Carlos Perez ist im vom Bürgerkrieg gezeichneten Guatemala aufgewachsen und führte dort in seiner Jungendzeit ein Doppelleben als Mitglied von Calle 18, der Konkurrenzgang von Mara Salvatrucha (MS-13). „Das waren gewalttätige und kriminelle Zeiten, die ich gottseidank hinter mir lassen konnte”, sagt er über seine Vergangenheit. Nach dem Tod seiner Mutter ist Carlos mit 21 Jahren nach Wien gekommen, wo er sich nicht nur zum ersten Mal wieder richtig sicher fühlen, sondern auch ein Studium an der Akademie der bildenden Künste abschließen konnte. In seinen Bildern verarbeitet er heute das Erlebte aus seiner Jugend in Guatemala.
Carlos hat seine Werke bereits in China, Guatemala, Brasilien, Südkorea, Berlin und Köln ausgestellt. Diesen Mittwoch beginnt seine Ausstellung „Manifesto Sechs” im Wiener Kunstkanal, wo er gemeinsam mit jungen, aufstrebenden Künstlern eine Auswahl seiner Bilder präsentiert. Ich habe Carlos in seinem Atelier in Wien besucht und mit ihm über seine Vergangenheit und künstlerischen Einflüsse gesprochen.
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VICE: Nervt es dich, andauernd über deine Vergangenheit zu sprechen?
Carlos Perez: Grundsätzlich versuche ich es zu vermeiden, weil es mir ab und zu einfach unangenehm ist. Andererseits ist es wichtig, offen darüber zu sprechen, damit die Leute meine Kunst ein wenig besser verstehen können. Ich fürchte mich manchmal davor, dass man mich gerade wegen meiner Gang-Vergangenheit als bösen Menschen abstempelt, aber zum Glück steht für die meisten die Kunst im Vordergrund. Die Leute sind größtenteils offen genug, um mit meiner Vergangenheit klar zu kommen und mir kommt auch vor, dass sie meine Kunst mit diesem Wissen mehr schätzen. Meine Bilder funktionieren in diesem Sinne wie eine Brücke. Eine Brücke vom Jetzt zu meinem vergangenen Leben in Guatemala.
Wie war dein Leben in Guatemala?
Schwierig zu beschreiben. Man müsste es selbst erlebt haben, um zu begreifen, wie gefährlich es war. Ich liebe die Menschen dort und ich liebe die Stadt. Aber genau das tut auch weh. Du musst dir vorstellen, dass ich mein ganzes Leben in Guatemala von Gewalt umgeben war und mit dieser Gewalt aufgewachsen bin. Gewalt hat so sehr zu meinem Leben gehört, dass es für mich völlig normal war, sie in meinem Alltag zu erleben. Ich war dort mit Leuten unterwegs, die teilweise schon 12 Mal im Gefängnis waren—und zwar nicht nur für Kleinigkeiten wie Diebstahl. Mir ist erst später bewusst geworden, wie abnormal das eigentlich ist.
Hast du noch Kontakt zu Menschen aus deiner alten Heimat?
Die meisten Leute, die ich in Guatemala um mich hatte, sind heute tot. Sie wurden erschossen, teilweise sogar von Polizisten. So etwas ist natürlich furchtbar. Ich würde behaupten, dass du als Gangmitglied in Guatemala nicht länger als 3 bis 4 Jahre überlebst, weil du jeden Tag leicht in ziemlich große Schwierigkeiten gerätst. Durch das spezielle Auftreten ist man darüber hinaus sofort als Gangmitglied erkennbar. Man trägt bestimmte Farben, Kleidung, Schuhe, hat eine bestimmte Frisur oder Tattoos.
Mein Gangleben hat mich so stark geprägt, dass ich in Wien nicht mit dem Rücken zum Eingang im Kaffeehaus sitzen konnte. Aus Angst, es könnte zu einer Schießerei kommen.
Denkst du oft daran zurück?
Ich selbst war 7 oder 8 Jahre lang Teil der Gang, was mich sicher verändert hat. Als ich frisch nach Wien gekommen bin, konnte ich im Kaffeehaus zum Beispiel nie mit dem Rücken zum Eingang sitzen, weil ich im Unterbewusstsein Angst um meine Sicherheit hatte. Ich wollte im Falle, dass jemand mit einer Waffe hereinstürmt und zum Schießen beginnt, einen Überblick behalten und quasi vorbereitet sein. In Guatemala ist nicht selten genau so etwas passiert. Dass ich mich heute halbwegs sicher fühlen kann, habe ich einem langen Verarbeitungsprozess zu verdanken. Die Leute, die ich in meinen jetzt fast 13 Jahren in Wien kennenlernen konnte, haben mir sehr dabei geholfen. Ich weiß noch, dass ich anfangs hier auf der Straße ziemlich aggressiv war, weil ich es von Guatemala nicht anders gewohnt war. Wie gesagt: ich bin mit Aggressivität um mich herum aufgewachsen und habe, bis ich nach Österreich kam, mein Leben lang mit Gewalt verbracht. Jeden Tag, jede Nacht. In Wien fühle ich mich gerade wegen diesem Sicherheitsgefühl manchmal auch sehr verwundbar. In Guatemala habe ich mir so etwas nicht leisten dürfen, aber hier kann ich es sein.
Was hat dich in Guatemala am meisten geprägt?
