Wie Menschen mit Demenz freiere Sexualität erleben – und welche Schwierigkeiten das mit sich zieht
Symbolfoto: Aris Sfakianakis | Unsplash

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Wie Menschen mit Demenz freiere Sexualität erleben – und welche Schwierigkeiten das mit sich zieht

Über Konsens, Affären, Selbstbefriedigung und sexuelle Übergriffe von Menschen, die an Demenz erkrankt sind.

Es gibt immer wieder Filme, Artikel, Bücher darüber, aber trotzdem scheint es viele auch heute noch zu überraschen: Auch alte Menschen haben Lust auf Sexualität. Aber alt zu sein ist in dieser Gesellschaft eben nicht sexy. Noch weniger, wenn man nicht nur körperliche, sondern auch psychische Beeinträchtigungen aufweist. Eine davon ist etwa Demenz, eine Erkrankung, bei der man seine geistigen Fähigkeiten Schritt für Schritt verliert, anfängt in seiner eigenen Welt zu leben, Sachen vergisst, und teilweise seine Angehörigen nicht mehr erkennt. Das bedeutet aber nicht, dass Betroffene auch ihren Sexualtrieb verlieren.

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Sexualität sei ein Entwicklungsprozess, der von der Geburt bis zum Tod andauere, erklärt die Pädagogin Christine Gappmaier von der Fachstelle.hautnah im Interview mit VICE. Da Sexualität ein Grundbedürfnis ist, unterscheidet sich nichts zwischen der Sexualität von demenzkranken und gesunden Menschen. Was sich schon unterscheiden kann, ist die Art, wie sie ausgedrückt wird. Je nach Demenzart kommt es zu Beeinträchtigungen in Sprache, Gefühlen, emotionalem Verhalten oder zu Persönlichkeitsveränderung. Was zum Vorschein kommen könne, so Gappmeier, seien meist frühere unterdrückte sexuelle Orientierungen und Verlangen.

Hat jemand seine Homosexualität sein ganzes Leben lang verheimlicht, kann es also sein, dass die betroffene Person ihre sexuelle Orientierung auf einmal frei ausleben will. Auch kommt es vor, dass Menschen, die vor der Erkrankung sexuell gehemmt waren, später sexuell aktiver werden. Die Demenz bewirkt, dass anerzogenes Verhalten und aufgebaute Mauern wegfallen, dass das "wahre Ich" zum Vorschein kommt.

"Ich liebe den Teufel."

Im Laufe der Demenzerkrankung verlieren Betroffene jedoch Einfühlungsvermögen, moralisches Verhalten und die Fähigkeit, Ereignisse zeitlich einordnen zu können. Diese veränderte Wahrnehmung kann, besonders auch im sexuellen Bereich, zu Problemen führen. So ist es zum Beispiel nichts Ungewöhnliches, wenn Männer bei der Intimpflege eine Erektion bekommen, wenn Frauen sich im öffentlichen Raum selbst befriedigen, oder im Altersheim eine neue Liebschaft beginnen, obwohl sie verheiratet sind.

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Für Maria*, Altenpflegerin in einem Wiener Altenheim, ist das alles nichts Neues. Liebschaften zwischen dementen Bewohnern sind normal und werden toleriert, auch wenn zu Hause noch der Partner oder die Partnerin sitzt. Meist fängt die Sexualität zwischen zwei Personen langsam an: mit Händchenhalten und Küssen. Für Maria ist es wichtig, das auch zuzulassen. Denn gerade im Alter, wenn viele Bewohner Partner verloren haben und draußen eigentlich niemand mehr auf sie wartet, sei es wichtig, dass Patienten wieder Nähe spüren können: "Im Alter verliert man auch seinen Freundeskreis – und dann bist du einsam. Es gibt keine Altersgrenze für Sexualität, die meisten trauen sich nur einfach nicht mehr. Bei der Demenz ist das anders. Es ist so, dass man sich jeden Tag aufs Neue kennlernt."

