Lockdown

Mein Isolations-Tagebuch der Selbstzweifel

Ich weiß nach dem Lockdown besser denn je, wohin ich meine Wut richten muss – ganz sicher nicht gegen meinen Körper.
Das Körpergefühl während der Isolation
Foto: Imago Images | Canvan Images || Bearbeitung: VICE

Ich erinnere mich noch genau daran, wann ich begonnen habe, meinen Körper zu bewerten. Ich war damals 15, stand knietief im Wasser und trug einen rot-blau gestreiften Bikini. Ich habe trotzig meine Arme in die Hüften gestemmt und versucht, cool auszusehen, für ein Foto. Ich weiß noch, wie wohl ich mich in diesem Moment gefühlt habe. Bis ich das Bild sah.

Meine ältere Schwester hat das Foto entwickeln lassen. Und es entsprach nicht dem Bild, das ich von mir selbst hatte. Zum ersten Mal realisierte ich, wie sehr sich mein Körper in der Pubertät verändert hatte. Das fiel auch Verwandten auf. Ich war nicht übergewichtig, aber das dünne Mädchen von früher war ich auch nicht mehr. Ich dachte bis zu diesem Moment, ich hätte die gleiche Figur wie die Frauen in Frauenmagazinen. Ich habe den rot-blau gestreiften Bikini nie wieder angezogen.

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Bei fast jeder Frau in meiner Familie geht und ging es in irgendeiner Form immer darum, Gewicht zu verlieren. Meine Tante beschwerte sich jedes Jahr darüber, dass sie über die Feiertage zugenommen hat. Meine Mutter versuchte sich immer wieder an möglichst kalorienarmen, selbstgemachten "Kuchen". Mit dem Urlaubsfoto wurden Diäten nun auch zu meiner ständigen Begleitung. Mal ließ ich das Abendessen weg. Mal griff ich ausschließlich zu Vollkorn-Fitness-"Brot", das in etwa so viel mit Brot gemeinsam hat wie ich mit rechten Politikern. Dann strich ich Süßigkeiten. Dann aß ich abwechselnd einen Tag "normal", einen Tag nur Suppe.

Auch meine Beziehung zu Sport veränderte sich. Ich war schon immer sportlich, in der Unterstufe war Turnen mein Lieblingsfach. Je älter ich wurde und je mehr ich das verdammte Sixpack und die dünnen Oberarme wollte, umso stressiger wurde Sport für mich. Auf einmal war laufen gehen nicht mehr Spaß, sondern Arbeit. Ich begann, meine Laufzeit zu tracken, Fitnesspläne zu erstellen. Ich kaufte mir vegane "Clean Eating"-Kochbücher von Bloggerinnen.

Ich hatte nie eine lebensgefährliche Essstörung wie etwa Anorexie, aber mein Bezug zu Essen war nicht gesund. Viele, viele Jahre fragte ich mich: Wie schaffe ich es, "normal" zu sein und gleichzeitig abzunehmen? Der Rote Faden in meinem Leben war lange die Frage, ob ich nicht doch ein paar Kilogramm abnehmen könnte. Aber wirklich nur maximal sieben Kilo; sieben war immer meine Zahl, unabhängig vom Ausgangsgewicht. Bloß nicht zu dünn, bloß nicht zu dick. Ich wollte dem Frauenbild mit all seinen absurden Facetten entsprechen. Heute bekämpfe ich eben dieses Frauenbild mit jeder Faser meines Körpers.

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Die Coronakrise und die Isolation, die mit ihr kam, haben mich zurückgeworfen.

13. März 2020: Meine Selbstisolation beginnt. Über sechs Wochen lange berühre ich keine Person. Wenn ich morgens aufwache, liegt in meinem Bett niemand außer mir – und meinem Hund Tito, manchmal. Ich umarme keine Freundinnen, Mitbewohnerinnen oder Familienmitglieder. Ich definiere Nähe neu; digitale Nähe zu meinen Liebsten, analoge Nähe zu mir und meinem Körper. Ich beginne ein Protokoll.

