
Eigentlich begann alles ganz friedlich. Die Demo war nicht besonders gut besucht. Eine kleine Gruppe von ungefähr 30 Flüchtlingen zog am Mittwoch lautstark durch Berliner Straßen, begleitet von ungefähr 100 Polizisten. Man besuchte Gesundheitssenator Czaja, den regierenden Oberbürgermeister Wowereit und zuletzt auch noch Innensenator Henkel.
Dass sich alle drei Herren nicht persönlich blicken ließen, ist fast schon selbstverständlich, aber immerhin schickte man an jedem der drei Standorte einen Mitarbeiter auf die Straße, der mit den Flüchtlingen sprechen musste.
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Im Falle des Innensenators war es sogar immerhin der Abteilungsleiter der Ausländerbehörde selbst, der sich nach einem halbstündigen Pfeif-, Tanz- und Trompetenkonzert dann doch noch auf die Straße bequemte, um mit betont verständnisvoller Miene den Protestbrief der Flüchtlinge entgegenzunehmen.
Man werde selbstverständlich den Brief an den Herrn Innensenator weiterleiten, aber versprechen könne man leider nichts. Trotz der berechtigten Wut der Flüchtlinge und der Ankündigung „We put fire on you“, falls nichts passiere und man wieder kommen müsse, machte sich der kleine Demonstrationszug auf den Rückweg zum Oranienplatz.
Dort, mitten in Kreuzberg, unterhalten revoltierende Flüchtlinge seit über einem Jahr eine kleine Zeltstadt, um gegen die unzumutbaren Zustände der europäischen Flüchtlingspolitik zu protestieren. Ein Thema, das nach dem Schiffsunglück vor Lampedusa, auf allen gesellschaftlichen Ebenen heiß diskutiert wird, allerdings im konkreten Fall wenig bis gar keine Solidarität hervorruft. Offiziell wird der Tod von mehreren Tausend Menschen an den Außengrenzen der EU zwar bedauert, aber wenn die Leute dann vor der eigenen Senatskanzlei stehen, dann betet man, dass sie doch wieder weggehen mögen Doch der Schlachtruf „Lampedusa we are here“ lässt sich nicht immer überhören.
So weit so schlecht und so zog die kleine Gruppe also wieder in Richtung ihres Basislagers und hatte dieses auch schon fast erreicht. Die Demo war so gut wie beendet, als der diensthabende Einsatzleiter ungefähr 50 Meter vor Erreichen des Ziels den Befehl zum Zugriff gab.
Ein Demonstrationsteilnehmer habe sich zu einem früheren Zeitpunkt vermummt, hieß es später zur Begründung, weswegen er aus der Gruppe herausgegriffen und festgenommen wurde. Die anderen Demonstrationsteilnehmer, die von einer Deeskalationsstrategie ausgegangen waren, reagierten entsprechend und versuchten, ihren Freund zu befreien.
Nach einer gezielt provokanten Festnahme kurz vor Beendigung einer Demonstration von Flüchtlingen wird es hektisch. Es kommt zu Handgreiflichkeiten und körperlichen Auseinandersetzungen. Insgesamt werden vier Demonstranten verhaftet. Eine Person wird so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus ambulant untersucht werden muss. Doch die Rechnung des Berliner Senats geht nicht auf. Am Abend formieren sich Linksautonome und Unterstützer zu einer Spontankundgebung. Über 500 Menschen halten auf Stunden die Berliner Polizei auf Trab.
Es entstand ein Handgemenge, in dessen Verlauf insgesamt vier Personen verhaftet wurden und zumindest eine Person so schwer verletzt wurde, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Warum die Polizei zu diesem späten Zeitpunkt eine vollkommen unnötige Verhaftung durchführte, die einer Provokation gleichkam, darüber lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Zu vermuten ist, dass die Berliner Polizei die Situation am Oranienplatz langsam aber sicher eskalieren lassen möchte, um der Öffentlichkeit einen Grund zu liefern, dass das Camp nicht länger tragbar sei und geräumt werden müsse.