Dadurch, dass man sich "jeden Tag aufs Neue kennenlernt", kann es allerdings auch zu Beziehungs- und Eifersuchtsdramen kommen. Ein Patient vergisst eben zum Beispiel, dass er am Vortag noch mit einer anderen Frau unterwegs war, weil er zu ihr keine emotionale Verbindung aufgebaut hat. Die Frau hingegen hat ihn nicht vergessen, weil für sie Emotionen im Spiel waren. Es mag absurd klingen: Etwa weil der Mann sie an ihren Bruder erinnert hat.

So geht es einer von Marias Bewohnerinnen: Die Frau, etwas über 50, mag einen 84-Jährigen, da er sie an ihren Bruder erinnert. Trotz der eigentlich aus einer Geschwisterliebe resultierenden Zuneigung gegenüber dem Mann, möchte sie gerne mit ihm schlafen. Allerdings sind Küsse das Einzige, was sie von ihm bekommt. "Ich liebe den Teufel – es geht einfach nicht weiter", sagt sie dann immer.

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Zwar werden viele Dinge in der Demenz vergessen, emotionale Erlebnisse und Beziehungen bleiben allerdings im Gedächtnis – auch bei Schwerstdementen oder Menschen, die im Sterben liegen.


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Die meisten Angehörigen von Marias Bewohnern reagieren verständnisvoll auf die Liebschaften im Heim. Es ist allerdings nicht immer einfach: Von Zeit zu Zeit kann es passieren, dass Angehörige zu Besuch kommen und ihre Partner mitten im wilden Techtelmechtel sehen. "Einmal kam eine Ehefrau zu Besuch und als sie in das Zimmer ihres Mannes kam, sah sie, wie eine Bewohnerin auf ihrem Mann lag und sie sich küssten. Danach musste ich sie erst einmal beruhigen", erzählt Maria.

Eine weitere Schwierigkeit an Liebschaften im Altersheimen ist, herauszufinden, ob das Interesse beidseitig ist und wenn nicht, zu verhindern, dass es zu Übergriffen unter Bewohnern kommt. Wenn zwei sich streiten, heißt es nicht, dass sie sich nicht mögen und wenn einer nichts sagt, heißt es nicht, dass er es will. Die Frage nach Konsens hört auch im Alter nicht auf, nur müssen dieses Mal die Pflegekräfte versuchen zu entscheiden, was ein Mensch will und was nicht.

Allerdings sei das bei Demenzpatienten in der Regal einfacher als bei anderen Erkrankungen, erklärt Maria: "Die wehren dann ab und sind oft kritischer als alle anderen." Die Frage, ob Demenzkranke überhaupt noch einen freien Willen haben, wurde 2015 vom deutschen Bundesgerichtshof mit "ja" beantwortet. Dieselbe Meinung teilt Maria: "Wir müssen Übergriffe verhindern, aber wenn die andere Person damit einverstanden ist, steht es uns nicht zu, zu sagen, was die Person für sich entscheiden soll."

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Die Frage nach dem Konsens hört auch im Alter nicht auf.

Maßnahmen, um Übergriffe an Bewohnern – aber auch am Pflegepersonal – vorzubeugen, können beispielsweise Pornohefte, Massagen, Besuche bei Prostituierten oder Sexualbegleitungen sein. Sexualbegleitungen können von Angehörigen oder vom Pflegepersonal engagiert werden. Sie besuchen das Altenheim und verbringen – nach einem Vorgespräch, um Sympathien abzuklären – eine Stunde mit den Bewohnern alleine im Zimmer. Das Pflegepersonal wartet währenddessen draußen. Die meisten Heime haben Gästezimmer, in denen solche Treffen ablaufen können.

