Stefan leidet am Klinefelter-Syndrom, was sich u.a. durch einen kleinen Hoden manifestiert
Stefan Simon | Alle Fotos: Eva Luise Hoppe

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Menschen

"Ist Ihnen mal aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht die normale Größe haben?"

Das sagte die Ärztin bei meiner Musterung. Diagnose: Klinefelter-Syndrom. Meine Chromosomen sind nicht eindeutig männlich. Seit ich das weiß, ist alles anders.

Ich sitze auf einem Stuhl in einem Flur. Alleine. Die Wände haben einen bräunlichen Ton, hier wurde zu lange nicht mehr renoviert. Elf Jahre ist dieser Tag nun her.

Eine Tür öffnet sich. "Herr Simon, bitte", ruft ein Mann. Ich folge ihm in ein Krankenzimmer, in dem eine Frau mittleren Alters wartet, die Ärztin. "Bitte machen Sie sich untenherum frei", sagt sie. Ich befolge ihre Anweisung. Sie trägt einen weißen Kittel, eine Brille, ihre blonden Haare hat sie zusammengesteckt. Sie verzieht keine Miene. Sie bückt sich, betrachtet meinen Intimbereich und richtet sich wieder auf.

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Sie schaut mich mit einem strengen Blick an. Dann sagt sie zu mir: "Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht die normale Größe haben?"

All das passiert während meiner Musterung. Ich hatte mich immer gefragt, warum sich Ärzte bei dieser Prozedur den Intimbereich anschauen. Jetzt weiß ich warum.

"Das Klinefelter-Syndrom ist die häufigste Chromosomenabweichung des Mannes"

Damals war ich 20 Jahre alt. Seit dem Tag meiner Musterung hat sich mein Leben verändert. Heute bin ich 31.

Von Geburt an habe ich eine Chromosomenstörung. Ich habe den Chromosomensatz 47, XXY. Erkannt wurde die Chromosomenstörung erstmals 1942 von dem US-amerikanischen Arzt Dr. Harry Klinefelter. Die Ursache dafür wurde aber erst 1959 entdeckt: Schuld ist ein zusätzliches X-Chromosom in den Zellkernen.


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Grundsätzlich unterscheidet sich das Geschlecht eines Menschen danach, welche Chromosomen er von seinen Eltern erhält. Männliche Spermien enthalten 23 Chromosomen, eines davon ist ein X- oder ein Y-Chromosom. Die weibliche Eizelle hat ebenso 23 Chromosomen, davon ein X-Chromosom. Klinefelter-Männer haben ein X-Chromosom mehr, was auf eine Störung bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen der Eltern zurückgeht. Damit bin ich nicht alleine, etwa jeder 500. Mann hat das Syndrom. In Deutschland sind rund 80.000 Männer betroffen. Aber nur etwa zehn bis 15 Prozent wissen überhaupt davon – lediglich rund 5.000 Fälle sind in Deutschland bestätigt. Und das ist erstaunlich, denn das XXY-Syndrom ist die häufigste Chromosomenabweichung des Mannes und der häufigste Grund für Unfruchtbarkeit. Weil jedoch die Symptome auf den ersten Blick nicht zu sehen sind, ist das XXY-Syndrom relativ unbekannt.

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"Ein Leben lang erhalte ich alle zwölf Wochen 1.000 Milligramm Testosteron"

November 2017. Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl umher und tippe mit meinem linken Fuß im Sekundentakt auf den Boden. In meinen Händen halte ich eine Tageszeitung, doch ich habe Probleme, mich zu konzentrieren. "Herr Simon", ruft eine junge Frau. Ich blicke auf, lege die Zeitung auf einen Glastisch und folge der Stimme in einen kleinen Raum. "Sie wissen ja, was Sie machen müssen?"

"Ja", antworte ich und öffne meine Hose. Mein T-Shirt ziehe ich ein Stück nach oben. "Nicht erschrecken, es wird etwas pieksen", sagt die Arzthelferin zu mir. Die Spritze enthält 1.000 Milligramm Testosteron. Ich erhalte sie alle zwölf Wochen, ein Leben lang.