Nicht gerechnet hat die zuständige Polizeileitung allerdings mit der Solidarität der linken Szene, die bereits kurz nach dem Zwischenfall vom Oranienplatz ihre Anhänger mobilisierte.
Eine SMS mit dem Inhalt: „Brutaler Polizeieinsatz gegen Flüchtlinge vom Oranienplatz. Viele Verletzte und Festnahmen. Kommt jetzt. Protestdemo 20 Uhr Kotti. Weiterleiten!“, machte die Runde, woraufhin sich gegen 20 Uhr mehrere Hundert Menschen am Kottbusser Tor in Kreuzberg einfanden und zu einer Spontandemonstration in Richtung der Gefangenensammelstelle in Tempelhof aufmachten.
Aufgrund des hohen Tempos des Demonstrationszuges und der Unübersichtlichkeit der Teilnehmer hatte die Berliner Polizei große Schwierigkeiten, die Lage unter Kontrolle zu behalten, nicht zuletzt da auch mehrere „Sportgruppen“ aus dem Umfeld des Schwarzen Blocks die Situation ausnutzten. So wurden zum Beispiel die Schaufenster der Commerzbank am Kottbusser Tor attackiert und im Schutze der Dunkelheit die direkte Konfrontation mit der Polizei gesucht.
Trotz allem verlief die Demonstration, die zwischenzeitlich auf fast eintausend Teilnehmer angeschwollen war, weitestgehend friedlich und kam erst auf dem vier Kilometer entfernten Platz der Luftbrücke zum Stillstand.
Da die Polizei den Platz weiträumig abgeriegelt hatte, befürchteten viele Demonstrationsteilnehmer eine Einkesselung und verließen daraufhin die Menge.

Mittlerweile wurde bekannt, dass sich von den vier Festgenommenen vom Nachmittag bereits drei wieder auf freiem Fuß waren. Eine Person befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in Untersuchungshaft, mit dem Hinweis, dass diese am Morgen einem Haftrichter vorgeführt werden solle. Nach einer kurzen Beratung beschlossen die verbliebenen Flüchtlinge und ein harter Kern von Unterstützern, dass man die Nacht auf offener Straße verbringen würde, bis auch der letzte Gefangene frei wäre. Unter dem Ruf „We will stay and we will fight—freedom of movement is everybody’s right“ wurde bei der Einsatzleitung der Polizei die Genehmigung für eine Dauerkundgebung eingeholt, welche dann auch erteilt wurde.
Im Laufe der nächsten Stunden kam es zwischen Protestierenden und Polizisten immer wieder zu Auseinandersetzungen, in deren Verlauf mehrere Personen unter dem Tatvorwurf der Beleidigung kurzzeitig festgenommen wurden. Gegen vier Uhr morgens wurde daraufhin der Abbruch der Aktion beschlossen.
Die ständige Präsenz der protestierenden Flüchtlinge, die mit viel Nachdruck auf eine Änderung der bundesdeutschen und europäischen Asylpolitik drängen, scheint für die zuständigen Behörden ein immer größeres Ärgernis darzustellen.
Wurden in Hamburg erst vor Kurzem protestierende Flüchtlinge gezielt zur Zielscheibe der dort regierenden SPD, scheint auch die rot-schwarze Landesregierung nun mit Härte gegen die Widerstandsbewegung vorgehen zu wollen. Nicht nur, dass sämtliche politischen Forderungen der Flüchtlinge nach Abschaffung der Residenzpflicht und Abschaffung der Lagerunterbringung sowie einem sofortigen Abschiebestopp schon seit Jahren ignoriert werden, nun wird auch sukzessive die Austrocknung des Protest vorbereitet.
Der Druck auf den Bezirk Kreuzberg, der das illegale Lager bislang duldet, steigt, und mit jedem (provozierten) Vorfall steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Behörden zum Schluss kommen, das Camp aus „Sicherheitsgründen“ schließen zu müssen. Lampedusa ist zwar tatsächlich überall, aber bitte nicht vor unserer Haustür.
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