Mein Vater, der Mörder
Illustration: Juta

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Crime

Mein Vater, der Mörder

Als ich 13 war, brachte mein Vater einen Mann um. Und mein Großvater half ihm dabei, die Leiche zu verstecken. Trotzdem liebe ich meinen Vater.
S
von Sara
Juta
illustriert von Juta

Als Kind hatte ich eine genaue Vorstellung von einem Mörder. Für mich war das ein Mensch, der oft gewalttätig wird, ausrastet und gemein zu anderen ist. So war mein Vater nicht. Er war ein angesehener Geschäftsmann und wurde nie laut. Wenn ich mir Fantasiewelten ausdachte, spielte er gern alle möglichen Rollen darin. Aber vor acht Jahren hat mein Vater jemanden getötet und mich gezwungen, das Wort "Mörder" neu zu definieren.

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Wenn ich an das Leben vor dem Mord zurückdenke, kommt es mir vor, als würde ich auf eine andere Welt blicken. Es gibt ein Davor und ein Danach. Davor, bevor meine Freunde und Verwandten mich ständig mit diesem mitleidigen Blick anschauten, weil mein Vater ein "Monster" ist. Davor, als ich eine glückliche Kindheit hatte. Meine Schwester und ich hatten die besten Spielsachen, Weihnachten wie im Film und Ferien an exotischen Orten. Wir dachten, wir hätten ein normales Leben: Wir kamen aus Schule nach Hause, das Haus roch nach Mamas Essen, Hausaufgaben, Freundinnen treffen, so was.

Als ich ins Teenageralter kam, änderte sich alles Stück für Stück. Mein Vater änderte sich. Häufig war er geistig abwesend. Er war immer witzig und schlagfertig gewesen, nun starrte er öfter vor sich hin und redete nicht mit uns. Einmal verspottete er mich, weil mich eine Fernsehnachricht über misshandelte Tiere zum Weinen gebracht hatte. Ich werde nie vergessen, wie wütend mich das machte.


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Später fand ich heraus, dass ein Geheimnis der Grund für seine Wandlung war: Er hatte Schulden angehäuft, um unserer Familie den Lebensstil zu bieten, den wir gewohnt waren. Ich denke, es war sein Stolz, der ihn an diesen Punkt gebracht hatte. Wer so eine Last mit sich herumschleppt, kann den Kontakt zum Rest der Welt verlieren. Jahre später erzählte er mir, er habe damals sogar einen Suizidversuch unternommen.

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Der Tag, der unser Leben für immer veränderte, war ein Montag. Ich schaute nach der Schule mit meinem Opa im Laden meines Vaters vorbei, wir wollten die Hausschlüssel abholen und auf dem Heimweg noch ein Eis essen. Ich sehe das Gesicht meines Vaters bis heute vor mir. Er stand im Laden und war knallrot angelaufen, seine Augen weit aufgerissen, der Gesichtsausdruck seltsam grausam. "Du hattest Recht!", schrie er meinem Opa entgegen. Ich schreckte zurück. Diesen Typen erkannte ich nicht wieder.

Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Nur eine Viertelstunde zuvor hatte er einen Mann ermordet. Später, als es Nacht war, half mein Großvater ihm, die Leiche zu verstecken. Unsere Familie wusste es nicht, aber das Opfer hatte schon lange eine Rolle in unserem Leben gespielt. Der Mann hatte meinem Vater viel Geld geliehen. An jenem Nachmittag hatte er gedroht, die ganze Familie umzubringen, wenn er sein Geld nicht bekäme.

Ich habe mich selbst davon überzeugt, dass mein Vater vorübergehend wahnsinnig gewesen sein muss. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, aber so habe ich es mir erklärt. Am Tag nach dem Mord verhafteten sie ihn. Das erfuhr ich allerdings erst, nachdem meine Eltern mich mehrere Tage lang mit unglaubwürdigen Ausreden abgespeist hatten. Irgendwann fiel ihnen nichts mehr ein, um seine Abwesenheit zu erklären.

Da ist einmal mein Vater, und dann ist da der Mann, der das Verbrechen begangen hat – ein Fremder. Ich kenne diesen Mann nicht und will es auch nicht.