20. März 2020:

“Habe ich zugenommen oder saß die Hose immer schon so eng? Ist sie überhaupt eng oder bilde mich dir das ein, weil ich gar keine Jeans mehr trage?”

“Ich sehe doch so aus wie immer. Oder?”

Ich sortiere meinen Kleiderschrank aus.

Ich denke wieder über mein Gewicht nach.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit krankmachenden Schönheitsidealen, lese feministische Bücher, Fleischmarkt von Laurie Penny, alles von Margarete Stokowski. Trotzdem bin ich plötzlich verunsichert. Als ich an diesem Abend vor dem Spiegel stehe und meinen Bauch inspiziere, bin wieder ich 18 und will nur eins: dünner sein. So stehe ich also vor meinem Ganzkörperspiegel; der Kopf 18, der Körper 28. Die Bewertung fällt gnadenlos aus, ich bin meine strengste Richterin.

Ich vergesse meine Hände, die mich mit dem Schreiben durch die Isolation tragen.

Ich vergesse meine Beine, die mich meine täglichen Runden laufen lassen.

Ich konzentriere mich auf den unwichtigsten aller Faktoren: mein Gewicht.

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Ich erwische mich dabei, wie ich mir meine Hüften schmaler wünsche. Mein Bauch könnte auch flacher sein. Ich weiß nicht genau, wie viel ich wiege – ich besitze keine Waage. Jetzt gerade hätte ich gerne eine. Das hab ich mir schon lange nicht mehr gewünscht.

Menschen machen mir ständig Komplimente zu meinem Muttermal im Gesicht oder fragen nach Tipps, wie ich meine Haare pflege. Und eigentlich mag ich mich ja; meine Brüste, meine Beine, meinen Po.Trotzdem nehme ich mich mit einem Mal wieder anders wahr. Ich sehe alles, was straffer, glatter, muskulöser sein könnte.

Innerlich bin ich zerrissen. Ich will, dass mir mein Gewicht egal ist. Aber ich schaffe es nicht immer – obwohl ich weiß, dass dieser Gedanke gefährlich ist. Ich zweifle an mir selbst und im selben Atemzug verurteile ich mich für meine Zweifel. Ich bin eine Weiße, normschöne Frau – ich kenne meine Privilegien. Ich hatte den Ort mit den ewigen Selbstzweifeln doch hinter mir gelassen. Oder etwa nicht?

Mit der Selbstisolation schleicht sich das verzerrte Bild von mir selbst wieder ein. Ich kann plötzlich nicht aus meiner Haut; aus der Haut mit der Cellulite am Po und den Haaren am Bauch.

Nein, nein, nein. Weg mit der alten Kleidung, die ich aussortieren wollte. Weg mit den alten Gedanken. Ich stehe wieder vor dem Ganzkörperspiegel in meiner Wohnung. 28, nicht 18. Wenn ich schon nur nach einer Woche in Isolation überlege, ob ich nicht doch an meinem Sommerbody arbeiten sollte, weiß ich, dass ich in den nächsten Wochen sehr vor- und nachsichtig mit mir selbst sein muss. Ich will mir selbst die gleichen liebevollen Worte entgegenbringen wie Freundinnen, die sich schlecht fühlen.

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Wenn ich meine Mitschrift heute, Wochen später lese, kriege ich Gänsehaut im Nacken. Ich bin schneller in ungesunde Denkmuster zurückgerutscht, als die österreichische Integrationsministerin Susanne Raab Kopftuchverbot sagen kann.

27. März 2020

“Wut ist gut”

Ich konzentriere mich nicht auf die Frage, ob meine Oberarme zu dick sind. Ich konzentriere mich auf die Wut, die in mir schlummert und meinen Körper zum Beben bringt. Die Stimmung in meinem Protokoll hat sich verändert. Meine Worte sind harscher, aber sie richten sich nicht gegen mich selbst. Es geht hier nicht mehr um meinen Körper. Ich habe meine Zweifel und meine Unsicherheiten in den richtigen Kontext gesetzt und der ist ein gesellschaftspolitischer. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich mein Leben lang abnehmen möchte. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich den Entschluss, auf BHs zu verzichten, als politischen Akt verbuche. Es kommt nicht von ungefähr, dass mich diese Selbstisolation zurück in alte, vergessene Unsicherheiten treibt.