Im Mittelpunkt steht dabei nicht der Sexakt, sondern ein Nähegefühl: "Ich habe einmal eine Sexualbegleitung für einen älteren Herren organisiert. Die Begleitung hat sich dann nackt neben ihn gelegt, ihn berührt und bei der Selbstbefriedigung geholfen", erzählt Tom*, ein Kollege Marias. Ob eine eine Sexualbegleitung engagiert wird oder nicht, wird im Team ausdiskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei der Bewohner: Biografiearbeit ist essentiell, um das aktuelle Verhalten zu verstehen und um herausfinden zu können, was die richtige Entscheidung ist.

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Auch für Demenzkranke, die zu Hause von Angehörigen – meist dem Partner oder den Kindern – gepflegt werden, kann das eine Lösung für hypersexuelle Erkrankte sein. Sexuellen Übergriffen, oder unangenehmen Situationen mit den eigenen Kindern, etwa einer Erektion während der durch die Kinder durchgeführten Intimwäsche, können so vorgebeugt werden.

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Die Pädagogin Christine Gappmaier erzählt von einem Fallbeispiel, in dem der Mann an Demenz erkrankte und nur am Wochenende bei seiner Frau zu Hause war. Unter der Woche wurde er in einer Tagesbetreuung untergebracht. Für seine Frau war die Krankheit ein psychische Belastung: Ihre Libido ging verloren und sie konnte keinen Körperkontakt mehr ertragen. Der sexuelle Trieb ihres Mannes vergrößerte sich allerdings und er versuchte immer wieder, Sex mit ihr zu haben. Durch die stetigen Grenzüberschreitungen erhöhte sich der psychische Druck ihrerseits. Gelöst wurde das Problem mit Pornoheften, Masturbation und stimulierenden Massagen.

Wichtig ist, über die Probleme zu reden und sie zu erkennen. Andernfalls schaukelt sich die unbefriedigte Lust hoch und mündet oftmals in aggressivem Verhalten. Vor allem Kinder von Betroffenen tun sich oft schwer, darüber zu sprechen. Anna*, Ärztin im Altenheim, schildert, dass Kinder oftmals nicht wollen, dass ihre Eltern jemals sexuell aktiv sind. "Erwachsene Menschen kommen nicht auf die Idee, dass ihre Eltern überhaupt jemals sexuelles Verlangen haben. Darüber will niemand sprechen. Es will sich niemand vorstellen, obwohl jeder weiß, dass es normal ist. Und schon gar nicht, wenn derjenige krank ist."

Meistens reicht schon eine Umarmung.

Dass Sexualität allerdings dem Fortschreiten von Demenz entgegenwirken kann, wird dabei oft nicht berücksichtigt. Demenz und Depressionen stehen in einer Wechselwirkung: Zumeist tritt zuerst die Depression auf, anschließend die Demenz. Das vermehrte Austreten der Glückshormone kann bewirken, dass kognitive Fähigkeiten länger erhalten bleiben – auch wenn die Krankheit Demenz schon diagnostiziert ist.

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Meistens reicht für dieses Glücksgefühl auch schon eine Umarmung, oder das Gefühl von Nähe. Maria erzählt, dass Bewohner ruhiger werden, wenn sie sie zum Beispiel umarmt. "Es tut mir nicht weh und die anderen können besser mit den Patienten umgehen. Dass das nicht jedermanns Sache ist, ist mir auch klar. Nicht jeder hält das aus, jeder muss da eine persönliche Grenze ziehen."

Pflegekräfte müssen Kommentare wie "Dich würde ich schon am liebsten bei mir im Bett haben", wüste Beschimpfungen, Beleidigungen und Grapschen aushalten und richtig damit umgehen können. Richtig umgehen, das heißt nicht abwertend, sondern spiegelnd reagieren. Dieses gespiegelte Verhalten (genannt Validation) versucht in die Wirklichkeit des Demenzkranken einzudringen, diese für voll zu nehmen und nicht zu widersprechen. Dass das schwierig ist, scheint offensichtlich, dass das nicht in jedem Altenheim vorkommt, ebenso.

