Achtung: Dieser Artikel enthält Fotos von Toten und Verletzten.
"Die Russen sind nur ein paar Straßen entfernt", ist das erste, was Adrien Vautier Mitte März am Telefon sagt. Der französische Fotojournalist befindet sich zu diesem Zeitpunkt im ukrainischen Irpin, einem Vorort nordwestlich von Kiew. Die angrenzende Nachbarstadt Butscha ist bereits unter russischer Kontrolle, Irpin droht ebenfalls eingenommen zu werden.
Vautier hat hier Szenen unfassbarer Gewalt erlebt. Die Arbeit ist gefährlich. Ein Kollege, der US-Journalist Brent Renaud, wurde am 13. März in Irpin erschossen. Während die Welt das ganze Ausmaß des Schreckens im benachbarten Butscha erst nach Abzug der russischen Truppen erfährt, berichten Menschen wie Vautier und Renaud unermüdlich von den Frontlinien.
Die Arbeit von Fotojournalisten und Kriegsreporterinnen ist unfassbar wichtig, aber sie fordert physisch und psychisch einen hohen Preis. Wir haben mit Vautier nach seiner Rückkehr in Frankreich darüber gesprochen, was er in der Ukraine erlebt hat.
Ein ukrainischer Soldat am Ortseingang zu Irpin, der Hauptfront vor Kiew – 7. März 2022
VICE: Kannst du etwas zu diesem Foto des ukrainischen Soldaten sagen?
Adrien Vautier: Irpin liegt etwa 20 Kilometer von Kiew entfernt. Diese Brücke befindet sich am Ortseingang. Sie wurde Anfang März von der ukrainischen Armee zerstört, um den Vormarsch der russischen Truppen zu verlangsamen. Leider erschwerte das auch die Evakuierung von Zivilisten und Verletzten. Als ich dieses Foto machte, kam ich gerade von der Brücke zurück, als ich nach oben schaute und den Soldaten in dieser apokalyptischen Szenerie sah. Das sind übrigens keine Wolken am Himmel, sondern Rauch von der Bombardierung des Nachbarorts Hostomel.
Als ich zur Brücke kam, waren bereits eine Menge Journalisten dort. Ich war beeindruckt, wie ruhig die Zivilisten blieben. Niemand hetzte, sie halfen Alten und Menschen mit Behinderung, obwohl um sie herum überall Bomben fielen. Ich habe dann auch mitgeholfen, anstatt Fotos zu machen.
Zivilisten bei der Evakuierung, 5. März 2022
Du bist dann weiter in die Stadt vorgedrungen. Warum?
Ich musste andere Storys finden. Ich bin dann am ersten Kreisverkehr weiter geradeaus gegangen, bis ich die Frontlinie erreicht habe. Die russische Armee war nur ein paar Meter entfernt. Dort war es sehr schlimm.
Wie war die Lage im Stadtzentrum?
Dort wütete der Häuserkampf mit vielen zivilen Opfern. Auf den Bürgersteigen war Gehirnmasse verteilt, die Stadtparks waren voll mit Leichen.
Im Nachbargebäude eines zerbombten Krankenhauses
Kannst du etwas über das Krankenhaus sagen, das du gesehen hast?
Ich war schon ein paar Tage in Irpin, als ich mich dazu entschloss, mit einem anderen Journalisten dorthin zu gehen. Das Krankenhaus war Schauplatz schwerer Kämpfe gewesen. Erst hatten es die Russen unter ihre Gewalt gebracht, dann eroberten die Ukrainer es zurück. Als wir durch die Stockwerke gingen, sahen wir überall Blutspuren. Sie führten in den Keller. Der Blutgeruch war unglaublich intensiv.
Auf deinen Fotos sieht man Menschen, die trotz der Kämpfe in der Stadt geblieben sind. Was für Leute waren das?