Nach zwanzig Sekunden hat sich das Testosteron, das wie Honig aussieht, seinen Weg durch meinen Körper gebahnt. Die Spritze wird immer oberhalb des Hinterns in den Muskel injiziert. Zwanzig Sekunden steckt sie in meinem Muskel und mit jeder Sekunde wird der Schmerz stärker. Er fühlt sich an wie ein starker Muskelkater. Ich ziehe mich an, verabschiede mich und laufe leicht humpelnd aus der Praxis. Keine zwei Minuten später wirkt das Testosteron. Es ballert fast wie eine Droge.

Die Wirkung zeigt sich schnell: Ich wippe nicht mehr mit meinem Bein, wenn ich an der Fußgängerampel stehe. Im Supermarkt haste ich nicht mehr durch die Gänge oder stehe ungeduldig an der Kasse und zähle die Sekunden, bis ich wieder draußen bin. Ich will nicht sofort wieder nach Hause, um Netflix zu schauen. Stattdessen laufe ich lieber durch die Straßen, lege mich auf eine Wiese und genieße die Sonne.

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Weil das XXY-Syndrom nicht heilbar ist, können nur die Symptome bekämpft werden. Zu diesen möglichen Symptomen zählen Testosteronmangel, eine verzögernde oder ausbleibende Pubertät, Brustentwicklung, kleine Hoden und Zeugungsunfähigkeit. Potenzielle Folgen sind aber auch Hochwuchs, Lernprobleme, Sprachentwicklungsverzögerungen, Osteoporose oder eigenbrötlerisches Verhalten. Sobald das Hormon in meinen Körper gelangt, schießt mein Testosteronspiegel hoch. Doch innerhalb der nächsten zwölf Wochen geht der Wert immer weiter hinunter. Dann rutsche ich wieder nervös auf meinem Stuhl umher oder werde pampig, wenn die Verkäuferin beim Bäcker nicht "Guten Tag" sagt. Ich lebe in einem Wechselbad der Gefühle, alle zwölf Wochen, ein Leben lang.

Mit der Pubertät fing ich an, mich zu verändern

In der Pubertät dachte ich nicht daran, dass mit mir irgendwas nicht stimmt. Ich merkte damals schon, dass ich mich anders entwickle als meine Freunde. Ich sah jünger aus, hatte weniger Haarwuchs, keinen richtigen Stimmbruch. In der Schule kam ich irgendwann nicht mehr mit. Ich sah lieber aus dem Fenster, träumte vor mich hin oder kritzelte den Tisch voll. Und meine Eltern pampte ich fast täglich an. Meine Freunde im Fußballverein fingen an, sich über meine fehlenden "Fußballerwaden" lustig zu machen. Ja klar, ich wunderte mich auch, warum ich keine muskulöseren Beine hatte. Klingt alles nach den Problemen eines typischen Teenagers in der Pubertät. Dass da mehr war, war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.

Wie kann es sein, dass erst bei der Bundeswehr-Musterung auffällt, dass meine Hoden kleiner sind als die gleichaltriger Jungs? Mit 15 war ich bei einem Urologen. Er untersuchte meinen Intimbereich und ihm fiel nichts auf. Ein Arzt, dessen Spezialgebiet auch die Behandlung von Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane umfassen sollte. Mit 16 verließ ich die Schule mit einem mittelmäßigen Realschulabschluss. Ich fühlte mich nicht bereit zu arbeiten, aber probierte Verschiedenes aus: ein Praktikum im Hotel, ein weiteres bei einer Werbefirma. Dann bewarb ich mich für eine Ausbildung zum Mechatroniker. Das passte alles nicht. Irgendwie spürte ich immer, dass mir noch ein paar Jahre fehlen. Ich war unreifer als die anderen. Zu den Symptomen von Klinefelter gehört auch, dass die männliche Reife mit mehreren Jahren Verzögerung einsetzt.

