwürfen wach hielt, trank sie. Wenn sie auf einer Party von fremden Menschen umgeben war, nahm sie Drogen. “Ich war dann die Eisprinzessin, die Unnahbare”, erzählt sie. “Die Drogen haben mich emotional abgestumpft, und das Image hat meinem Selbstbewusstsein gut getan.”
Manchmal sitzt die Unsicherheit in Elisas Kopf wie eine fette, schwarze Spinne
In vielen Momenten wirkt es auch heute noch, als sei Elisa emotionslos. Sie lehnt sich an die Metallstäbe ihres Bettes, mit geradem Rücken und zusammengefalteten Händen sitzt sie dort und spricht über ihre Borderline-Störung, als sei sie die Therapeutin und die Patientin jemand anderes.
Es ist schwer vorstellbar, dass Elisas Rationalität innerhalb von Minuten unkontrollierbarer Wut weichen kann, dass in ihrem Kopf die Gedanken rasen, dass ein falscher Satz ihre Unsicherheit jeden Moment zurückkommen lassen könnte. Aber man muss Elisas Borderline-Störung verstehen, um zu erkennen, dass der Rausch für sie vor allem ein Ventil war. Vielleicht hat Elisa darüber nachgedacht, ob sie zu viel konsumiert. Aber vielleicht war es ihr die Kontrolle über ihre Emotionen wert, dennoch weiterzumachen.
Elisa sagt, sie habe in ihrem Entzug und den Gruppentherapien mit anderen Borderline-Suchtkranken Skills erlernt, um diese Kontrolle anders zu erlangen. Tatsächlich gelten verhaltenstherapeutische Maßnahmen auch aus medizinischer Sicht als große Unterstützung bei der Gefühlsbewältigung. “Meistens hilft es, wenn ich joggen gehe, male oder mich mit geistlosen Schminkvideos auf YouTube ablenke”, sagt Elisa. Manchmal schreibe sie in Impulsmomenten ihre Gedanken auf und lese sie mit einem Tag Abstand nochmal. “Da merke ich oft erst, wie irrational meine Ängste sind.”
Elisa sagt, sie wisse nun, wie sie ihre Gefühle ohne Rauschmittel kanalisieren könne. Aber es gibt sie immer noch, die Momente, in denen die Unsicherheit in Elisas Kopf sitzt wie eine dicke, schwarze Spinne. Elisa sieht dann nicht mehr, wie stark sie ist und wie weit sie schon gekommen ist. Und eigentlich ist das das Tragische an der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Denn die Entscheidungen, die Elisa dann trifft und hinterher bereut, machen auch ihre Unsicherheit stärker.
“Als Drogenkonsumentin kann man immer sagen, man habe sich unter Kontrolle. Damit belügt man sich am Ende oft nur selbst.”
Am 29. November, ihrem Geburtstag, trinkt Elisa Glühwein, Sekt und nimmt Ketamin. An Silvester konsumiert sie die Droge erneut. Nach dem 9. Februar, dem Tag ihres ersten Heroinrauschs, verschnupft sie über sechs Wochen etwa zwei Gramm der Droge. Elisa sagt, sie habe die Entscheidung jedes Mal bewusst getroffen, nicht wie früher aus dem Impuls heraus. Ihr letzter Heroinkonsum war im März, als sie beim Geburtstag ihrer Freundin niemanden kannte und die Unsicherheit betäuben wollte. Seitdem habe sie keine Drogen mehr genommen. Aber Elisa sagt auch: “Als Drogenkonsumentin kann man immer sagen, man habe sich unter Kontrolle. Damit belügt man sich am Ende oft nur selbst.”
Eine Woche vor der Veröffentlichung dieses Artikels zieht Elisa aus ihrer WG aus und mit ihrem neuen Freund zusammen. Sie denke über eine Umschulung nach, sagt sie, vielleicht im Theater, als Kostüm- oder Maskenbildnerin. “Es fühlt sich an, als hätte ich nach einer Pause auf die Play-Taste meines Lebens gedrückt”, sagt Elisa. Und es sieht so aus, als könnte der Film auch mit etwas Ruckeln ganz gut laufen.
Zurzeit verkauft Elisa Spargel und Erdbeeren an einem Stand. Sie ist weiterhin in Therapie. Ihr neuer Freund nimmt keine Drogen. Elisa wird immer emotionaler und empathischer sein als die meisten Menschen um sie herum. Aber allein, dass sie verstanden hat, warum das so ist, hat Elisa dazu gebracht, anders mit ihrer Sucht umzugehen. Trotz der Rückschläge.
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