Eine Art Resilienz hatte die Stadt erfasst. Ich fotografierte Zivilisten, die sich in Kellnern versteckten, ihre Blicke sahen verloren aus, ihre Hände zitterten. Diese Menschen hatten unvorstellbare Dinge gesehen. Einige der Dagebliebenen, insbesondere die ukrainischen freiwilligen Helferinnen und Helfer, sahen sich bereits als tot. Dieses Trauma wird nie verschwinden. Diese Menschen waren nervliche Wracks. Daneben gab es auch Menschen, die immer noch versuchten zu fliehen.
Viele ältere Menschen in Irpin konnten oder wollten die Stadt nicht verlassen. Sie lebten in Kellern und provisorischen Unterkünften ohne Elektrizität und Heizung
Wie ist das Bild mit dem verwundeten Mann entstanden, der in die Kamera schaut?
Dieser Mann verfolgt mich noch immer. Er kam alleine und war komplett desorientiert. Er lief rum, ohne zu wissen, was er eigentlich machen soll. Er befand sich in einem Schockzustand. In dem Bild ist die physische Gewalt sehr präsent, ich werde das nicht vergessen.
Das Bild hier unten entstand direkt an der Frontlinie?
Ja, das ist die Kreuzung. Dahinter liegt Butscha, wo die russischen Truppen waren. Ich war auf der ukrainischen Seite. Dort gab es viele Gefechte, es war das gefährlichste Gebiet.
Ein ukrainischer Soldat rennt entlang der Frontlinie zwischen Irpin und der Nachbarstadt Butscha, die zu der Zeit unter russischer Kontrolle war – 11. März 2022
Warum hast du die Gefahr in Kauf genommen?
Als ich einen Tag zuvor dort war, schien es in der Gegend ruhig zu sein, obwohl sich die Russen am Ende der Straße befanden. Die Leute sagten mir, dass ich wegen der Scharfschützen vorsichtig sein solle. An so einem Ort bleibt man nicht lang.
Ich bin raus und habe Bilder von Zivilisten gemacht, die an einer Leiche vorbeigegangen sind. [Anm. d. Red.: Dieses Foto zeigen wir aufgrund der drastischen Darstellung hier nicht.] Ich war dabei sehr ungeschützt. In der Ferne konnte man die russischen Stellungen sehen und ich war mitten auf der Straße. Jederzeit hätte alles Mögliche passieren können. Im Vorhinein hatte ich alles so gut wie möglich geplant, um mich möglichst wenig zu einem Ziel zu machen. Ich blieb etwa 20 Minuten dort, in der Zeit wurde kein Schuss abgefeuert.
Wie bleibst du in solchen Situationen ruhig?
Wenn du mittendrin bist, gibt es keine Zeit, über die Risiken nachzudenken. Sobald du deine Konzentration verlierst, machst du Fehler. Du biegst links statt rechts ab und plötzlich stehst du vor einem russischen Bataillon. Du siehst schreckliche Dinge und gehst dann weiter zur nächsten Sache. Wir sind ständig in Bewegung. Das Ziel ist, lebendig zu bleiben. Ich will für meine Arbeit nicht sterben.
Gab es Menschen vor Ort, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?
Igor [auf dem Bild unten zu sehen] hat mich zweimal nach Irpin gebracht. Er war einer der Zivilisten, die ständig zwischen der Stadt und der Brücke hin und her sind, um Menschen zu evakuieren. Wir sind in sein Auto gestiegen und er hat uns in der Stadt rausgelassen.
Igor [rechts] zeigt die russischen Stellungen an der Grenze zwischen Irpin und Butscha
Was hat ihn besonders gemacht?
Von Anfang an hat Igor uns gesagt, dass er den Menschen bei ihrer Flucht helfen will. Er war traumatisiert, hatte schlimme Dinge gesehen. Das sind die Leute, die wir nicht vergessen dürfen: die Alltagshelden, an die sich der Krieg nicht erinnern wird. Ich interessiere mich für solche Geschichten – Menschen, die ohne Ausrüstung ihr Leben in Gefahr bringen, um anderen zu helfen. Ich habe großen Respekt vor ihm.