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Ich schäme mich im Sommer, wenn ich nur eine Badehose trage

Mit 18 hatte ich immer noch kaum Bartwuchs. "Das kam bei mir auch erst später", hat mein Vater damals gesagt. Ein Freund meinte, ich solle froh sein. Es nerve nämlich, sich täglich zu rasieren. Aber irgendwann will man sich ja wie ein Mann fühlen. Dann kam der Tag, an dem sich auf einmal körperlich etwas veränderte. Als ich mit meiner damaligen Freundin im Badezimmer stand, um zu duschen, zog ich mein T-Shirt aus. Sie starrte mich an. "Was ist los?", fragte ich. "Du hast zugenommen", antwortete sie flapsig. Zugenommen? Das konnte nicht sein.

Ich stellte mich vor den Spiegel und mir fiel auf, dass sich an meinen Hüften Fettröllchen gebildet hatten. Ich wunderte mich, aber dachte keine Sekunde darüber nach, dass das irgendwie unnormal sein könnte. Diese Hüften habe ich heute noch immer, aber ich bin nicht dick. Die Hüften entstehen durch das zusätzliche X-Chromosom. Ich habe einen erhöhten Fettanteil – so wie jener von Frauen im Durchschnitt eben höher ist als der von Männern. "Frauenhüfte" nannte das einer meiner Ärzte einmal. Sie ist nicht besonders ausgeprägt, aber sie war der Anfang. Sie hat etwas mit mir verändert. Seitdem schäme ich mich im Sommer am See oder im Freibad, wenn ich nur meine Badehose anhabe. Ich denke immer, dass die Leute mich anstarren.

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Damals, als ich die Pölsterchen im Bad entdeckte, dachte ich mir noch nichts dabei. Ich gönnte mir einen vierwöchigen Trip nach Kanada und fing anschließend mit meiner Ausbildung an. Dann kam die Einladung zur Musterung.

Wie ich von dem Syndrom erfahren habe

Tja, wie reagiert ein 20-Jähriger also auf die Frage, ob einem selbst nicht aufgefallen sei, dass die eigenen Hoden nicht die normale Größe haben? Ich war verwirrt und geschockt. Ich verließ dieses Krankenzimmer, lief den Flur entlang, bog nach rechts ab, wieder nach rechts, lief geradeaus an ein paar Büros vorbei. Dann stand ich im Wartezimmer, in dem die ganzen anderen Jungs auf ihre Musterung warteten. Mir ging damals nur eine Frage durch den Kopf: Bin ich anders? Ich grüßte einen alten Schulkameraden, lief zum Ausgang und schaute mir beim Verlassen der alten Kaserne in Darmstadt das Gemälde des damaligen Bundespräsidenten, Horst Köhler, an. Er lächelte.

Kleine Hoden, weibliche Hüfte, Lernschwierigkeiten, Testosteronmangel, verzögerte Pubertät. Um herauszufinden, wie das alles zusammenhängt, ging ich zu einem Urologen. Ich wusste damals nicht, dass es der Beginn einer Tortur werden würde.

"Hatten Sie in der Schule Schwierigkeiten, mitzukommen?"

"Ja, aber nicht in allen Fächern."

"Fühlen Sie sich oft schlapp?"

"Puuh, ja, doch, schon."

"Wann begann Ihre Pubertät?"

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"Weiß nicht, so mit 14 oder 15 schätze ich"

"Haben Sie oft Lust auf Sex?"

"Ja."

Wie bereits gesagt, nicht alle Symptome treffen zu. Anschließend untersuchte mich der Urologe auf körperliche Abweichungen. Bin ich hochgewachsen, habe ich überdurchschnittlich lange Beine? Beides trifft nicht zu. Dann noch ein Blick auf die Körperbehaarung sowie die Brustdrüsen. Und zum krönenden Abschluss: Hose runter, Abtasten und Messen der Hoden. "Ich benötige eine Spermaprobe von Ihnen", sagte er zu mir. Kein Problem. Eine Woche später saß ich wieder in der Praxis.