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Die Presse berichtete über die blutigen Details, sodass alle in unserem Bekanntenkreis es mitbekamen. Meine Mutter musste uns eine neue Zukunft aufbauen. Sie beschloss, mit meiner Schwester und mir in eine andere Stadt zu ziehen. Wir waren auf der Flucht vor der Presse und vor Schaulustigen. Gleichzeitig mussten wir selbst versuchen, Antworten zu finden.

Inzwischen habe ich die ständige Wut und Trauer ein Stück weit besiegt. Ich bin gleichgültiger geworden. Man gewöhnt sich tatsächlich an alles, sogar an einen Mörder als Vater. Das ist sicherlich eine Bewältigungsstrategie, aber ich habe diesen Teil von ihm in meiner Vorstellung abgespalten. Da ist einmal mein Vater, und dann ist da der Mann, der das Verbrechen begangen hat – ein Fremder. Ich kenne diesen Mann nicht und will es auch nicht. Und damit die Leute mich nicht immer so mitleidig anschauen, erzähle ich davon ganz beiläufig, als ginge es ums Wetter.

Seit acht Jahren gehört der monatliche Gefängnisbesuch zu meinem Alltag. Ich zeige meinen Ausweis am Empfang, bekomme einen Schlüssel für das Schließfach, in das ich meine Sachen stecken muss. Dann werde ich durchsucht, umgeben von anderen Besuchern, die mit ihrer eigenen Tragödie zu kämpfen haben. Wir gehen als geschlossene Gruppe durch mehrere Sicherheitsschleusen. Niemand unterhält sich – wir sprechen immer nur mit unseren eigenen Verwandten. Eine ungeschriebene, aber feste Regel.

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Ich weiß oft nicht, was ich mit meinem Vater reden soll. Nicht, dass ich keinen Lebensinhalt hätte. Ich bin 20 Jahre alt, habe ein aktives Sozialleben und Ziele für meine Zukunft. Aber er lebt nicht in derselben Welt wie ich. Oft bestehen unsere Gespräche einfach nur aus langem Schweigen.

Ich liebe meinen Vater immer noch. Und ich schätze alles, was er für uns getan hat, als er noch bei uns war. Aber die Liebe ist anders als früher. Sie hat mehr etwas von einer Pflicht. Er kann nicht mehr für uns da sein, und es reicht auf Dauer nicht, ihn einfach nur für "früher" zu lieben.

Vor einem Monat hat ein neues Kapitel begonnen. Ich hatte ihn jahrelang nur eingeschlossen von vier kalten Wänden gesehen, umgeben von Fremden und ihrem Stimmengewirr. Inzwischen hat mein Vater die Erlaubnis zum eingeschränkten Freigang bekommen, sodass er ganze Tage mit uns unter freiem Himmel verbringen kann.

Mit dieser neuen "Freiheit" kommt auch eine neue Angst: Ich befürchte, dass ich ihn nie wieder in mein Leben integrieren kann, selbst wenn ich mir das wünsche. Über das Trauma hinwegzukommen, war hart, aber inzwischen habe ich ein neues Gleichgewicht gefunden – ohne ihn. Die Vorstellung, die Wunden erneut aufzureißen, um ihn wieder ganz in mein Leben zu lassen, ist erschreckend. Ich wünsche mir ein Vater-Tochter-Verhältnis, wie andere es haben. Ich will mit ihm etwas wieder aufbauen, was wir vor langer Zeit hatten.

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Wenn ich aus all dem etwas gelernt habe, dann ist das Wertschätzung für die Beziehungen zu den Menschen, die mir nahestehen. Egal, welche Schwächen sie haben. Außerdem habe ich gelernt, Probleme nicht für mich zu behalten. So gibst du dem Problem nur die Macht, dass es dir über den Kopf wachsen kann. Vor allem aber bin ich durch das Geschehene zu früh erwachsen geworden.

Heute versucht mein Vater, seine Tat wiedergutzumachen. Er bemüht sich, seine Mithäftlinge zu motivieren, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Er versucht ihnen zu zeigen, dass sie besser sein können als ihre schlimmste Tat. Außerdem hat er ein Buch über seine Zeit im Gefängnis geschrieben und den ersten Platz in einem Schreibwettbewerb belegt. Zweifellos wäre unser aller Leben besser gelaufen, wenn mein Vater für sein Ausdrucksvermögen bekannt geworden wäre und nicht für die Art, wie er mit Geldsorgen und einem Streit umgegangen ist.

Der Name der Autorin wurde geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.

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