Andriy
Was kannst du über den Mann sagen, der in dem Foto hier oben Menschen begräbt?
Das ist Andriy. Er ist freiwilliges Mitglied der Territorialverteidigung der Ukraine in Irpin. Früher war er als Soldat im Donbas. Er sammelt Leichen in der ganzen Stadt ein und vergräbt sie in den Wäldern neben dem Krankenhaus, bis sie vernünftig auf dem Friedhof beerdigt werden können, der sich zu dem Zeitpunkt unter russischer Kontrolle befand. Die Menschen müssen diese Bilder sehen, damit sie das nicht vergessen.
Anatoli
Und wer ist der Mann in dem Foto hier oben?
Das ist Anatoli, 73 Jahre alt. Er lebt in Romaniwka, einem Dorf in der Nähe einer Brücke, die nach Kiew führt. Er wollte nicht weg, obwohl sein Dorf ein Stützpunkt für die ukrainische Armee geworden war. Er war bereit, bis zum Ende zu kämpfen. Das Problem mit den Evakuierungen ist, dass es viele ältere Menschen gibt, die abgeschieden leben und nicht wegkönnen. In Irpin sagten viele von ihnen, dass sie lieber bleiben wollen. Sie seien zu alt, um sich woanders ein Leben aufzubauen. Lieber würden sie dort sterben.
Ein Soldat hilft Zivilisten in Irpin – 5. Mai 2022
Gibt es Augenblicke, in denen du dir denkst: "Ich habe genug."?
Wenn du in einem Kriegsgebiet bist, arbeitest du sieben Tage die Woche. Du schläfst und isst sehr wenig. Du bist gestresst von deinen ganzen Aufgaben und hast ständig Angst, dass irgendwas passiert.
Ich arbeite für verschiedene Medienorganisationen und muss mit den ganzen Anfragen und Erwartungen umgehen. Nach vier oder fünf Wochen muss ich wieder nach Hause. Dann kann ich einfach nicht mehr.
Ich fühle mich der Stadt nicht besonders verbunden und kann im Gegensatz zu den Menschen aus Irpin eine emotionale Distanz bewahren. Wenn du dann aber wieder nach Hause kommst, wird es schwer. Diese Bilder bleiben in deine Gedanken eingebrannt.
Ist es schwer, dann wieder ein normales Leben zu führen?
Nachdem ich wieder zu Hause angekommen bin, bin ich quasi tot. Ich muss mich erst akklimatisieren und kann nicht viele Menschen sehen. Ich habe einen Therapeuten in Frankreich. Ich habe auch schon eine Therapie gemacht, bevor ich Kriegsjournalist wurde, aber jetzt hilft sie mir wirklich, damit umzugehen. Meiner Partnerin kann ich nicht alles erzählen, das ist schlimm für sie.
Ich habe auch Schuldgefühle, dass ich meiner Familie diesen ganzen Stress zumute. Meine Eltern haben immer Angst. Social Media hilft, mit den wichtigsten Menschen in meinem Leben in Kontakt zu bleiben. Ich schalte nicht komplett ab, aber es ist mein Job. Ich weiß, dass alle emotional involviert sind.
Wird es mit der Zeit leichter?
Anfangs kam ich mental nicht mehr aus dem Kriegsgebiet weg. Ich war wütend, die Welt um mich herum so entspannt zu sehen, während da, wo ich gerade herkam, ein Konflikt wütete. Ich fand das ungerecht. Mit der Zeit hat sich meine Perspektive aber geändert. Wir leben vielleicht alle auf demselben Planeten, aber nicht in der gleichen Welt. Man kann Leute nicht vorhalten, dass sie ihr Leben leben, während 1.000 Kilometer entfernt ein Krieg tobt. Deswegen kehre ich zurück zu meiner alten Routine, gehe spazieren und befreie meine Gedanken.
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