Der Arzt sagte zu mir vier Worte. Vier Worte wie ein Schlag ins Gesicht: "Sie haben keine Spermien. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber auf dem natürlichen Weg ist eine Zeugung unmöglich."

Ich werde niemals ein eigenes Kind haben? Es dauerte sehr lange, um mit dem Gedanken klarzukommen. Warum ausgerechnet ich?

Mein Arzt überwies mich an die Urologie am Uniklinikum Frankfurt.

"Guten Tag, setzen Sie sich doch", sagte die Ärztin der Klinik zu mir. "Ich habe Ihre Krankenakte vom Kollegen aus Offenbach vorliegen. Erzählen Sie mir doch bitte, wann und wo die kleinen Hoden bei Ihnen festgestellt wurden."

Ich erzählte ihr von der Musterung. Sie stellte mir die gleichen Fragen wie der Offenbacher Urologe. Ich spürte in mir eine immer größer werdende Leere.

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"Hatten Sie in der Schule Schwierigkeiten, mitzukommen?"

"Fühlen Sie sich oft schlapp?"

"Wann begann Ihre Pubertät?"

Dann sollte ich mich hinstellen, mein T-Shirt ausziehen und meine Hose. Sie tastete meine Hoden ab. "Ich habe eine Vermutung, doch ich benötige zunächst das Ergebnis Ihres Spermas." Und dann fügte sie hinzu: "Aber ich schicke jetzt lieber einen Kollegen zu Ihnen, dessen Spezialgebiet die Erkrankungen männlicher Geschlechtsorgane ist."

Also stand ich da, in Boxershorts, mit einem Selbstbewusstsein, das kaum über den Boden reichte. Die Tränen liefen langsam meine Wangen hinunter. Der Arzt kam herein, schaute mich an und wirkte fast euphorisiert.

"Stellen Sie sich doch bitte mal auf diesen Stuhl und breiten Sie Ihre Arme aus", sagte er. Ich tat wie gewünscht. Er ist schließlich ein Experte in seinem Fachgebiet. Ob der Stuhl etwas mit der Behandlung zu tun hatte, konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht wissen. Ich wollte endlich erfahren, was mit mir nicht stimmt. Er sagte: "Ich habe noch nie jemanden mit Ihrer Figur gesehen. Sie könnten das Klinefelter-Syndrom haben. Die Abweichungen Ihres Körpers und die Größe Ihrer Hoden deuten darauf hin." Aber mit hundertprozentiger Sicherheit konnte er es mir nicht sagen. "Ich würde gerne von Ihrem Körper ein Foto für meine Studenten zu Lehrzwecken machen. Sie müssen das natürlich nicht tun, aber es wäre wichtig für die Ausbildung meiner Studenten."

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Ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich habe zugestimmt. Ich stand auf diesem Stuhl, war mittlerweile beim dritten Arzt, der sich auch noch darüber freute, dass ich anscheinend der erste lebende Beweis eines XXY-Mannes für ihn war. Ich verließ das Uniklinikum und mit jedem Schritt zu meinem Auto wurde die Leere in mir größer. Ich setze mich, griff mit meinen Händen ans Steuer und heulte.

Eine Woche später saß ich wieder in der Klinik vor der Ärztin, die mich zuvor untersucht hatte.

"Wir haben Ihr Sperma untersucht …"

"Ja, ich weiß. Ich habe keine Spermien", fiel ich ihr ins Wort.

Sie erklärte mir, dass ich das Klinefelter-Syndrom haben könnte, und erzählte von den möglichen Symptomen. Ich schweifte ab. Ihre Stimme hörte sich wie ein Rauschen an, mein Magen verzog sich, mir wurde schlecht. Man müsse eine DNA-Analyse vornehmen. Sie schickte mich zum Fachlabor für Abstammungsbegutachtung nach Frankfurt. Dort wurde mir Blut abgenommen. Die entnommenen Blutzellen können unter einem Mikroskop betrachtet und die Anzahl sowie Struktur der Chromosomen analysiert werden. Und so erfuhr ich schließlich, dass ich das Klinefelter-Syndrom habe.