Meine Mutter. Sie hat immer für mich gekämpft, sie hat mich immer unterstützt. Sie wusste allerdings nichts von meinem zweiten Leben als Gangmitglied. Als sie aber mit Krebs diagnostiziert wurde und es klar war, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, hat es bei mir geklickt. Ich wusste, dass ich aus der Szene aussteigen und irgendetwas Besseres mit meinem Leben anfangen musste. Ich wollte ihr beweisen, dass alles, was sie für mich getan hat, nicht umsonst war. Ich wollte auf diese Weise danke sagen und ihr etwas zurückgeben.
Warum bist du überhaupt Gangmitglied geworden?
Aus einem Schutzbedürfnis heraus. Wenn man mit so vielen Gangs in seinem Umfeld aufwächst, ist es ganz normal, wenn man selbst irgendwo Mitglied wird. Ich habe als kleines Kind die unzähligen Male miterleben müssen, wie mein Vater meine Mutter nicht nur verprügelt hat, sondern wirklich umbringen wollte. Dagegen wollte ich etwas unternehmen. Ich hatte mir vorgenommen, das nicht zuzulassen. Auf der Straße war es ähnlich. Ich wollte nicht nur meine Familie schützen, sondern auch anderen Menschen helfen. So haben sich mit der Zeit immer mehr Leute mit derselben Einstellung um mich herum versammelt und aus diesem anfänglichen Schutzbedürfnis ist eine Gang entstanden. Ich habe versucht, etwas Gutes zu tun. Aber am Ende hat dann eine dermaßen große Rivalität zwischen den verschiedenen Gangs eingesetzt, dass ich irgendwann nur mehr von Gewalt umgeben war. Dazu kommt, dass manche aus den falschen Gründen Mitglied geworden sind. Die fanden das einfach nur cool und wussten nicht, welche Ideologie dahinter steckte. Einige haben sich gleich mal ein Tattoo mit dem Gangnamen ins Gesicht stechen lassen, as auf der Straße so viel bedeutet wie „Schieß mir in den Kopf”. Das waren 12- oder 13-jährige Kinder.
War es schwer auszusteigen?
Ja, total. Es ist wie eine Sucht, das kann man sich kaum vorstellen. Es war wahnsinnig schwer, auf dieses innige Gemeinschaftsgefühl in der Gang gepaart mit den ständigen Adrenalin-Kicks freiwillig zu verzichten. Dazu kommt die ganze Aufmerksamkeit. Leute finden dich cool und respektieren dich. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass das kein gutes Gefühl ist.
Bevor meine Mutter gestorben ist, habe ich die Gang aber endgültig verlassen. Das war auch gut so, weil ich glaube, dass ich heute ansonsten wohl nicht mehr am Leben sein würde. Ich habe mich dann an der Universität für Bildende Künste in Wien beworben und wurde sofort aufgenommen. Das war Wahnsinn! Ich habe nach zwei Jahren sogar ein Stipendium erhalten, mit dem ich mir mein Studium finanzieren konnte.
Fließt deine Vergangenheit in irgendeiner Form in dein künstlerisches Arbeiten ein?
Die Kunst ist für mich wie eine Art von Therapie. Ich bin bis heute unglaublich dankbar, dass ich quasi diese Methode zur Verarbeitung gefunden habe. Ich glaube auch, ohne die Kunst hätte ich es nicht geschafft, aus der Gangszene in Guatemala auszusteigen. Oft träume ich, dass mich jemand umbringt, und mit dieser Emotion male ich auch meine Bilder. Ich sehe meine Arbeiten als eine Art Puzzle. Im übertragenen Sinne reflektiert jedes Bild auf irgendeine Art einen kleinen Teil meiner Vergangenheit und die Gesamtheit aller Bilder bin ich selbst. Meine Bilder stellen meine Lebensgeschichte dar.
Bist du jemals in deine Heimat zurückgereist oder ist dieses Kapitel komplett abgeschlossen?
Ich bin fast jedes Jahr in Guatemala und muss sagen, dass ich mich inzwischen sogar dort wieder relativ sicher fühle. Das liegt vor allem aber daran, dass es die meisten Leute, mit denen ich damals zu tun hatte, einfach nicht mehr gibt. Ich habe dort aber weiterhin gute Freunde, die ein wenig auf mich aufpassen. Ich weiß außerdem, wo ich hingehen kann und wo ich besser nicht hingehen sollte. Wenn man soviel wie ich mit Gefahr zu tun hatte, weiß man auch, wie sie zu vermeiden ist.
Hast du so etwas wie eine Philosophie bei deiner künstlerischen Arbeit?
Wahrscheinlich will ich auf eine verdrehte Art vermitteln, dass die Realität viel rauer ist als die plakative Welt auf meinen Bildern. Ich möchte keine kalten Bilder malen, sondern ich möchte ein Gefühl rüberbringen. Als Betrachter soll man gleich etwas spüren können. Das jeweilige Bild soll dir eine Geschichte erzählen. Es ist wichtig für mich, dass ich mithilfe meiner Kunst Emotionen und Ideen auf andere Menschen übertragen kann. Ich wurde oft gefragt, ob meine Kunst politisch sei. Nein, ist sie nicht. Ich bin Künstler, ich bringe meine Meinung auf die Leinwand und jeder kann sie interpretieren, wie er möchte. Das ist auch der Grund, warum ich meinen Werken nur ungern einen Titel gebe. Ein Titel kann manchmal gut sein, aber meistens reduzierst du damit auch das Interpretationsvermögen der Betrachter.
Gibt es etwas, was du jungen Leuten mitgeben kannst?
Egal, wie verzweifelt deine Situation erscheint, es gibt immer eine gute Lösung. Jeder wird seinen eigenen Weg finden. Meiner war die Kunst, und ich bin insofern froh über meine Vergangenheit, als dass sie mich menschlich gemacht hat.
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