Es ist Januar 2020. Noch vor ein paar Wochen hat sich James mit seinen Freunden jeden Samstagnachmittag im Pub getroffen und bis 3 Uhr morgens getrunken. Doch seit Oktober hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, außerdem lebt er jetzt vegan.
“Eine ziemlich heftige Wendung”, sagt er. Und der Grund für seinen neuen Lifestyle? Ein Freund hat James vor ein paar Monaten mit in eine Kletterhalle genommen. Das war das erste Mal, dass James Sport gemacht hat, “seit Gott weiß wann”, sagt er. Er kam mit, weil ihm der Film Free Solo gefallen hat, eine Doku über den kalifornischen Kletterer Alex Honnold, der ungesichert auf eine 900 Meter hohe Felswand im Yosemite National Park geklettert ist. “Seitdem bin ich besessen vom Klettern”, sagt er.
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VICE-Video: Free-Solo-Klettern
Nach dem ersten Mal in der Kletterhalle hat James angefangen, drei- bis viermal pro Woche im Fitnessstudio zu trainieren. Das hilft ihm dabei, seine Kraftausdauer und sein Muskelgedächtnis zu verbessern.
So einen wie James kennen wir doch alle: einen, der seit Neuestem klettert. “Vor ein paar Jahren war ich auf Hauspartys nur der Freak, der alle mit seinen Klettergeschichten zugelabert hat”, erzählt Pez aus London, der seit mehr als acht Jahren regelmäßig klettert. “Heute erzählen dir Leute mit glänzenden Augen, wie krass sie Durch die Wand fanden, also den Aufstieg von Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson auf den El Capitan.”
Klettern ist vor allem ein Hobby von jungen Männern. Wir alle haben diesen Typen im Freundeskreis, er ist Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig und hört einfach nicht auf, von dem krassen Überhang zu erzählen, den er im Berta Block in Berlin bezwungen hat. Er kommt samstagabends mit Patagonia-Jacke in die Bar, folgt irgendwelchen Kletter-Dudes auf Instagram und hat Insiderwissen über Klettersteige im Harz, obwohl er noch nie in seinem Leben in Thüringen war. Oh, und er hat seit Neuestem übrigens einen Bizeps.
Brett Ffitch und Sophie Cheng sind Klettertrainer aus Großbritannien, die aber in ganz Europa arbeiten und den Kletterkanal Climbing Nomads auf YouTube haben. Sie erzählen mir, dass über die letzten Jahre Bouldern der neue heiße Scheiß geworden sei. “Die Leute lernen heute in den Hallen klettern – und gehen dann erst draußen in die Wand”, erzählt Ffitch.
Beim Bouldern klettert man die Wand an farbcodierten Griffen hoch, das Ziel dabei ist, immer schwerere Routen zu klettern. Die Wand ist dabei nur ein paar Meter hoch. Das ist genau das, was James und die ganzen hippen Großstadt-Kletterer machen. Man braucht keine Ausrüstung, keine Seile, und man unterschätzt gerne, wie schwer die Routen dennoch sein können. Immerhin ist der Einstieg einfach: in die Halle fahren, Schuhe ausleihen und die Anfängerroute ausprobieren.
Der Trend ist nicht nur auf London begrenzt. In Deutschland gibt es im Jahr 2018 rund 500 Kletterhallen, mehr als doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren.
Adam und Robin leben beide in London und sind zwei der neu bekehrten Kletterer. Adam ist nach einer Trennung zum ersten Mal bouldern gegangen. “Ich stellte mir eine Halle voll Nerds vor, die stümperhaft an bunten Plastikgriffen rumtatschen”, erzählt er. “Und ich dachte, das schaffe ich locker.”
Es war dann doch nicht so einfach und eine echte Herausforderung, körperlich und mental. Der mit den stärksten Muskeln ist nämlich nicht der, der den Überhang bezwingt. Beim Klettern ist oft der Lauch der Boss: Du brauchst viel Muskulatur im unteren Rücken und Brust, aber musst auch sehr trittsicher sein. Heute sagt Adam: “Man wird einfach total süchtig.” Robin hat sich nach sechs Monaten Klettern eigene Schuhe gekauft und steht mittlerweile morgens um 5:45 Uhr auf, um noch vor der Arbeit klettern zu können. Natürlich darf bei zwei solchen Fans der Nerdtalk nicht fehlen: Die verschwitzten Selfies nach absolvierten Routen, engagierte Diskussionen darüber, wie man seine Ellenbogen am besten schützt, oder gemeinsames Bingen von Videos bekannter Sportkletterer wie Alexander Megos.
“Klettern ist ein super kommunikativer Sport”, sagt Pez. “Man sitzt viel rum und denkt darüber nach, was man warum gemacht hat. Wenn zwei Fremde dieselbe Route klettern und die selben Fehler machen, tauschen die sich natürlich aus.” Robin stimmt zu: “Ich gehe mittlerweile gar nicht mehr ins Fitnessstudio zum Trainieren, einfach, weil mir das zu antisozial ist, wenn dort jeder nur sein eigenes Ding macht.” Und das ist ein wichtiger Punkt: In einer Studie von YouGov von 2015 kam heraus, dass 12 Prozent aller Männer über 18 keinen engen Freund haben, mit dem sie über ernsthafte Probleme reden.
Jeder der Kletterer, mit denen ich sprach, kennt das Vorurteil gegenüber dem “Typen, der klettert”. Laut Pez sei das einer, der unbedingt sein Shirt ausziehen muss, während er in einer zwei Meter niedrigen Wand hängt. Robin ergänzt: “Viele arbeiten in der IT-Branche, man sieht immer irgendwo einen Typen mit einem Dropbox-T-Shirt”. Aber die beiden stört das nicht.
Man fängt vielleicht mit dem Klettern an, weil man, wie Adam, “einfach nur ein neues Hobby finden wollte, das nichts mit Alkohol zu tun hat.” Dann bleibt man dabei, weil man sich dabei herausfordert und Zeit mit coolen Leuten verbringen kann. Adam hat man jedenfalls schon lange nicht mehr im Pub gesehen.