"Die Konsequenz der Diagnose: Ich wollte allen beweisen, dass ein XXY-Mann auch Abi und Studium schaffen kann"

XXY-Männer haben in der Regel nicht nur geringe Testosteron-, sondern auch hohe FSH- und LH-Spiegel. FSH ist mitverantwortlich für die Produktion der Spermien, LH wirkt auf die Produktion von Testosteron. Sind jedoch beide Werte zu hoch und das Testosteron zu niedrig, produzieren die Hoden zu wenige Hormone.

Es war also nicht meine Schuld, dass ich antriebslos war und Lernschwierigkeiten hatte. Diese Erkenntnis löste in mir aus, es allen beweisen zu wollen. Ich wollte zeigen, dass auch ein XXY-Mann Abitur und Studium schaffen kann. Bis ich diesen Antrieb hatte, dauerte es allerdings noch.

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Zunächst musste ich mit dem Gedanken klarkommen, anders zu sein. Ich sah gleichaltrige Männer mit anderen Augen: Haben sie Bartwuchs? Haben sie einen ausgeprägten Adamsapfel? Haben sie stärkeren Haarwuchs an Armen und Beinen?

Ich fühlte mich nicht als Mann. Ich schämte mich sogar, kurze Hosen zu tragen. Ich war mir sicher, dass mich jeder Typ anschaut und denkt: Der ist ja kein Mann.

In den ein bis zwei Jahren nach der Diagnose habe ich meine Gefühle nur selten offenbart. Nicht mal meine Freunde wussten davon. Ich weinte viel, ich fühlte mich krank. Meine Mutter baute mich in dieser Zeit oft auf. "Du hast keine schlimme Krankheit, du bist gesund. Es gibt viele Menschen auf der Welt, die wirklich krank sind. Du bist es nicht", sagte sie oft. Ohne ihre aufmunternden Worte und die Kraft, die mir meine Familie gab, hätte ich wohl länger benötigt, mein Anderssein zu akzeptieren.

Ich arbeitete daran, die Symptome in den Griff zu bekommen, versuchte, mich nicht so schnell reizen zu lassen. Das Testosteron hilft mir heute dabei, dass ich mich stundenlang auf das Schreiben konzentrieren kann, ohne nervös zu werden. Und ich reagiere sehr gelassen, wenn meine Freundin mich anruft, um zu sagen, dass sie zehn Minuten zu spät kommt.

Heute bin ich stolz darauf, anders zu sein. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, nervt mich meine Figur manchmal noch, aber ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, ob ich jetzt ein richtiger Mann bin oder nicht. Heute denke ich eher darüber nach, ob die Bezeichnung "männlich" im Geburtenregister überhaupt korrekt ist. Mittlerweile ist es ja möglich, das dritte Geschlecht darin eintragen zu lassen. Ich frage mich, ob ich intersexuell bin.

Es stört mich heute auch nicht mehr, dass ich niemals eigene Kinder haben werde. Als ich damals davon erfuhr, war ich sehr traurig. Ich wollte dieses Gefühl kompensieren und wurde Betreuer bei Ferienspielen. Die Kinder gaben mir viel zurück. Es machte mich glücklich, wenn ich sah, wie viel Freude sie hatten, wenn ich mit ihnen Fußball spielte. Sie bauten mich auf.

Es ist wieder an der Zeit

Februar 2018. Ich tippe in mein Handy eine Nachricht an meine Freundin: "Endlich bekomme ich die Spritze wieder, sie war längst überfällig." Wie ein Junkie fühle ich mich in solchen Momenten. Absetzen, clean werden: Das kommt für mich nicht infrage. Ich brauche die Spritze, das Testosteron, das Gefühl, wenn auf einmal alles normal wird.

Ich laufe leicht humpelnd aus der Praxis. Sofort nimmt die Nervosität ab, ich entspanne mich, will irgendetwas unternehmen. Es ist wie immer, ein Wechselbad der Gefühle. Alle zwölf Wochen, ein Leben lang.

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