Der Umgang mit Sexualität in Bezug auf Demenz hängt stark von der Einstellung der Pflegekräfte, des Hauses, aber auch von persönlichen Erfahrungen ab. So sei es für viele schwer, Sexualität dort zu sehen, wo sie nicht erwartet wird, berichtet Maria. Vor allem dann, wenn das eigene Sexleben deprimierender sei, als das der Demenzkranken, man eine Scheidung hinter sich, oder den Partner verloren habe. "Das darf natürlich keinen Einfluss auf das Verhalten gegenüber unseren Bewohnern haben, aber wir sind auch nur Menschen".

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In die Realität der anderen Person einzudringen versucht auch Achim*, der seine Frau pflegt, die an Alzheimer im 1. Stadium erkrankt ist. "Als Partner muss man versuchen, in die Realität der Betroffenen einzudringen. Man kann nicht sagen 'reiß dich zusammen'. Wenn der Demenzkranke eine Stimmung hat, muss man versuchen diese Stimmung zu bestätigen." Mit dem Eindringen in die Realität der Kranken gebe der pflegende Angehörige allerdings auch etwas seiner bisherigen Realität auf, erklärt Achim. Und es wird mehr, je weiter die Krankheit fortschreitet.

Alzheimer ist die am häufigsten vorkommende Form von Demenz: Zirka 60 Prozent der Demenzerkrankten leiden an ihr. Die erste Stufe wird vor allem durch Vergesslichkeit dominiert. Betroffene werden unsicherer, es kann zu Antriebslosigkeit, Rückzug und Scham kommen. Es gibt Paare, die sich in dieser Phase darüber austauschen, wie es im Verlauf der Krankheit sexuell weitergehen soll: Was, wenn die Krankheit im Endstadium sein wird, der oder die Betroffene in ein Altersheim muss und dort vielleicht Liebschaften mit andern Bewohnern beginnt? Soll eine Sexualbegleitung engagiert werden? Darf die Person, die nicht betroffen ist, andere sexuelle Kontakte pflegen?

"Es geht um das gemeinsame gute Leben. Dieses gemeinsame gute Leben schließt auch ein gemeinsames gutes Sexualleben mit ein."

Am Anfang hatte Achim, wie viele andere Angehörige auch, beim Thema Sexualität das Gefühl, seine Partnerin zu benutzen. Denn die (bevorstehende) Veränderung hat zur Folge, dass Angehörige oft nicht mehr einschätzen können, inwiefern erkrankte Partner die Gesamtzusammenhänge noch verstehen können, auch in Bezug auf Sex und die Art und Weise, wie man Sex ausleben möchte.

Inzwischen haben er und seine Frau ein morgendliches Ritual: Sie kuscheln im Bett und Achim umarmt sie. Danach stehen sie auf und umarmen sich nochmals. Danach fängt der Tag an. "Das ist nicht Sex, aber trotzdem Sexualität. Wir sind ein Paar wie eh und je – mit Einschränkungen beim Sex, aber nicht bei der Sexualität."

Es gab eine Zeit, in der Achim zu Prostituierten ging, ohne es seiner Frau zu erzählen. Sie erkrankte an Darmkrebs, wurde daraufhin inkontinent. Sämtliche Sexualität verschwand aus ihrer Beziehung. Seine Psychologin und eine Sexologin wiesen ihn darauf hin, dass er Sex auch kaufen könne. Als Achim diesen Vorschlag seiner Frau erzählte, reagierte sie nicht darauf. Mittlerweile geht er nicht mehr zu Prostituierten.

Das Paar hat sich wieder angenähert und versucht, eine Lösung zu finden, die für beide zufriedenstellend ist. "Ich habe das Gefühl, dass meine Frau mir seit ihrer Erkrankung genauer sagt, was sie eigentlich will. Es geht um das gemeinsame gute Leben. Dieses gemeinsame gute Leben schließt auch ein gemeinsames gutes Sexualleben mit ein."

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*Alle Namen wurden geändert