Mit dem Lockdown in Österreich steigt die Anzahl der Quarantäne-Workout-Videos auf Social Media. Instagram fühlt sich an wie eine Lawine an schönen, dünnen, produktiven Menschen, die noch mehr Zeit auf ihrer Yogamatte verbringen. Leisten, leisten, leisten. Immer besser, schöner, dünner werden, bis am Ende nichts mehr von uns übrig bleibt. Ich stelle die Accounts auf stumm, die mich unter Druck setzen oder entfolge ihnen direkt.

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Ich verbuche es nicht als Erfolg, wenn ich einen Tag lang vergesse zu essen. Stattdessen koche ich abends für den nächsten Tag. Ich freue mich nicht, wenn mich meine Mutter fragt, ob ich abgenommen habe. Ich bitte sie, meinen Körper nicht mehr zu kommentieren, auch wenn sie besorgt ist. Wenn ich laufen gehe, achte ich weder auf gelaufene Zeit noch Entfernung. Ich laufe, bis mein Kopf leichter ist. Ich erinnere mich selbst täglich daran, dass es nicht mein Lebensziel ist, irgendeinem Ideal außer meinem eigenen zu entsprechen. Es ist konstante Arbeit, die im Hintergrund passiert. Aber es wirkt.

24. April 2020

Die Routine in der Arbeit hilft. Die Stimme in meinem Kopf auch. Sie sagt mir jeden Morgen in 1A-Wienerisch: Du passt schon so, wie du bist.

Manchmal kaufe ich das der Stimme nicht ab. Dieser Tag ist nicht unbedingt ein guter Tag; dann ist er von mir aus nur ein Tag. Das klingt erstmal wie eine einfache Lösung zu einer komplexen Frage – aber ich bin ja keine rechte Politikerin.

Es ist alles andere als einfach, meine eigenen Gedanken zu steuern. Klappt nicht immer, dann eben: Netflix an, den Kopf auf Durchzug mit einer Folge Love is Blind.

Ich habe inzwischen auch feministische Bücher rausgekramt, die ich schon gelesen habe. Ich brauche sie jetzt, sie sollen mir Kraft geben. In vielen habe ich Stellen untergestrichen, die ich jetzt wieder lese. Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir zum Beispiel.

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"Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht"

Beauvoirs Zitat kennt wohl jede Person, die einmal ein Gender-Studies-Seminar an der Uni besucht hat. Ihre Worte geben mir Halt. Ich bin nicht das Problem. Die gesellschaftlichen Ideale sind es. Ich muss nicht besser, schöner, dünner sein. Nie. Und jetzt, während des Lockdowns, erst recht nicht.

13. Mai 2020

61 Tage Isolation und Ich fühle mich so wohl in meinem Körper wie noch nie. Weil ich meistens die einzige Person bin, die meinen Körper kommentiert. Catcaller mal kurz weggedacht, den Raum gebe ich ihnen nicht. Ich kann entscheiden, welche Worte ich an mich selbst richte und ich wähle sie mit Bedacht aus. Habe ich nichts Schönes zu sagen, sage ich einfach gar nichts.

Wenn ich Freundinnen draußen auf Distanz treffe, sagen sie, ich würde strahlen. Meine Mutter meinte bei einem unserer täglichen Videocalls, ich hätte nie frischer als jetzt ausgesehen. Ich fühle mich wohl. Ich habe zehn Jahre an mir gearbeitet, um da zu sein, wo ich heute bin. Das lasse ich mir von keiner Pandemie nehmen.

Einmal musste ich im wahrsten Sinne des Wortes noch auf die Schnauze fliegen – ich bin beim Laufen gestürzt. Nichts weiter passiert bis auf eine beleidigte Schulter und ein paar Schürfwunden. Das hat es wohl gebraucht, damit ich ein für alle Mal realisiere, worauf es wirklich ankommt. Nämlich nicht darauf, wie meine Beine aussehen, sondern wie weit sie mich tragen können.

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